Sherlock Holmes: Das Zeichen der Vier

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Sherlock Holmes: Das Zeichen der Vier
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ARTHUR CONAN DOYLE

Das Zeichen

der Vier

Aus dem Englischen neu übersetzt von Dr. Hannelore Eisenhofer

Mit Illustrationen von Richard Gutschmidt


Übersetzung nach der Ausgabe

»The Complete Sherlock Holmes Long Stories«,

erschienen in einem Band 1929

© 2014 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,

Hamburg

Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe

(einschließlich Fotokopie) oder der Speicherung auf

elektronischen Systemen, vorbehalten.

All rights reserved.

Titelabbildung: Anja Kaiser – Fotolia.com

Umschlag: Timon Schlichenmaier, Hamburg

E-Book Erstellung: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH

ISBN: 978-3-86820-959-4

www.nikol-verlag.de

KAPITEL I DIE WISSENSCHAFT DER DEDUKTION


Sherlock Holmes nahm sein Fläschchen von der Ecke des Kaminsimses und seine Injektionsspritze aus dem hübschen Saffianlederetui. Seine langen weißen nervösen Finger richteten die empfindliche Nadel gerade und er rollte seinen linken Hemdsärmel zurück. Einige Sekunden ruhte sein Blick nachdenklich auf seinem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk, die beide über und über mit zahlreichen Einstichen und Narben übersät waren. Schließlich stieß er die Nadelspitze hinein, drückte den winzigen Kolben und sank mit einem langen Seufzer der Zufriedenheit in seinen samtgepolsterten Lehnstuhl zurück.

Seit vielen Monaten hatte ich zwar drei Mal am Tag diesen Vorgang mit angesehen, aber daran gewöhnen konnte ich mich nicht. Im Gegenteil, von Tag zu Tag wurde ich bei dem Anblick immer gereizter, und des Nachts schlug mir bei dem Gedanken daran immer mehr das Gewissen, weil ich nicht den Mut aufgebracht hatte, dagegen zu protestieren. Immer wieder hatte ich mir geschworen mich diesem Thema zu widmen, aber durch die kühle, lässige Art meines Gefährten war er der letzte Mann, dem gegenüber man sich eine solche Freiheit herauszunehmen getraut hätte. Seine großartigen Fähigkeiten, seine meisterliche Art und die Erfahrung seiner vielen außergewöhnlichen Qualitäten erlegten mir Zurückhaltung auf und ließen mich davor zurückschrecken, ihm Vorhaltungen zu machen.

Doch diesen Nachmittag, sei es der Burgunder, den ich zum Mittagessen zu mir genommen hatte oder die zusätzliche Erbitterung, die durch die extreme Zurschaustellung seiner Handlung hervorgerufen wurde, fühlte ich plötzlich, dass ich mich nicht länger zurückhalten konnte.

„Was ist denn es diesmal?“ fragte ich, „Morphium oder Kokain?“

Er hob gelangweilt den Blick von dem alten Band mit Frakturschrift, den er gerade aufgeschlagen hatte. „Kokain“, sagte er, „eine siebenprozentige Lösung. Möchten Sie es probieren?“

„Nein danke“, antwortete ich schroff. „Meine Konstitution hat sich noch nicht von dem Afghanistanfeldzug erholt. Ich kann es mir nicht erlauben, mir zusätzliche Belastungen aufzubürden.“

Er lächelte über meine Heftigkeit. „Vielleich haben Sie Recht, Watson“, sagte er. „Ich nehme an, dass die Auswirkungen auf den Körper schlecht sind, ich finde jedoch, dass es metaphysisch stimulierend und befreiend für den Geist ist, so dass die sekundären Wirkungen nebensächlich sind.“

„Aber denken Sie doch einmal nach!“ sagte ich ernsthaft. „Bedenken Sie die Kosten! Ihr Gehirn mag, wie Sie sagen, dadurch wach und angeregt werden, aber es ist ein pathologischer und morbider Prozess, der eine Gewebeveränderung verursacht und am Schluss eine dauerhafte Schwäche. Sie wissen auch, welch dunkle Gegenwirkung dadurch über Sie kommt. Warum sollten Sie, nur für ein vorübergehendes Vergnügen, Ihre großartigen Fähigkeiten aufs Spiel setzen, mit denen Sie begnadet sind? Bedenken Sie, dass ich nicht nur als ein Freund zu Ihnen spreche, sondern als ein Mann der medizinischen Wissenschaft, der sich für Ihre Konstitution bis zu einem gewissen Grad verantwortlich fühlt.“

Er schien nicht gekränkt zu sein. Im Gegenteil, er legte die Fingerspitzen aneinander und die Ellbogen auf die Lehnen seines Stuhls, wie jemand, der sich an einer Unterhaltung erfreut.

