Sherlock Holmes: Eine Studie in Scharlachrot

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Sherlock Holmes: Eine Studie in Scharlachrot
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ARTHUR CONAN DOYLE

Eine Studie

in Scharlachrot

Aus dem Englischen neu übersetzt von Dr. Hannelore Eisenhofer

Mit Illustrationen von Richard Gutschmidt


Übersetzung nach der Ausgabe

»The Complete Sherlock Holmes Long Stories«,

erschienen in einem Band 1929

© 2013 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,

Hamburg

Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe

(einschließlich Fotokopie) oder der Speicherung auf

elektronischen Systemen, vorbehalten.

All rights reserved.

Titelabbildung: Anja Kaiser – Fotolia.com

Umschlag: Timon Schlichenmaier, Hamburg

E-Book Erstellung: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH

ISBN: 978-3-86820-961-7

www.nikol-verlag.de

TEIL I
Nachdruck der Erinnerungen von
DR. JOHN H. WATSON,
ehemaliger Angehöriger
des Medizinischen Dienstes
der Armee
1. Mr. Sherlock Holmes

Im Jahre 1878 erwarb ich meinen Doktor der Medizin an der Universität von London und begab mich danach nach Netley, um einen Lehrgang zu absolvieren, der für Wundärzte beim Militär vorgeschrieben war. Nachdem ich dort meine Studien zum Abschluss gebracht hatte, wurde ich den Füsilieren des 5. Regiments von Northumberland als Assistenzarzt zugeteilt. Das Regiment war zu jener Zeit in Indien stationiert, und bevor ich mich ihm anschließen konnte, war der zweite Afghanistankrieg ausgebrochen. Als ich in Bombay landete, erfuhr ich, dass mein Korps die Pässe überschritten und tief in das Land des Feindes eingedrungen war. Ich folgte ihm jedoch, zusammen mit vielen anderen Offizieren, die sich in der gleichen Lage wie ich befanden, und es gelang mir Kandahar sicher zu erreichen, wo ich mein Regiment vorfand und sogleich meine neuen Aufgaben antreten konnte.


Der Feldzug brachte vielen Ehre und Beförderungen ein, doch für mich nichts als Unglück und Unheil. Ich wurde von meiner Brigade zu den Berkshires versetzt, mit denen ich an der todbringenden Schlacht von Maiwand teilnahm. Dort wurde ich an der Schulter von einer Jezzail-Kugel getroffen, die den Knochen zerschmetterte und die Schlüsselbeinarterie streifte. Ich wäre unweigerlich den blutrünstigen Ghazis in die Hände gefallen, wäre da nicht Murray, meine Ordonnanz, gewesen, der Hingabe und Mut bewies, mich auf ein Packpferd warf und dem es gelang, mich heil zu den britischen Stellungen zurückzubringen.

Von Schmerzen gepeinigt und geschwächt durch die anhaltenden Entbehrungen, die hinter mir lagen, wurde ich zusammen mit einem großen Zug Leidensgenossen in das Basishospital von Peshawar gebracht. Hier genas ich und mein Zustand hatte sich soweit gebessert, dass ich bereits in der Lage war durch die Krankensäle des Hospitals zu schlendern, und mich ein wenig auf der Veranda zu wärmen, als mich der Typhus niederstreckte, der Fluch unserer indischen Besitzungen. Monatelang rang ich mit dem Tod und als ich schließlich wieder zu mir kam und genas, war ich so geschwächt und ausgezehrt, dass die Sanitätskommission entschied, mich ohne einen weiteren Tag zu verlieren nach England zu schicken. Ich wurde demzufolge auf den Truppentransporter Orontes gebracht und erreichte einen Monat später die Pier von Portsmouth mit einer zwar unwiederbringlich ruinierten Gesundheit, doch der Erlaubnis einer väterlich fürsorglichen Regierung die nächsten neun Monate mit dem Versuch zu verbringen, diese wiederherzustellen.

Ich hatte weder Kind noch Kegel in England und war deshalb frei wie ein Vogel – oder so frei, wie ein Einkommen von elfeinhalb Schilling pro Tag es einem Manne gestattet. Unter diesen Umständen zog es mich selbstverständlich nach London, die große Senkgrube, in der sich unweigerlich alle Faulenzer und Tagediebe des gesamten Empires einfinden. Dort blieb ich einige Zeit in einer Pension in The Strand, wo ich ein trostloses, bedeutungsloses Dasein führte, und mein Geld freizügiger ausgab, als ich es beabsichtigt hatte. Der Stand meiner Geldmittel wurde derart besorgniserregend, dass ich entweder die Metropole verlassen und aufs Land ziehen sollte, was mir alsbald klar wurde, oder meinen Lebensstil vollkommen ändern musste. Ich wählte letzteres, weshalb ich beschloss die Pension zu verlassen und mein Quartier in einem weniger prätentiösen und kostspieligen Domizil aufzuschlagen.

