Der Clan der McNarn

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Der Clan der McNarn
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

1
1822

„Gott sei Dank ruhige See!“

Lord Hinchley goß sich ein Glas Kognak ein und leerte es mit einem Zug.

„Dabei sind Sie noch glimpflich weggekommen“, entgegnete sein Begleiter. „Ich habe schon viel schlimmeren Seegang erlebt als auf dieser Reise.“

„Ein Grund mehr, nicht ein zweites Mal in diese abgelegene Gegend zu kommen. Ich bin auf alles gefaßt: Hier ist der Teufel zu Hause, und die Menschen sind Barbaren.“

„Das denkt zwar ganz England über Schottland, aber diese Auffassung ist falsch.“

Der Ton des Herzogs von Strathnarn war zynisch.

Zum ersten Mal seit sieben Tagen konnte man wieder in dem eleganten Salon sitzen, ohne mit dem Sessel von Wand zu Wand zu rutschen.

„Wenn Sie mich fragen“, fuhr Lord Hinchley fort, „so haben Sie nichts Besseres tun können, als diesem Schottland den Rücken zu kehren und nach Süden zu kommen. Daß Sie jetzt zurückkehren, ist ein Fehler, Taran.“

Die Miene des Herzogs wurde finster. Er sah aus dem Bullauge. Draußen zog langsam das bewaldete Ufer der Tay-Mündung vorbei.

Alles in ihm sträubte sich bei dem Gedanken, in ein Land zurückzukehren, das er vor zwölf Jahren voll Zorn verlassen hatte, aber nicht einmal einem seiner besten Freunde wollte er das eingestehen.

Er war damals erst sechzehn gewesen und hatte sich geschworen, nie wieder mit Schottland und seinen Bewohnern in Kontakt zu treten. Die Grausamkeit seines Vaters war der Anlaß dazu gewesen.

Auf das nächstbeste Schiff hatte er sich geschleppt und war heilfroh gewesen, daß er in der billigsten Klasse unter Deck noch einen Platz bekommen hatte.

Die Reise war eine einzige Qual gewesen, aber die Verwandten seiner verstorbenen Mutter hatten ihn in London mit offenen Armen empfangen.

Sie hatten ihn auf ein erstklassiges Internat geschickt und anschließend zum Studium auf die Universität von Oxford. Sein Großvater, ein guter Freund des Prinzregenten, hatte ihn als Marquis von Narn in die Londoner Gesellschaft eingeführt, und er hatte das Leben in vollen Zügen genossen.

Er hatte schon fast vergessen gehabt, daß es überhaupt ein Schottland gab.

Nach dem Tode seines Großvaters hatte er dessen Landsitz und ein stattliches Vermögen geerbt. Der Prinzregent, inzwischen König George IV., hielt große Stücke auf ihn, und London lag ihm zu Füßen.

Die Nachricht vom Tode seines Vaters hatte vor drei Monaten wie eine Bombe eingeschlagen. Von einem Tag zum anderen war er nicht nur Erbe des Titels, sondern auch noch Oberhaupt des Clans der McNarn geworden.

Wenn er an seinen Vater gedacht hatte, was selten genug vorgekommen war, hatte er ihn als angsteinflößenden, alterslosen Mann gesehen, der an die Riesen der klassischen Sagen des Altertums erinnerte.

Lord Hinchley goß sich noch ein Glas Kognak ein.

„Sie machen einen deprimierten Eindruck, Taran“, sagte er. „Wenn Sie mit einem solchen Gesicht ankommen, kriegen es Ihre Clanleute mit der Angst zu tun.“

„Das schadet gar nichts“, entgegnete der Herzog. „Dann gehorchen sie wenigstens.“

Doch er wußte, daß die Mitglieder eines Clans dem jeweiligen Oberhaupt blind gehorchten. Das war ungeschriebenes Gesetz. Widerstand gab es nicht.„Das Oberhaupt eines Clans“, hatte sein Vater einmal gesagt, „steht zwischen seinen Leuten und Gott.“

Die Zeiten halten sich allerdings geändert. Totale Unterwürfigkeit +- für den Herzog etwas Abscheuliches - gab es nicht mehr. Das Oberhaupt eines Clans konnte nicht mehr über Leben und Tod seiner Leute bestimmen.