„Mein Geist“, sagte er, „lehnt sich gegen Stagnation auf. Geben Sie mir Probleme, Arbeit, geben Sie mir das abstruseste Kryptogramm oder die intrikateste Analyse und ich werde in meinem Element sein. Ich kann dann auf diese künstlichen Stimulanzien verzichten. Aber ich verabscheue die stumpfsinnige Routine des Daseins. Ich sehne mich nach geistiger Erhebung. Deshalb habe ich auch diesen ganz speziellen Beruf gewählt, oder besser gesagt ihn erschaffen, denn ich bin der Einzige auf der Welt.“

„Der einzige inoffizielle Detektiv?“ sagte ich und zog die Brauen hoch.

„Der einzige inoffizielle beratende Detektiv“, antwortete er. „Ich bin die letzte und höchste Instanz der Aufdeckung. Wenn Gregson oder Lestrade oder Athelney Jones an ihre Grenzen gestoßen sind, was bei denen der Normalfall ist – dann wird mir die Angelegenheit vorgetragen. Ich prüfe die Daten als ein Experte und gebe die Ansicht eines Spezialisten wieder. Ich erwarte keine Lorbeeren. Mein Name erscheint in keiner Zeitung. Die Arbeit selbst, das Vergnügen ein Betätigungsfeld für meine besonderen Fähigkeiten zu finden, das ist meine höchste Belohnung. Sie haben doch selbst in dem Jefferson Hope Fall einige meiner Methoden kennengelernt.“

„Ja, wahrhaftig“, sagte ich aufrichtig. „Nichts in meinem Leben hat mich bisher so sehr beeindruckt. Ich habe diesen Fall sogar in einer kleinen Schrift mit dem etwas phantastischen Titel ‚Eine Studie in Scharlachrot‘ beschrieben.“

Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich habe einen Blick darauf geworfen“, sagte er. „Ehrlich gesagt, kann ich Sie dazu nicht beglückwünschen. Aufklärung ist, oder sollte eine exakte Wissenschaft sein, und sollte in der gleichen sachlichen und nüchternen Art behandelt werden. Sie haben versucht, dem Ganzen einen Hauch Romantik zu verleihen, was die gleiche Wirkung hat, wie eine Liebesgeschichte oder ein Ausreißen, um heimlich zu heiraten, in den fünften Lehrsatz von Euklid einzubauen.“

„Aber die Romanze war da“, protestierte ich. „Ich konnte die Fakten schließlich nicht verfälschen.“

„Einige Fakten sollten ausgelassen oder zumindest sollte bei ihrer Abhandlung ein gesundes Maß an Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. Der einzige Punkt in dem Fall, der Erwähnung verdient, war die ungewöhnliche analytische Schlussfolgerung, die von der Wirkung zur Ursache führte, wodurch ich den Fall aufklären konnte.“

Seine Kritik an meiner Arbeit, die ich vor allem ihm zu Ehren verfasst hatte, verdross mich. Ich gebe zu, dass mich auch die Selbstgefälligkeit, mit der er forderte, dass jede Zeile meines Pamphlets seinem speziellen Handeln zu widmen sei, verstimmte. Mehr als einmal hatte ich in den Jahren, in denen ich mit ihm in der Baker Street wohnte, bemerkt, dass der ruhigen und belehrenden Art meines Gefährten eine kleine Aufgeblasenheit zugrundelag. Ich erwiderte nichts, sondern setzte mich und pflegte mein verwundetes Bein. Ich war vor einiger Zeit von einer Kugel getroffen worden, und obwohl ich dadurch nicht beim Gehen behindert wurde, schmerzte das Bein fürchterlich bei jedem Wetterwechsel.