An jenem Tag, an dem ich meinen Entschluss gefasst hatte, stand ich an der Bar des Criterion, als mir jemand auf die Schulter klopfte, den ich, als ich mich umwandte, als den jungen Stamford erkannte, der im Barts unter mir als Assistenzarzt gearbeitet hatte. Der Anblick eines vertrauten Gesichts in der großen Wildnis Londons ist für einen einsamen Mann wahrhaftig eine erfreuliche Begebenheit. In alten Zeiten war Stamford nie einer meiner speziellen Freunde, doch jetzt begrüßte ich ihn mit Begeisterung, und er wiederum schien erfreut mich zu sehen. Im Überschwang meiner Freude bat ich ihn mit mir zusammen im Holborn zu speisen und so fuhren wir zusammen in einem Hansom, einer zweirädrigen Droschke, davon.

»Was ist nur aus Ihnen geworden, Watson?« fragte er unverhohlen, als wir durch die belebten Straßen Londons rumpelten.

»Sie sind spindeldürr und braun wie eine Haselnuss.«

Ich umriss in kurzen Zügen meine Abenteuer und hatte kaum geendet, als wir unser Ziel schon erreicht hatten.

»Sie armer Teufel!« sagte er bedauernd, nachdem er sich meine Missgeschicke angehört hatte. »Was haben Sie jetzt vor?«

»Ich suche nach einer Bleibe«, antwortete ich. »Ich versuche die Frage zu lösen, ob es möglich ist komfortable Räume zu einem vernünftigen Preis zu finden.«

»Das ist seltsam«, bemerkte mein Begleiter; »Sie sind heute schon der zweite, den ich das sagen höre.«

»Und wer war der erste?«

»Ein Bursche, der im Chemielaboratorium des Hospitals arbeitet. Er beklagte sich heute Morgen, dass er niemand finde, der sich mit ihm ein paar hübsche Zimmer teilen würde, die er aufgetan hat, die aber zu viel für seinen Geldbeutel sind.

»Beim Jupiter!« rief ich, »wenn er wirklich jemanden will, der sich mit ihm die Räume und die Kosten teilt, dann bin ich genau der richtige Mann für ihn. Ich würde lieber teilen, als allein zu sein.«

Der junge Stamford sah mich über sein Weinglas hinweg mit einem merkwürdigen Blick an. »Sie kennen Sherlock Holmes noch nicht«, sagte er; »möglicherweise legen Sie keinen besonderen Wert auf dessen ständige Gesellschaft.

»Warum, was spricht gegen ihn?«

»Oh, ich habe nicht gesagt, dass etwas gegen ihn spricht. Er hat nur etwas absonderliche Einfälle – ein Schwärmer, in einigen Zweigen der Wissenschaft. Aber soweit ich weiß, ist er ein anständiger Kerl.«

»Ein Student der Medizin, nehme ich an?« sagte ich.

»Nein – ich habe keine Ahnung, was er anzustreben gedenkt. Ich glaube, er ist ganz gut in Anatomie, und er ist ein erstklassiger Chemiker; aber soweit ich weiß, hat er nie irgendwelche medizinischen Kurse systematisch belegt. Seine Studien sind sehr planlos und exzentrisch, aber er hat eine große Menge ungewöhnlicher Kenntnisse angehäuft, die seine Professoren in Staunen versetzen würden.«

»Haben Sie ihn nie gefragt, was er anstrebt?« fragte ich.

»Nein; er ist nicht besonders gesprächig, aber er kann durchaus mitteilsam sein, wenn ihn die Laune dazu gepackt hat.«

»Ich sollte ihn treffen«, sagte ich. »Falls ich mit jemandem zusammen wohnen sollte, dann bevorzuge ich einen fleißigen Mann mit ruhigen Gewohnheiten. Ich bin noch nicht wieder genug bei Kräften, um viel Lärm oder Aufregung ertragen zu können. Von beidem hatte ich in Afghanistan genug für den Rest meines Lebens. Wie kann ich Ihren Freund kennenlernen?«

»Er ist sicherlich im Laboratorium«, erwiderte mein Gefährte. »Er meidet diesen Ort entweder wochenlang oder er arbeitet dort von morgens bis in die Nacht. Wenn es Ihnen recht ist, sollten wir nach dem Essen dorthin fahren.«

»Gewiss«, antwortete ich, und die Konversation wandte sich anderen Themen zu.