„Ich weiß auf alle Fälle jetzt schon“, sagte Lord Hinchley und nippte an seinem Kognak, „daß ich mich in meiner Kabine vollaufen lasse, wenn ich mit Seiner Majestät auf der ,Royal George zurückfahren muß.“

„Bei Ihrer Rückreise wird das Meer ruhig sein“, entgegnete der Herzog. „Der König ist sehr seetüchtig und wird von Ihnen erwarten, daß auch Sie es sind. Außerdem wird er erwarten, daß Sie ihm Gesellschaft leisten und ihm immer wieder sagen, wie sehr sich die Schotten über seinen Besuch gefreut haben.“

„Es fragt sich bloß, ob das der Wahrheit entsprechen wird“, entgegnete Lord Hinchley. „Dieser Walter Scott ist daran schuld, daß der Monarch plötzlich nicht mehr von diesem Besuch in Edinburg abzuhalten war. Wenn die Schotten noch einen Rest Mumm in den Knochen haben, dann gehen sie auf ihn los.“

Der Herzog äußerte sich nicht dazu.

„Mein Großvater“, fuhr Lord Hinchley fort, „hat im Cumberland-Regiment gedient, und dieses Regiment war an der Schlacht von Culloden beteiligt. Er hat oft erzählt, wie brutal die Schotten niedergemetzelt worden sind und wie man die Überlebenden gefoltert hat. Ich finde, jeder Engländer sollte zweimal überlegen, ehe er die Rache herausfordert, die noch in diesen Menschen leben muß.“

„Das ist lange her“, entgegnete der Herzog.

„Aber nicht vergessen - da gehe ich jede Wette ein“, antwortete der Lord.

„Da haben Sie wahrscheinlich recht.“

„Natürlich habe ich recht“, sagte Lord Hinchley. „Alle primitiven Völker sind gleich. Fehden, Vendetten, Racheschwüre - davon leben sie.“

„Sie scheinen gut Bescheid zu wissend bemerkte der Herzog.

„Tue ich auch“, entgegnete Lord Hinchley. „Als ich von Seiner Majestät erfuhr, daß ausgerechnet ich als Vorreiter fungieren und dafür sorgen muß, daß der König gebührend empfangen wird, habe ich mir die Mühe gemacht, mich über Schottland und seine Bewohner zu informieren.“

„Daß sich die Engländer dem besiegten Volk gegenüber miserabel verhalten haben“, fuhr er fort, „ist eine Tatsache, Taran. Und gesiegt haben sie lediglich deshalb, weil sie besser organisiert und ausgerüstet waren.“

Wieder äußerte sich der Herzog nicht dazu.

„Als ich noch ein Bub war“, berichtete Lord Hinchley weiter, „hat mir mein Großvater oft erzählt, wie die Clans bei Culloden ausgerottet worden sind. Von ihren Oberhäuptern angeführt, sind sie nach einer Nacht im Freien direkt in den Feuerregen hinein marschiert.“

Der Herzog stand auf.

„William“, sagte er in verärgertem Ton, „können Sie nicht endlich aufhören, mir von Schlachten zu erzählen, die ausgefochten wurden, als wir noch längst nicht auf der Welt waren. Wir sind beide zu dieser verfluchten Reise gezwungen worden, und je eher wir unsere Pflichten erledigen und zurückkehren, desto besser.“

Lord Hinchley sah den Freund erstaunt an.

„Ich hatte schon manchmal den Verdacht“, sagte er schließlich nachdenklich, „daß Schottland Ihre Heimat ist.“

Er sah, wie der Herzog die Hände zu Fäusten ballte. Sollte er mit seiner Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen haben?