„Meine Verfahren haben sich kürzlich bis auf das Festland ausgeweitet“, sagte Holmes nach einer Weile und stopfte seine alte Pfeife aus Bruyère-Holz nach. „Letzte Woche konsultierte mich François Le Villard, der, wie Sie sicher wissen, erst vor kurzem in den französischen Kriminaldienst kam. Er besitzt die keltische Fähigkeit der schnellen Intuition, aber es fehlt ihm an der ganzen Bandbreite exakter Wissenschaft, die zur höheren Entwicklung dieser Kunst unabdingbar ist. Der Fall betraf ein Testament und wies einige interessante Züge auf. Ich konnte ihn auf zwei ähnliche Fälle verweisen, der eine von Riga aus dem Jahre 1857 und der andere von St. Louis von 1871, die ihn zu der richtigen Lösung des Falles führten. Hier ist der Brief, den ich heute Morgen als Zeichen seiner Anerkennung meiner Hilfe erhielt.“ Während er sprach, schob er mir ein zerknittertes Blatt ausländischen Briefpapiers zu. Ich überflog es, und stellte einen Überfluss an bewundernden Bemerkungen fest, wie „magnifique“, „coup-de-maître“ und „tours-de-force“, die alle die glühende Bewunderung des Franzosen bewiesen.

„Er spricht wie ein Schüler zu seinem Lehrer“, sagte ich.

„Oh, er bewertet meinen Beistand zu hoch“, sagte Sherlock Holmes leichthin. „Er verfügt selbst über ausgezeichnete Gaben. Er besitzt zwei der für einen idealen Detektiv erforderlichen drei Qualitäten. Er besitzt die Fähigkeit der Beobachtung und der Deduktion. Nur fehlt es ihm an Wissen; aber das wird mit der Zeit noch kommen. Er übersetzt gerade meine kleineren Arbeiten ins Französische.“

„Ihre Arbeiten?“

„Ach, das wussten Sie nicht?“ rief er lachend. „Ja, ich bin für mehrere Monographien verantwortlich. Sie handeln alle von technischen Themen. Hier zum Beispiel ist eine ‚Über die Unterscheidung zwischen der Asche verschiedener Tabaksorten‘. Darin zähle ich einhundertvierzig Arten von Zigarren-, Zigaretten- und Pfeifentabak auf, mit kolorierten Abbildungen der Unterschiede bei der Asche. Es ist ein Punkt, der ständig in Kriminalfällen auftaucht, mitunter von höchster Bedeutung als Anhaltspunkt. Wenn man beispielsweise definitiv sagen kann, dass ein Mord von einem Manne begangen wurde, der eine indische Lunkah-Zigarre rauchte, grenzt das den Suchbereich beträchtlich ein. Für das geschulte Auge besteht ein so großer Unterschied zwischen der schwarzen Asche einer Trichinopoly und den weißen Staubflocken einer Bird‘s Eye wie zwischen einem Kohlkopf und einer Kartoffel.“

 

„Sie haben ein außerordentliches Talent für Details“, bemerkte ich.

„Ich schätze deren Bedeutung. Hier ist meine Monographie über das Aufspüren von Fußabdrücken, mit einigen Bemerkungen zu der Verwendung von Gips zur Erhaltung der Abdrücke. Hier ist auch eine kleine kuriose Arbeit über den Einfluss eines Gewerbes auf Handformen, mit Lithographien der Hände von Dachdeckern, Seeleuten, Korkschnitzern, Buchdruckern, Webern und Diamantschleifern. Für einen wissenschaftlichen Detektiv ist das von großem praktischem Nutzen, vor allem in Fällen nicht identifizierter Leichen oder bei der Entdeckung der Vorfahren eines Verbrechers. Aber ich langweile Sie mit meinem Steckenpferd.“

„Nicht im geringsten“, antwortete ich ernsthaft. „Für mich ist das von größtem Interesse, insbesondere seit ich die Gelegenheit hatte Ihre praktische Anwendung zu beobachten. Sicherlich impliziert das eine bis zu einem gewissen Grad auch das andere.“

„Nun, kaum“, antwortete er und lehnte sich genüsslich in seinem Lehnstuhl zurück, wobei er dicke blaue Rauchschwaden aus seiner Pfeife aufsteigen ließ. „Meine Beobachtung zeigt mir beispielsweise, dass Sie heute Morgen zum Wigmore Street Postamt gingen, doch die Deduktion sagt mir, dass Sie dort ein Telegramm aufgaben.“

„Richtig!“ sagte ich. „Sie haben in beiden Punkten Recht! Aber ich gestehe, dass ich nicht weiß, wie Sie darauf gekommen sind. Es war eine plötzliche Eingebung meinerseits und ich hatte es niemandem gegenüber erwähnt.“