Als wir uns auf den Weg zum Hospital begaben, nachdem wir das Holborn verlassen hatten, lieferte mir Stamford ein paar Einzelheiten zu dem Herrn, den ich als einen Mitbewohner vorgeschlagen hatte.

»Sie müssen mir nicht die Schuld geben, sollten Sie nicht mit ihm auskommen«, sagte er; »ich weiß nicht viel mehr über ihn, als das, was ich bei gelegentlichem Zusammentreffen im Laboratorium erfahren habe. Sie haben diese Vereinbarung vorgeschlagen, also dürfen Sie nicht mich dafür verantwortlich machen.«

»Wenn wir nicht miteinander auskommen, können wir uns ja leicht trennen«, antwortete ich. »Mir scheint, Stamford«, fügte ich hinzu, und sah meinen Begleiter streng an, »es gäbe einige Gründe dafür, dass Sie Ihre Hände in Unschuld waschen wollen. Ist der Charakter dieses Burschen denn so schrecklich oder was hat es mit ihm auf sich? Nun seien Sie nicht so zurückhaltend.«

»Es ist nicht einfach das Unaussprechliche auszusprechen«, antwortete er mit einem Lachen. »Holmes ist für meinen Geschmack ein wenig zu wissenschaftlich – fast schon kaltblütig. Ich könnte mir vorstellen, dass er einem Freund eine Prise des neuesten pflanzlichen Alkaloids verabreichen würde, nicht aus Böswilligkeit, verstehen Sie, sondern nur aus Forscherdrang, um sich ein genaues Bild von den Wirkungen machen zu können. Um ihm gerecht zu werden, denke ich, dass er es mit der gleichen Bereitschaft selbst einnehmen würde. Er scheint eine Leidenschaft für konkretes und exaktes Wissen zu haben.«

 

»Was doch durchaus gut ist.«

»Ja, aber nicht, wenn man es übertreibt. Wenn es so weit geht, die Leichen in den Sezierräumen mit einem Stock zu schlagen, dann nimmt das gewiss bizarre Formen an.«

»Die Leichen schlagen!«

»Ja, um festzustellen, wie weit Blutergüsse nach dem Tod auftreten können. Ich sah ihn dabei mit eigenen Augen.«

»Und dennoch sagten Sie, er sei kein Medizinstudent?«

»Nein. Der Himmel weiß, was das Ziel seiner Studien ist. Aber hier sind wir und Sie sollten sich Ihre eigene Meinung von ihm bilden.« Während er sprach, waren wir in eine enge Gasse eingebogen und traten durch einen schmalen Nebeneingang ein, der zu einem Flügel des großen Hospitals führte. Das war für mich gewohntes Terrain und ich benötigte keine Führung, als wir die trostlosen Steinstufen hinaufstiegen und den langen Korridor mit seinem Ausblick auf weißgetünchte Wände und graubraune Türen entlanggingen. Am anderen Ende bog ein niedriger gewölbter Durchgang ab und führte zum chemischen Laboratorium.

Es war ein hoher Raum, gesäumt und übersät mit zahlreichen Flaschen. Überall standen breite niedrige Tische, die vor Retorten, Reagenzgläsern und kleinen Bunsenbrennern strotzten, deren blaue Flammen flackerten. In diesem Raum befand sich nur ein Student, der sich über einen der weiter hinten befindlichen Tische in seine Arbeit vertieft gebeugt hatte. Als er unsere Schritte vernahm, sah er sich um und sprang mit einem Freudenschrei auf. »Ich hab’s gefunden! Ich hab’s gefunden«, schrie er meinem Begleiter zu und rannte mit einem Reagenzglas in der Hand auf uns zu. »Ich habe ein Reagens gefunden, das nur durch Hämoglobin und sonst nichts anderes ausgefällt wird.«

Hätte er eine Goldgrube entdeckt, wäre sein Gesichtsausdruck kaum strahlender vor Freude gewesen.