„Trinken Sie doch noch einen Schluck, Taran“, bat er schnell. „Es geht nichts über französischen Kognak, wenn einem alles etwas rosiger erscheinen soll.“Der Herzog goß sich noch ein Glas ein, doch der Alkohol verfehlte seine Wirkung. Statt ihn zu beruhigen, machte er ihn noch nervöser und aufgebrachter.

Nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters war er nach Schottland zurückgekehrt. Als er damals mit blutigem, zerschundenem Rücken von zu Hause weggelaufen war, hatte er mit den McNarn gebrochen.

Ihn für einen Abtrünnigen zu halten, stand ihnen frei. Mochten sie denken, was sie wollten. Für ihn galt nur seine eigene Meinung.

Nachdem er sein Studium an der Universität beendet hatte, hatte ihn erst einmal nur das eigene Vergnügen interessiert. Da er fabelhaft aussah, umschwärmten ihn die Frauen wie die Motten das Licht, und Geld war nie ein Problem gewesen.

Der Prinzregent hatte sich damals gern mit jungen Männern umgeben, die ebenso lebenslustig waren wie er und die sich genauso extravagant kleideten, wie er es zu tun pflegte.

Und nun wollte der König auch noch in der Tracht der Hochländer in Schottland erscheinen.

Diejenigen, die in Edinburg zu seinem Gefolge gehören sollten, hatten den Befehl bekommen, in Kilt und Plaid zu erscheinen. Zu der Parade, die am 23. August, das war ein Freitag, auf den Portobello Sands stattfinden sollte, mußten sie ihre Clans anführen.

Der Herzog hatte nicht einen Moment damit gerechnet, daß man mit seiner Anwesenheit rechnete, aber der König hatte ihm unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß er da zu sein habe, und eine plausible Entschuldigung war dem Herzog nicht eingefallen.

Der Befehl Seiner Majestät - und es war ein Befehl - hatte ihn allerdings erreicht, als er bereits erwog, ob er der dringenden Bitte seines Verwalters, eines gewissen Robert Dunblame, nachkommen und nach Schottland fahren sollte.

Robert Dunblame war schon zu seines Vaters Zeiten Verwalter gewesen, und der Herzog erinnerte sich, daß er der einzige Mensch gewesen war, mit dem er sich als Kind hatte unterhalten können, ohne Angst haben zu müssen.

Dunblame war es auch gewesen, der ihn vom Tod seines Vaters informiert und der Hoffnung Ausdruck gegeben hatte, der Herzog möge so bald wie möglich nach Schottland kommen.

Der Herzog hatte den Brief gelesen und in den Papierkorb geworfen.

Seinetwegen konnten sein Clan, das Schloß und die Ländereien, die er nun besaß, verkommen.

Den Titel, den er geerbt hatte, war er bereit zu benutzen, aber sonst konnte ihm der Norden gestohlen bleiben.

Schon nach ein paar Tagen war der Brief des Verwalters vergessen gewesen.

Der zweite Brief war anders. Während er ihn las, wurde die Miene des Herzogs immer finsterer.

„Dieser Narr!“ fluchte er. „Dieser verdammte junge Narr! Wie kann man bloß so idiotisch sein?“

Seinen Neffen Torquil McNarn kannte er bloß als schreiendes Baby. Torquil war 1808 zur Welt gekommen, also zwei Jahre, ehe er Schottland verlassen hatte. An seine Schwester Janet, Torquils Mutter, erinnerte er sich allerdings voller Liebe und Zuneigung.

 

Sie war viel älter gewesen als er und hatte die Stelle seiner Mutter eingenommen, die sehr früh aus dem Leben gegangen war.

Janet hatte einen Cousin geheiratet, einen McNarn, und von dem Tag an, an dem sie das Schloß verlassen hatte, war er der gnadenlosen Tyrannei seines Vaters ausgesetzt gewesen.