„Das ist ganz einfach“, bemerkte er und kicherte zu meiner Überraschung, „so lächerlich einfach, dass eine Erklärung überflüssig ist, aber dennoch die Grenzen zwischen Beobachtung und Deduktion aufzeigt. Die Beobachtung sagt mir, dass ein wenig rötlicher Lehm an Ihrem Rist haftet. Genau gegenüber dem Postamt in der Wigmore Street wurde das Pflaster entfernt und dabei etwas Erde angehäuft, die so gelegen ist, dass man kaum vermeiden kann, in sie hineinzutreten. Die Erde ist von besonderer rötlicher Tönung, die, soviel ich weiß, sonst nirgendwo in der Nähe zu finden ist. So viel zu meiner Beobachtung. Der Rest ist Deduktion.“

„Wie folgerten Sie daraus das Telegramm?“

„Nun, natürlich wusste ich, dass Sie keinen Brief geschrieben hatten, denn ich saß Ihnen den ganzen Morgen gegenüber. Ich sah außerdem in Ihrem offenen Schreibtisch, dass Sie einen Bogen Briefmarken und ein dickes Bündel Postkarten besitzen. Wieso sollten Sie zum Postamt gehen, wenn nicht wegen eines Telegramms? Schließt man alle anderen Faktoren aus, muss der übriggebliebene die Wahrheit sein.“

„In diesem Fall trifft das gewiss zu“, erwiderte ich nach kurzem Nachdenken. „Wie Sie schon sagten, ist der Fall sehr einfach. Würden Sie mich für unverschämt halten, wenn ich Ihre Theorien einem schwierigeren Test unterzöge?“

„Im Gegenteil“, antwortete er, „es würde mich davon abhalten eine zweite Dosis Kokain zu nehmen. Es wäre mir ein Vergnügen jedem Problem nachzugehen, das Sie mir bieten können.“

„Ich hatte Sie sagen hören, dass es für einen Mann schwierig sei einen Gegenstand täglich zu benutzen, ohne einen Abdruck seiner Persönlichkeit dergestalt darauf zu hinterlassen, dass ein geübter Betrachter ihn erkennen könne. Nun, hier habe ich eine Uhr, die vor kurzem in meinen Besitz kam. Hätten Sie die Güte mich Ihre Meinung hinsichtlich des Charakters oder der Gewohnheiten des vorherigen Besitzers wissen zu lassen?“


Ich übergab ihm die Uhr mit einem gewissen Gefühl der Belustigung, denn die Prüfung war, so dachte ich, unmöglich und ich beabsichtigte sie als eine Art Lehre gegen seinen etwas dogmatischen Ton, den er bisweilen annahm. Er wog die Uhr in seiner Hand, blickte scharf auf die Zeiger, öffnete die Rückseite und untersuchte, zuerst mit bloßem Auge, dann mit einer starken konvexen Linse, das Uhrwerk. Ich konnte kaum ein Lächeln bei seinem enttäuschten Gesicht unterdrücken, als er schließlich den Deckel zuschnappen ließ und sie mir zurückgab.

„Es gibt kaum irgendwelche Daten“, bemerkte er. „Die Uhr wurde vor kurzem gereinigt, was mich der meisten suggestiven Fakten beraubt.“

„Sie haben Recht“, antwortete ich. „Sie wurde gereinigt, bevor sie mir zugesandt wurde.“

Innerlich bezichtigte ich meinen Gefährten einer doch sehr lahmen und unfähigen Ausrede, die sein Versagen verschleiern sollte. Welche Daten könnte er aus einer ungereinigten Uhr ablesen?

„Wenngleich nicht zufriedenstellend, war meine Untersuchung doch nicht ganz fruchtlos“, bemerkte er, und starrte mit verträumten, glanzlosen Augen zur Decke. „Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber ich würde sagen, dass die Uhr Ihrem älteren Bruder gehörte, der sie von Ihrem Vater erbte.“

„Und das lesen Sie zweifellos von den Initialen H. W. auf der Rückseite ab?“

„Genau. Das W. deutet auf Ihren eigenen Namen hin. Das Datum auf der Uhr ist fast fünfzig Jahre her, und die Initialen sind genauso alt wie die Uhr: also wurde sie für vorherige Generation gemacht. Schmuck geht normalerweise auf den ältesten Sohn über, der meist den gleichen Namen wie der Vater trägt. Ihr Vater starb, wenn ich mich recht erinnere, vor vielen Jahren. Deshalb befand sich die Uhr in Händen Ihres ältesten Bruders.“

„Das stimmt soweit“, sagte ich. „Sonst noch etwas?“

„Er war ein Mann unordentlicher Gewohnheiten – sehr unordentlich und nachlässig. Er war mit guten Veranlagungen ausgestattet, aber er warf seine Chancen fort, lebte einige Zeit in Armut, unterbrochen von gelegentlichen kurzen Intervallen des Wohlstands, starb aber schließlich an Trunksucht. Das ist alles, was ich zusammentragen kann.“

Ich sprang von meinem Stuhl hoch und humpelte ungeduldig durch das Zimmer, erfüllt von beträchtlicher Verbitterung.