»Dr. Watson, Mr. Sherlock Holmes«, sagte Stamford als er uns einander vorstellte.

»Sehr erfreut«, sagte er herzlich und nahm meine Hand mit einer Kraft, die ich kaum von ihm erwartet hätte. »Wie ich sehe, waren Sie in Afghanistan.«

»Wie in aller Welt wissen Sie das?« fragte ich erstaunt.

»Unwichtig«, sagte er und lachte in sich hinein. »Wichtig ist jetzt Hämoglobin. Zweifellos sehen Sie die Bedeutung meiner Entdeckung?«

»Sicher interessant, aus chemischer Sicht«, antwortete ich, »aber praktisch…«

»Guter Mann, das ist die praktischste gerichtsmedizinische Entdeckung seit Jahren. Begreifen Sie denn nicht, dass sie uns eine unfehlbare Untersuchungsmethode für Blutflecke liefert? Kommen Sie jetzt hierher!« Er packte mich in seinem Eifer beim Mantelärmel und zerrte mich zu dem Tisch, an dem er gearbeitet hatte. »Wir brauchen frisches Blut«, sagte er, stieß eine lange Nadel in einen seiner Finger und nahm die hervortretenden Blutstropfen mit einer Pipette auf. »Jetzt gebe ich diese kleine Menge Blut in einen Liter Wasser. Sie sehen, dass die daraus entstandene Mixtur dem Anschein nach reines Wasser ist. Der Anteil des Blutes kann nicht mehr als eins zu einer Million sein. Ich zweifle jedoch nicht, dass wir eine charakteristische Reaktion erhalten werden.« Während er sprach, warf er ein paar weiße Kristalle in das Gefäß und fügte dann einige Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit hinzu. Im Handumdrehen nahm der Inhalt eine trübe braunrote Färbung an und ein bräunlicher Niederschlag bildete sich auf dem Boden des Glasbehälters.

»Ha! Ha!« rief er, klatschte in die Hände und strahlte wie ein kleines Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat. »Was halten Sie davon?«

»Das scheint eine sehr empfindliche Untersuchung zu sein«, bemerkte ich.

»Wunderbar, hervorragend! Der alte Guajak[1]-Test war sehr umständlich und unsicher. Genauso wie mikroskopische Untersuchung auf Blutkörperchen. Letztere ist wertlos, wenn die Flecken ein paar Stunden alt sind. Nun, das hier scheint sowohl bei altem als auch neuem Blut zu funktionieren. Wäre man schon früher auf eine solche Untersuchungsmethode verfallen, würden hunderte Menschen, die immer noch auf Erden wandeln, schon längst für ihre Verbrechen gebüßt haben.

»Tatsächlich!« murmelte ich.

»Kriminalfälle hängen häufig von diesem einen Punkt ab. Ein Mann wird eines Verbrechens verdächtigt, vielleicht Monate, nachdem es begangen wurde. Seine Wäsche oder Kleidung wird untersucht, und man entdeckt darauf bräunliche Flecken. Sind das Blutflecken, ist es Schmutz, Rost, sind es Obstflecken oder was sonst? Das ist eine Frage, die viele Fachleute verwirrt hat und warum? Weil es keinen zuverlässigen Test gab. Nun haben wir den Sherlock Holmes Test und es wird keine Schwierigkeiten mehr geben.«

Seine Augen strahlten, als er sprach und er legte seine Hand über sein Herz und verbeugte sich wie vor einer applaudierenden Menge, die seine Einbildungskraft heraufbeschworen hatte.

»Sie sind zu beglückwünschen«, bemerkte ich, ein wenig überrascht ob seiner Begeisterung.

»Da gab es den Fall Von Bischoff, letztes Jahr in Frankfurt. Man hätte ihn sicherlich gehängt, wenn es diesen Test schon gegeben hätte. Dann Mason von Bradford, und der honorige Muller, und Lefevre aus Montpellier oder Samson aus New Orleans. Ich könnte eine ganze Liste an Fällen aufzählen, in denen ein solcher Test entscheidend gewesen wäre.«

»Sie scheinen ein wandelndes Verbrechensverzeichnis zu sein«, sagte Stamford mit einem Lachen. »Sie sollten das zu Papier bringen. Nennen wir es ›Polizeinachrichten der Vergangenheit‹.«

»Das könnte eine interessante Lektüre sein«, bemerkte Sherlock Holmes und klebte sich ein kleines Pflaster auf den Einstich an seinem Finger. »Ich muss vorsichtig sein«, fuhr er fort, und wandte sich mit einem Lächeln mir zu, »denn ich hantiere mit allerlei Giften.« Als er das sagte, streckte er seine Hand aus, und ich bemerkte, dass sie über und über mit ähnlichen Pflastern gesprenkelt und durch starke Säuren verfärbt war.