Die einzigen glücklichen Erinnerungen an Schottland hatte der Herzog in Verbindung mit seiner Schwester. Und als auch diese vor sechs Jahren gestorben war, war seine einzige Bindung an eine Familie, die er haßte, verloren gewesen Robert Dunblames Brief hatte an seine Verantwortung appelliert.) Der Verwalter hatte sich klar und deutlich ausgedrückt.

Torquil McNarn ist nicht nur der Neffe Ihrer Gnaden, hatte er geschrieben, sondern auch der Erbe des Titels und Ihres Amtes als Oberhaupt des Clans.

Er hatte überlegt, wie Janets Sohn wohl sein mochte und ob er nicht ein besseres Oberhaupt wäre als er selbst.

„Was geschieht, wenn wir da sind?“ fragte Lord Hinchley jetzt in Tarans Gedanken hinein.

„Keine Ahnung“, entgegnete der Herzog. „Ich habe meinem Verwalter geschrieben und unsere Ankunft angekündigt, ich nehme doch an, daß er uns abholen läßt. Wenn nicht, müssen wir eben zu Fuß gehen.“

Lord Hinchley sah den Herzog entsetzt an. „Zu Fuß?“ wiederholte er.

„Jawohl - zu Fuß. Es sind gute zwanzig Meilen bis zum Schloß. Und das Gelände ist rauh und reichlich hügelig.“

„Sie machen sich über mich lustig, Taran“, sagte Lord Hinchley. „Aber in diesem rückständigen Land muß man auf alles gefaßt sein.“

Als das Schiff angelegt hatte, kam zur großen Freude des Herzogs der Verwalter an Bord.

Der große, gutaussehende Mann - er mochte knapp fünfzig sein - sah in seinem Kilt und dem Plaid beeindruckend aus.

Der Herzog streckte ihm die Hand entgegen.

„Sie haben sich überhaupt nicht verändert, Dunblame!“ rief er.

„Was ich von Euer Gnaden leider nicht behaupten kann“, entgegnete der Verwalter lachend.

Man sah ihm an, wie sehr er sich freute, den Herzog nach so vielen Jahren wiederzusehen.

Von dem hageren Jungen mit den gehetzten, trotzigen Augen, der immer versucht hatte, die Tränen zurückzuhalten, war nichts mehr zu erkennen. Vor Robert Dunblame stand ein großer, blendend aussehender Mann von Welt. Robert Dunblame stellte auch sofort fest, daß der Herzog die typischen Merkmale der McNarn besaß: die gerade, aristokratische Nase und den entschlossenen, autoritären Zug um den Mund, den viele fürchteten.

„Ich nehme an“, sagte der Herzog, nachdem die ersten höflichen Worte ausgetauscht waren, „daß Sie für unseren Transport zum Schloß gesorgt haben.“

„Aber selbstverständlich, Euer Gnaden“, erwiderte er. „Sie können zwischen einer Kutsche und Pferden wählen. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr daran, aber zu dieser Jahreszeit sind die Straßen sehr staubig. Querfeldein über das Moor geht es viel schneller.“ „Dann werden wir reiten“, sagte der Herzog. „Das heißt, wenn Sie damit einverstanden sind, William.“ „Natürlich bin ich das“, entgegnete Lord Hinchley. „Alles ist mir recht, Hauptsache, ich komme von diesem Schiff herunter.“

„War die See denn stürmisch, Mylord?“ fragte Robert Dunblame.

„Das ist überhaupt kein Ausdruck!“ entgegnete Lord Hinchley. „Wenn ich meinen Kummer nicht hätte auf die übliche Weise ertränken können, wäre ich in einem überaus feuchten Grab elendiglich umgekommen.“

Der Herzog lachte.

„Seine Lordschaft übertreibt“, sagte er. „Zugegeben, zeitweilig war es recht ungemütlich, aber wir hatten zum Glück Rückenwind. Es hätte schlimmer sein können.“

„Unmöglich!“ rief Lord Hinchley.

Sie stiegen auf die Pferde, die Mr. Dunblame mitgebracht hatte, und ritten los.