„Das ist Ihrer unwürdig, Holmes“, sagte ich. „Ich kann nicht glauben, dass Sie sich soweit herablassen. Sie haben Nachforschungen über das Leben meines unglücklichen Bruders angestellt und nun geben Sie vor, dieses Wissen auf eine abstruse Weise deduziert zu haben. Sie können von mir nicht erwarten, dass ich Ihnen glaube, Sie hätten das alles aus dieser alten Uhr abgelesen! Das ist unehrlich und, um offen zu sprechen, trägt es einen Hauch von Scharlatanerie.“

„Mein lieber Doktor“, sagte er freundlich, „ich bitte Sie meine Entschuldigung anzunehmen. Ich hatte die Sache als ein abstraktes Problem betrachtet, und dabei vergessen, wie persönlich und schmerzlich sie für Sie sein müsste. Ich versichere Ihnen jedoch, dass ich nie zuvor wusste, dass Sie einen Bruder haben, bis Sie mir die Uhr gaben.“

„Wie um alles in der Welt kamen Sie dann auf diese Gegebenheiten? Sie sind in jeder Hinsicht absolut richtig.“

„Ach, das war Glück. Ich würde sagen, es war der Abgleich der Wahrscheinlichkeit. Ich hatte nicht erwartet, so genau zu sein.“

„Aber war es nicht nur einfaches Raten?“

„Nein, nein, ich rate nie. Das ist eine entsetzliche Angewohnheit – destruktiv für die logische Denkfähigkeit. Was Ihnen seltsam erscheint, kommt daher, dass Sie meinem Gedankengang nicht folgen oder die kleinen Gegebenheiten nicht beachten, von denen große Rückschlüsse abhängen können. Beispielsweise begann meine Erklärung damit, dass Ihr Bruder nachlässig war. Wenn Sie den unteren Teil des Uhrgehäuses betrachten, werden Sie feststellen, dass sie nicht nur an ein zwei Stellen verbeult ist, sondern überall Kratzer und Schnitte aufweist, die nur von der Gewohnheit stammen können, dass sie zusammen mit anderen Gegenständen, wie Münzen oder Schlüsseln, in der gleichen Tasche getragen wurde. Es ist sicherlich keine große Kunst anzunehmen, dass ein Mann, der eine fünfzig Guineen Uhr so unbekümmert trägt, nachlässig ist. Noch ist es ein weither geholter Rückschluss, wenn ein Mann, der einen Gegenstand von solchem Wert erbt, auch in anderer Hinsicht betucht sein muss.“

Ich nickte, um zu zeigen, dass ich seinen Begründungen folgen konnte.

Bei Pfandleihern in England ist es sehr verbreitet, dass sie, wenn sie eine Uhr annehmen, die Nummer des Pfandscheins mit einer Nadel auf der Innenseite des Deckels einritzen. Das ist praktischer als ein Anhänger, weil es das Risiko nicht gibt, dass die Nummer verlorengeht oder verlegt wird. Es gibt nicht weniger als vier Nummern auf der Innenseite des Deckels, die ich unter der Lupe entdecken konnte. Schlussfolgerung daraus – Ihr Bruder war oft in Geldschwierigkeiten. Zweite Folgerung – er war zeitweilig zu Wohlstand gekommen, sonst hätte er die Uhr nicht auslösen können. Schließlich bat ich Sie sich den inneren Rand mit dem Schlüsselloch anzusehen. Um das Loch sind Dutzende Kratzer, Zeichen dafür, dass er beim Aufziehen abrutschte. Welcher nüchterne Mann würde mit seinem Schlüssel so viele Furchen verursachen? Aber Sie werden nie eine Uhr eines Trinkers ohne Furchen und Kratzer sehen. Er zieht sie in der Nacht auf und hinterlässt mit unsicherer Hand diese Spuren. Was also soll daran rätselhaft sein?“