»Wir sind hier wegen eines Anliegens«, sagte Stamford und setzte sich auf einen hohen dreibeinigen Hocker, während er einen anderen mit dem Fuß in meine Richtung schob. »Mein Freund hier möchte sich ein Quartier nehmen und da Sie sich beklagt hatten, dass niemand mit Ihnen eine Wohnung teilen möchte, dachte ich, es wäre am besten Sie beide zusammenzubringen.«

Sherlock Holmes schien erfreut über die Vorstellung sich mit mir eine Wohnung zu teilen. »Ich habe ein Auge auf ein paar Zimmer in der Baker Street geworfen«, sagte er, »was genau das Richtige für uns wäre. Ich hoffe der Geruch starken Tabaks stört Sie nicht.«

»Ich selbst rauche immer »Ship’s« Zigaretten«, antwortete ich.

»Sehr gut. Normalerweise habe ich Chemikalien bei mir und führe gelegentlich Experimente durch. Würde Sie das stören?«

»Keineswegs.«

»Lassen Sie mich überlegen, welche Schwächen ich sonst noch habe. Mitunter lasse ich mich gehen und bringe tagelang den Mund nicht auf. Sie sollten mich dann nicht für übellaunig halten. Lassen Sie mich einfach in Ruhe und ich komme wieder in Ordnung. Und was haben Sie jetzt zu beichten? Ich finde, bevor man beginnt zusammenzuleben sollte man die schlimmsten Schwächen voneinander wissen.«


Ich lachte bei diesem Kreuzverhör. »Ich halte mir eine junge Bulldogge«, sagte ich, »und habe etwas gegen Krach, weil meine Nerven zerrüttet sind, ich stehe zu unchristlichen Zeiten auf und bin äußerst faul. Ich habe noch eine ganze Reihe anderer Laster, wenn es mir gut geht, aber das sind im Augenblick die wichtigsten.«

»Fällt Geigenspiel in die Kategorie Lärm?« fragte er besorgt.

»Das hängt vom Spieler ab«, antwortete ich. »Ein gutes Geigenspiel ist ein Geschenk an die Götter – aber ein schlechtes …«

»Oh, dann ist alles in Ordnung«, rief er mit einem fröhlichen Lachen. »Ich denke, wir können die Angelegenheit als abgeschlossen betrachten – das heißt, sofern Ihnen die Räume zusagen.«

»Wann können wir sie sehen?«

»Kommen Sie morgen Mittag hierher und wir werden zusammen dorthin gehen und alles regeln«, antwortete er.

»Also gut – Punkt Mittag«, sagte ich und schüttelte ihm die Hand.

Wir überließen ihn wieder seinen Chemikalien und spazierten zusammen zu meiner Pension.

»Ach übrigens, wie zum Teufel kam er darauf, dass ich aus Afghanistan gekommen bin?« fragte ich plötzlich, blieb stehen und sah Stamford an.

Mein Begleiter setzte ein rätselhaftes Lächeln auf. »Das ist seine Besonderheit«, sagte er. »Viele Leute wollten schon wissen, wie er Dinge herausfindet.«

»Ach! Das ist ein Geheimnis?« rief ich und rieb mir die Hände. »Das ist sehr pikant. Da bin ich Ihnen sehr verbunden, dass Sie uns zusammengebracht haben, denn ›Der wahre Forschungsgegenstand der Menschheit ist der Mensch‹, wie Sie wissen.«

»Dann müssen Sie ihn erforschen«, sagte Stamford, als er sich von mir verabschiedete. »Doch Sie werden feststellen, dass er eine verzwickte Aufgabe ist. Ich wette, er wird mehr über Sie erfahren, als Sie über ihn. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen«, antwortete ich und schlenderte weiter zu meiner Pension. Ich war von meiner neuen Bekanntschaft deutlich angetan.