„Es ist sonnenklar“, antwortete ich, „ich bedaure Ihnen gegenüber ungerecht gewesen zu sein. Ich sollte mehr Vertrauen in Ihre hervorragenden Fähigkeiten haben. Darf ich Sie fragen, ob Sie derzeit einer geschäftlichen Anfrage nachgehen?“

„Nein, deshalb das Kokain. Ich kann nicht ohne geistige Arbeit leben. Wofür sollte man sonst leben? Stellen Sie sich hier ans Fenster. Gab es jemals eine so eintönige, düstere und unrentable Welt? Sehen Sie doch nur, wie der gelbe Nebel die Straße hinunter wirbelt und um die graubraunen Häuser treibt. Was könnte noch hoffnungsloser prosaisch und dinglicher sein? Wozu sind diese Fähigkeiten nütze, Doktor, wenn es kein Betätigungsfeld für deren Verwendung gibt? Verbrechen ist alltäglich, das Dasein ist alltäglich, und Eigenschaften, außer solchen, die alltäglich sind, haben auf dieser Erde keine Aufgaben.“

Ich wollte gerade den Mund öffnen, um seiner Tirade entgegenzutreten, als unsere Vermieterin mit einem forschen Klopfen an die Tür eintrat, und uns eine Karte auf einem Messingtablett brachte.

„Eine junge Dame für Sie, Sir“, sagte sie, sich dabei an meinen Gefährten richtend.

„Miss Mary Morstan“, las er vor. „Hm! Ich kann mich nicht an den Namen erinnern. Bitten Sie doch die junge Dame herauf, Mrs. Hudson. Gehen Sie nicht, Doktor. Ich zöge es vor, wenn Sie blieben.“

KAPITEL II DIE SCHILDERUNG DES FALLS

Miss Morstan betrat den Raum mit festem Schritt und einer gefassten Haltung. Sie war eine blonde junge Dame, klein, elegant, mit vollendetem Geschmack behandschuht und gekleidet. Die Schlichtheit und Einfachheit ihrer Kleidung legte jedoch nahe, dass sie über begrenzte Mittel verfügte. Das Kleid war von dunklem gräulichem Beige, ohne Besatz und Bordüren, und sie trug einen kleinen Turban des gleichen dumpfen Farbtons, der nur durch den Hauch einer weißen Feder auf einer Seite aufgelockert wurde. Ihr Gesicht wies weder regelmäßige Züge noch eine Schönheit des Teints auf, doch war ihr Ausdruck freundlich und liebenswürdig und ihre großen blauen Augen waren außerordentlich vergeistigt und verständnisvoll. In meiner Erfahrung mit Frauen, die sich über mehrere Nationen und drei unterschiedliche Kontinente erstreckt, hatte ich noch nie ein Gesicht gesehen, das eine kultivierte und sensible Natur klarer verhieß als das Ihrige. Ich konnte nur feststellen, als sie auf dem von Sherlock Holmes dargebotenen Stuhl Platz nahm, wie ihre Lippen bebten, ihre Hände zitterten und sie alle Anzeichen heftiger innerer Erregung zeigte.

„Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr. Holmes“, sagte sie, „weil Sie es einst meiner Dienstherrin, Mrs. Cecil Forrester, ermöglichten, eine kleine häusliche Komplikation zu entwirren. Sie war von Ihrer Freundlichkeit und Ihrem Geschick sehr beeindruckt.“

„Mrs. Cecil Forrester“, wiederholte er nachdenklich. „Ich glaube, ich erwies Ihr einen kleinen Dienst. Der Fall war jedoch, wie ich mich erinnere, sehr einfach.“

„Sie war nicht dieser Ansicht. Aber zumindest können Sie das nicht von dem meinigen sagen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es irgendeine seltsamere, höchst unerklärliche Situation als die meine gibt.“

 

Holmes rieb sich die Hände und seine Augen funkelten. Er lehnte sich in seinem Stuhl mit einem Ausdruck höchster Konzentration auf seinem klar geschnittenen Gesicht mit den falkengleichen Zügen nach vorn. „Schildern Sie mir Ihren Fall“, sagte er in einem schroffen geschäftsmäßigen Ton.

Ich befand mich in einer unangenehmen Lage. „Sie werden mich sicher entschuldigen“, sagte ich und erhob mich von meinem Stuhl.

Doch zu meiner Überraschung hob die junge Dame ihre behandschuhte Hand, um mich davon abzuhalten.

„Wenn Ihr Freund“, sagte sie, „so freundlich sein würde hierzubleiben, wäre das von unschätzbarem Dienste für mich.“

Ich fiel auf meinen Stuhl zurück.


„Kurz gesagt“, fuhr sie fort, „sind die Gegebenheiten folgende. Mein Vater, Offizier in einem indischen Regiment, sandte mich nach Hause als ich noch fast ein Kind war. Meine Mutter war tot und ich hatte in England keine Verwandten. Ich wurde jedoch in einem komfortablen Pensionat in Edinburgh untergebracht, wo ich bis zum Alter von siebzehn Jahren blieb. Im Jahre 1878 erhielt mein Vater, der ranghöchster Kommandant seines Regiments war, zwölf Monate Heimaturlaub. Er telegraphierte mir von London aus, dass er sicher angekommen sei, und wies mich an, sofort zu ihm zu kommen, wobei er als Adresse das Langham Hotel angab. Seine Nachricht war, ich erinnere mich, voller Güte und Liebe. In London angekommen, fuhr ich zum Langham Hotel, wo man mir mitteilte, dass dort ein Captain Morstan abgestiegen, jedoch den Abend zuvor ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt sei. Ich wartete den ganzen Tag ohne eine Nachricht von ihm. Am Abend setzte ich mich auf Anraten des Hoteldirektors mit der Polizei in Verbindung und am nächsten Morgen inserierten wir in allen Zeitungen. Unsere Nachforschungen führten zu keinem Ergebnis. Und von jenem Tage an habe ich nie wieder etwas von meinem Vater gehört. Er kam in die Heimat voller Hoffnung, hier Frieden zu finden, Annehmlichkeiten, doch stattdessen…“ Sie hielt sich die Hand an die Kehle und ein erstickender Schluchzer brach den Satz ab.

„Das Datum?“ fragte Holmes und öffnete sein Notizbuch.

„Er verschwand am 3. Dezember 1878, vor fast zehn Jahren.“

„Sein Gepäck?“

„Blieb im Hotel. Darin fand sich nicht der geringste Hinweis – nur Kleidung, ein paar Bücher und eine beträchtliche Anzahl an Kuriositäten von den Andamanen. Er war einer der Offiziere, die für die Bewachung der Strafgefangenen dort verantwortlich waren.“

„Hatte er in der Stadt Freunde?“

„Wir wissen nur von einem – Major Sholto aus seinem eigenen Regiment, der 34. Bombay Infanterie. Der Major hatte sich bereits einige Zeit vorher aus dem Dienst verabschiedet und lebte in Upper Norwood. Wir traten mit ihm natürlich in Verbindung, doch er wusste nicht einmal, dass sein Offizierskollege in England war.“

„Ein bemerkenswerter Fall“, bemerkte Holmes.

„Ich habe Ihnen noch nicht den bemerkenswertesten Teil erzählt. Vor etwa sechs Jahren, um genau zu sein am 4.Mai 1882, erschien in der Times ein Inserat, in dem nach der Adresse von Miss Mary Morstan gefragt und angegeben wurde, dass es für sie von Vorteil sei, wenn sie sich melde. Es war weder ein Name noch eine Adresse beigefügt. Zu der Zeit war ich gerade in den Dienst der Familie von Mrs. Cecil Forrester in der Eigenschaft als Gouvernante getreten. Am gleichen Tag kam mit der Post eine kleine, an mich adressierte Schachtel, in der ich eine sehr große schimmernde Perle vorfand. Nicht ein Wort war ihr beigelegt. Seitdem erhalte ich am gleichen Datum eines jeden Jahres eine ähnliche Schachtel, die eine ähnliche Perle enthält, ohne Hinweis auf den Absender. Die Perlen wurden von einem Fachmann als eine seltene Art und von beträchtlichem Wert geschätzt. Sie können sich selbst davon überzeugen, dass sie sehr schön sind.“ Sie öffnete eine flache Schachtel, während sie sprach, und zeigte mir sechs der feinsten Perlen, die ich je gesehen hatte.