2. Die Wissenschaft der Deduktion

Wir trafen uns, wie er es ausgemacht hatte, am nächsten Tag und besichtigten die Räume auf Nr. 221B in der Baker Street, von denen er während unserer Begegnung gesprochen hatte. Sie bestanden aus zwei komfortablen Schlafzimmern und einem großen luftigen Wohnzimmer, das gemütlich eingerichtet war und von zwei großen Fenstern erhellt wurde. Die Räumlichkeiten waren in jeder Hinsicht erstrebenswert und die Bedingungen erschienen uns so moderat, wenn man die Kosten zwischen uns aufteilte, dass wir auf der Stelle das Angebot annahmen und die Räume für uns beanspruchten. Noch am selben Abend brachte ich meine Habseligkeiten aus der Pension dorthin und am nächsten Morgen folgte Sherlock Holmes mit mehreren Kisten und Handkoffern. Ein oder zwei Tage waren wir damit beschäftigt unser Hab und Gut auszupacken und bestmöglich unterzubringen. Als wir damit fertig waren, begannen wir uns einzuleben und es uns in unserer neuen Umgebung bequem zu machen.

Es war gewiss nicht schwierig mit Holmes auszukommen. Er war auf seine Weise ruhig und hatte geregelte Gepflogenheiten. Ich fand ihn selten nach zehn Uhr noch auf den Beinen vor und er hatte jeden Morgen bereits gefrühstückt und das Haus verlassen, bevor ich aufstand. Bisweilen verbrachte er den Tag im Chemielaboratorium, in den Sezierräumen oder gelegentlich mit langen Spaziergängen, die ihn in die niedersten Teile der Stadt zu führen schienen. Seine Energie schien unübertrefflich, wenn ihn die Arbeitswut gepackt hatte; aber hin und wieder überfielen ihn Stimmungen, in denen er tagelang auf dem Sofa im Wohnzimmer lag, kaum ein Wort hervorbrachte oder auch nur einen Muskel von morgens bis abends bewegte. Bei solchen Gelegenheiten nahm ich bei ihm einen verträumten, leeren Blick wahr, was zu der Vermutung hätte führen können, er sei irgendwelchen Betäubungsmitteln verfallen, hätte nicht die Mäßigkeit und Reinlichkeit seines ganzen Lebenswandels gegen einen solchen Gedanken gesprochen.

Die Wochen verstrichen und meine Anteilnahme an ihm sowie meine Neugier hinsichtlich seiner Lebensziele vertieften und verstärkten sich allmählich. Seine Persönlichkeit und Erscheinung erregten selbst die Aufmerksamkeit des beiläufigsten Beobachters. Er maß etwas über einen Meter achtzig, war überaus schlank und erschien dadurch noch größer. Seine Augen waren scharf und durchdringend, außer in Zeiten der Trägheit, auf die ich schon angespielt hatte; und seine schmale Hakennase verlieh seinem Gesicht insgesamt den Ausdruck der Wachsamkeit und Entschiedenheit. Auch sein Kinn, eckig und hervorspringend, kennzeichnete ihn als einen Mann von Entschlusskraft. Seine Hände waren ständig mit Tinte beschmiert und von Chemikalien befleckt, und doch besaß er ein außergewöhnliches Fingerspitzengefühl, was ich bei vielen Gelegenheiten beobachten konnte, wenn ich ihn mit seinen zerbrechlichen wissenschaftlichen Instrumenten hantieren sah.

 

Der Leser mag mich als einen hoffnungslosen Wichtigtuer abstempeln, wenn ich gestehe, wie sehr dieser Mann meine Neugier weckte und wie oft ich mich nach Kräften bemühte seine Zurückhaltung, die er bei allem an den Tag legte, was ihn betraf, zu durchbrechen. Es sei jedoch, bevor ein Urteil über mich gefällt wird, daran erinnert, wie ziellos mein Leben war, und wie wenig es gab, das meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Meine Gesundheit verbot mir Unternehmungen im Freien, außer das Wetter war ungewöhnlich mild. Ich hatte keine Freunde, die mir einen Besuch abstatten und die Eintönigkeit meines täglichen Daseins unterbrechen würden. Unter diesen Umständen begrüßte ich eifrig das kleine Geheimnis, das meinen Mitbewohner umgab und verbrachte einen Großteil meiner Zeit damit, mich zu bemühen dieses zu lüften.