„Ihre Ausführungen sind sehr interessant“, sagte Sherlock Holmes. „Ist Ihnen noch etwas widerfahren?“

„Ja, und zwar heute. Deshalb kam ich zu Ihnen. Heute Morgen erhielt ich diesen Brief, den Sie vielleicht selbst zu lesen wünschen.“

„Danke“, sagte Holmes. „Den Umschlag bitte auch. Poststempel London, S.W. Datum 7. Juli. Hm! Daumenabruck eines Mannes in der Ecke, wahrscheinlich vom Briefträger. Bestes Papier. Umschlag zu Sixpence das Päckchen. Ist sehr wählerisch, was das Briefpapier betrifft. ‚Seien Sie an der dritten Säule auf der linken Seite des Lyceum Theaters heute Abend um sieben Uhr. Wenn Sie misstrauisch sind, bringen Sie zwei Freunde mit. Sie sind eine Frau, der Unrecht angetan wurde und es soll Ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Bringen Sie keine Polizei mit. Sollten Sie es dennoch tun, war alles umsonst. Ihr unbekannter Freund.‘ Nun, das ist wirklich ein nettes kleines Rätsel. Was gedenken Sie zu tun, Miss Morstan?“

„Genau das wollte ich Sie fragen.“

„Dann sollten wir auf jeden Fall hingehen. Sie und ich und ja, Dr. Watson ist genau der richtige Mann. Ihr Briefeschreiber sagte zwei Freunde. Er und ich haben schon zuvor zusammengearbeitet.“

„Aber würde er mitkommen?“ fragte sie mit einem flehenden Ton in der Stimme und im Ausdruck.

„Ich würde mich stolz und glücklich schätzen“, sagte ich leidenschaftlich, „wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise zu Diensten sein könnte.“

„Sie sind beide sehr freundlich“, antwortete sie. „Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt, und hatte keine Freunde, an die ich mich wenden könnte. Wenn ich mich hier um sechs Uhr einfände, würde das rechtzeitig genug sein, oder?“

„Auf keinen Fall später“, sagte Holmes. „Noch ein weiterer Punkt, jedoch. Ist diese Handschrift die gleiche wie auf den Adressen der Perlenschachteln?“

„Ich habe sie hier“, antwortete sie, und zog ein halbes Dutzend Papiere hervor.

„Sie sind gewiss ein vorbildlicher Klient. Sie besitzen die richtige Eingabe. Lassen Sie uns sie jetzt ansehen.“ Er breitete die Papiere auf dem Tisch aus und wir warfen der Reihe nach einen Blick darauf. „Sie sind in verstellter Handschrift verfasst, mit Ausnahme des Briefes“, sagte er sogleich, „aber es steht außer Frage, dass es sich um den gleichen Verfasser handelt. Sehen Sie, wie der nicht unterdrückte Buchstabe e ausbrechen will, und sehen Sie sich den Schwung beim finalen s an. Sie wurden unzweifelhaft von der gleichen Person geschrieben. Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken, Miss Morstan, aber gibt es eine Ähnlichkeit zwischen dieser und der Handschrift Ihres Vaters?“

„Sie könnten nicht unterschiedlicher sein.“

„Ich erhoffte, dass Sie das sagen. Wir erwarten Sie dann um sechs Uhr. Gestatten Sie mir die Papiere zu behalten. Ich möchte mir die Sache vorher noch einmal ansehen. Es ist erst halb vier Uhr. Au revoir.“

„Au revoir“, sagte unsere Besucherin, und mit einem strahlenden hellen Blick sah sie von einem zum anderen von uns, steckte dann das Perlenkästchen wieder in ihren Busen und eilte davon. Ich stand am Fenster und beobachtete, wie sie forsch die Straße hinunterging, bis der graue Turban und die weiße Feder nur noch ein Fleck in der dunklen Menschenmasse waren.

„Was für eine attraktive Frau!“ rief ich aus, und wandte mich meinem Gefährten zu.

Er hatte seine Pfeife wieder angezündet und lehnte sich mit hängenden Lidern zurück.

„Ach ja?“ sagte er gelangweilt. „Das ist mir nicht aufgefallen.“

„Sie sind wirklich ein Automat, eine Kalkulationsmaschine!“ rief ich. „Mitunter haben Sie etwas wirklich Unmenschliches an sich.“

Er lächelte sanft. „Es ist von höchster Wichtigkeit“, sagte er, „nicht zuzulassen, dass ein Urteil durch persönliche Ansichten beeinflusst wird. Ein Klient ist für mich eine reine Größe, ein Faktor in einem Problem. Die emotionalen Aspekte sind antagonistisch zu klarem Denken. Ich versichere Ihnen, dass die hinreißendste Frau, die ich je kennengelernt habe, gehängt wurde, weil sie drei kleine Kinder wegen des Versicherungsgeldes vergiftet hatte, und der abstoßendste Mann, den ich kenne, ist ein Philanthrop, der fast eine Viertel Million für die Armen Londons gespendet hat.“

„In diesem Fall jedoch…“