Er studierte nicht Medizin. Er hatte, als Antwort auf eine Frage, Stamfords Ansicht in dieser Hinsicht bestätigt. Er schien auch keine Vorlesungen belegt zu haben, die ihn befähigt hätten einen wissenschaftlichen Grad oder einen ähnlich anerkannten Zutritt in die Welt der Gelehrtenschaft zu erlangen. Dennoch war sein Eifer, den er bei bestimmten Studien an den Tag legte, so bemerkenswert, und sein Wissen auf exzentrischen Bereichen so ungewöhnlich umfassend und genau, dass seine Betrachtungen mich durchaus erstaunten. Gewiss würde niemand so hart arbeiten oder sich derart exakte Kenntnisse aneignen, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Oberflächliche Leser sind selten für die Genauigkeit ihres Wissens erwähnenswert. Niemand belastet seinen Geist mit Kleinigkeiten, außer er hat sehr gute Gründe dafür.

Seine Unwissenheit war so bemerkenswert wie sein Wissen. Er schien nahezu nichts über zeitgenössische Literatur, Philosophie und Politik zu wissen. Als ich Thomas Carlyle zitierte, fragte er höchst naiv nach, wer das denn sei und was er geleistet hätte. Meine Überraschung erreichte jedoch einen Höhepunkt, als ich zufällig herausfand, dass ihm die Theorie von Kopernikus und der Aufbau des Sonnensystems unbekannt waren. Dass ein gebildeter Mensch des neunzehnten Jahrhunderts nicht wissen könnte, dass die Erde um die Sonne kreist, erschien mir als eine so ungewöhnliche Tatsache, dass ich es kaum begreifen konnte.

»Sie scheinen erstaunt zu sein«, sagte er und lächelte über meine Verwunderung. »Nun, da ich es weiß, werde ich es schnellstens wieder vergessen.«

»Vergessen!«

»Sehen Sie«, erklärte er mir, »ich betrachte das menschliche Gehirn als einen kleinen Dachboden, den man mit den Möbeln ausstattet, die einem genehm sind. Ein Dummkopf stopft ihn mit allem möglichen Gerümpel voll, über das er stolpert, so dass das Wissen, das für ihn nützlich sein könnte, verdrängt oder von einer Menge anderer Dinge verstellt wird, und er Schwierigkeiten hat es wiederzufinden. Der geschickte Arbeiter ist dagegen sehr vorsichtig, was er in seinem Gehirnstübchen unterbringen will. Er wird nichts außer den Werkzeugen aufnehmen, die ihm dabei helfen können seine Arbeit zu verrichten, aber er besitzt davon eine große Auswahl und alle sind in bestem Zustand. Es ist ein Fehler anzunehmen, dass dieser kleine Raum elastische Wände hätte und sich beliebig dehnen ließe. Verlassen Sie sich darauf, dass eine Zeit kommt, in der Sie für jedes zusätzliche Wissen etwas vergessen, das Sie zuvor gewusst haben. Es ist deshalb von höchster Wichtigkeit keine nutzlosen Fakten zu haben, die nützliche verdrängen.«

»Aber das Sonnensystem!« protestierte ich.

»Was zum Teufel soll ich damit?« unterbrach er mich ungeduldig; »Sie sagen, wir kreisen um die Sonne. Wenn wir um den Mond kreisten, würde das nicht den geringsten Unterschied für mich oder meine Arbeit ausmachen.«

Ich war kurz davor ihn zu fragen, welche Arbeit es sein könnte, aber etwas in seiner Haltung deutete an, dass die Frage nicht willkommen war. Ich sann über unsere kurze Konversation nach und bemühte mich, meine Schlüsse daraus zu ziehen. Er sagte, er würde sich kein Wissen aneignen, das nichts mit seinem Ziel zu tun habe. Deshalb war alles Wissen, das er besaß so beschaffen, das es ihm nützte. Ich zählte im Geiste die verschiedenen Punkte auf, bei denen er gezeigt hatte, dass er überaus gut unterrichtet war. Ich nahm einen Stift und notierte sie mir. Ich konnte nicht umhin zu lächeln, als ich das Dokument fertig gestellt hatte. Es sah folgendermaßen aus:

SHERLOCK HOLMES – seine Grenzen

1. Kenntnisse in Literatur. – Null.

2. in Philosophie. – Null.

3. in Astronomie. – Null.

4. in Politik. – Schwach.

5. in Botanik. – Unterschiedlich. Bewandert bei Belladonna, Opium und Giften im Allgemeinen. Er weiß nichts über praktische Gärtnerei.

6. in Geologie. – Brauchbar, aber begrenzt. Kann auf einen Blick die verschiedenen Böden unterscheiden. Nach Spaziergängen hatte er mir die Spritzer auf seiner Hose gezeigt und mir nach deren Farbe und Zusammensetzung erklärt, aus welchem Teil Londons sie stammen.

7. in Chemie. – Profund.

8. in Anatomie. – Genau, aber unsystematisch.

9. in Sensationsliteratur. – Immens. Er scheint alle Details jeder Schreckenstat zu wissen, die in diesem Jahrhundert verübte wurde.

10. Spielt gut Geige.

11. Beherrscht ausgezeichnet Stock- und Schwertkampf, guter Boxer.

12. Gute Kenntnis des britischen Gesetzes.

Nachdem ich bis zu diesem Punkt auf meiner Liste gelangt war, warf ich sie voll Verzweiflung ins Feuer. »Wenn ich nur herausfinden könnte, worauf der Bursche abzielt, indem ich alle Fertigkeiten unter einen Hut bringe und einen Beruf entdecke, für den sie samt und sonders erforderlich sind«, sagte ich zu mir, »sonst kann ich den Versuch gleich aufgeben.«


Ich stelle fest, dass ich oben auf seine Geigenkünste angespielt habe. Diese waren wirklich bemerkenswert, aber genauso exzentrisch wie alle anderen Fertigkeiten. Dass er Stücke spielen konnte, schwierige Stücke, wusste ich nur zu gut, weil er auf meine Bitte hin ein paar Lieder von Mendelssohn und andere meiner Lieblingsstücke gespielt hatte. War er sich jedoch selbst überlassen, machte er kaum Musik oder den Versuch, etwas, das man als Musik bezeichnen könnte, zu erzeugen. An solchen Abenden pflegte er sich in seinen Lehnstuhl zu setzen, die Augen zu schließen und achtlos auf seiner Geige herumzukratzen, die auf seinen Knien lag. Manche Töne waren klangvoll und melancholisch. Gelegentlich waren sie phantastisch und fröhlich. Sie verdeutlichten die Gedanken, die ihn beschäftigten, doch ich konnte nicht ausmachen, ob die Musik ihm beim Nachdenken behilflich war oder ob sein Spiel einfach nur das Ergebnis einer Laune oder Phantasie war. Ich hätte mich gegen diese mich zur Verzweiflung bringenden Soli auflehnen können, würde er sie nicht für gewöhnlich durch eine rasche Abfolge meiner Lieblingsstücke beenden, was als eine kleine Entschädigung für die Strapazen meiner Nerven angesehen werden konnte.

Während der ersten Wochen hatten wir keine Besucher und ich begann davon auszugehen, dass mein Gefährte genauso ohne Freunde dastand wie ich selbst. In Kürze fand ich jedoch heraus, dass er viele Bekanntschaften hatte und zwar in den unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft. Es gab den kleinen, farblosen, rattengesichtigen Kerl mit dunklen Augen, der mir als Mr. Lestrade vorgestellt wurde, und der in einer einzigen Woche drei oder vier Mal kam. Eines Morgens stattete ihm eine junge, nach der neuesten Mode gekleidete Frau einen Besuch ab und blieb eine halbe Stunde oder länger. Der Nachmittag des gleichen Tages bescherte uns einen grauhaarigen schäbigen Besucher, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und auf mich einen höchst aufgeregten Eindruck machte, und auf den kurz danach eine schlampige ältere Frau folgte. Bei einer anderen Gelegenheit hatte ein weißhaariger Gentleman eine Unterredung mit meinem Mitbewohner; und bei einer anderen war es ein Gepäckträger in samtener Uniform. Wann immer diese schwer einzuschätzenden Individuen auftauchten, pflegte Sherlock Holmes darum zu bitten das Wohnzimmer benutzen zu dürfen, und ich zog mich in mein Schlafzimmer zurück. Er entschuldigte sich dafür mir diese Unannehmlichkeit zuzumuten. »Ich muss diesen Raum für meine Geschäfte benutzen«, sagte er, »und diese Leute sind meine Klienten.« Wieder bot sich mir eine Gelegenheit ihm eine direkte Frage zu stellen und wiederum hielt mich mein Taktgefühl davor zurück, einen anderen Menschen zu zwingen sich mir anzuvertrauen. Zu der Zeit dachte ich, dass er sicher gute Gründe hätte, nichts verlauten zu lassen, doch diese Ansicht zerstreute er alsbald, als er aus eigenem Antrieb auf das Thema zu sprechen kam.