Nachdem Perth hinter ihnen lag, wandten sie sich Richtung Norden. Als sie am königlichen Palast von Scone vorbeikamen, fragte sich der Herzog, ob sein Freund Hinchley wohl an der Geschichte Schottlands interessiert sei Im Grunde wahrscheinlich nicht, dachte er. Die Engländer waren letztlich immer nur daran interessiert, alles zu zertrampeln, was zum Prestige oder der Bedeutsamkeit eines Landes diente, das sie für eine besiegte Kolonie hielten.

Und dann stellte er plötzlich erstaunt fest, daß er sich für einen Schotten hielt und zum ersten Mal seit Jahren Anstoß daran nahm, daß die Engländer auf die Schotten herabzusehen pflegten und sie wie Primitivlinge behandelten.

Er war überzeugt davon, daß ein Großteil ihrer Feindseligkeit, Gleichgültigkeit und auch Brutalität aus der Angst geboren war.

Nicht ohne Grund hatten Soldaten vor erst dreißig Jahren im Register House in Edinburg die „Verdammung des Königs“ gefordert.

Der Herzog erinnerte sich auch daran, daß die Schotten Tannenbäume als Symbol der Freiheit gepflanzt hatten, als die Nachrichten von den Siegen der Franzosen unter Napoleons Führung zu ihnen gedrungen waren.

Aber das war jetzt alles vorbei. König George IV. kam nach Schottland, man sprach von einem Freundschaftsbesuch.

„Ich weiß nicht, ob Seine Gnaden es Ihnen gesagt haben“, wandte sich Lord Hinchley unterwegs an Robert Dunblame, „aber ich muß morgen, spätestens übermorgen schon wieder aufbrechen, um den Besuch Seiner Majestät in Edinburg vorzubereiten.“

„Ich nehme an, Sie ziehen den Landweg vor, Mylord“, entgegnete der Verwalter.

„Allerdings!“ rief Lord Hinchley. „Ich werde lange kein Wasser mehr sehen können, ohne daß sich mir gleich der Magen hebt.“

„Ich kann nur hoffen, Mylord, daß sich eine von den Kutschen Seiner Gnaden als bequemer erweisen wird“, sagte Mr. Dunblame höflich.

Wobei ich reiten würde, dachte der Herzog Er empfand es als äußerst angenehm, nach der Schiffsreise endlich wieder ein Pferd zwischen den Schenkeln zu haben.

Das Moor war ein einziger violetter Teppich von Heidekraut. Am Horizont erhoben sich die Berge des Grampian-Gebirges. Ihre Gipfel waren noch mit Schnee bedeckt.

Ein Schwarm Sumpfhühner stieg auf und rettete sich schnatternd in die Sicherheit des Tals.

Das Gelände stieg stetig an. Schließlich, am Rande eines Plateaus angekommen, hielt Mr. Dunblame das Pferd an, um dem Herzog und seinem Gast die Möglichkeit zu geben, die Landschaft in Ruhe zu betrachten.

Die Flußmündung glitzerte tiefblau im Sonnenschein. Die Dächer und Türme von Perth wirkten wie rote Flecken zu beiden Seiten der Ufer, die Wildnis der weitgedehnten Heide schien unendliche Freiheit zu vermitteln.

Der Herzog hatte plötzlich das Gefühl, aus der Enge eines Gefängnisses entflohen zu sein. Ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte.

Er mußte an die Gesichter der Bediensteten denken, die am Ende der Gangway auf sie gewartet hatten.

Mr. Dunblame hatte ihm den Mann vorgestellt, der ihnen Vorstand: ein großer, rauher Schotte, der den Herzog mit Augen angesehen hatte, die voll Ergebenheit waren.

Sollte ich nach all den Jahren den Menschen, die denselben Namen tragen wie ich, noch etwas bedeuten? hatte er sich gefragt.

Er hätte gerne Mr. Dunblame gebeten, ihm dieses Phänomen zu erklären, aber er wollte den Verwalter nicht in Verlegenheit bringen. Außerdem hätte Lord Hinchley unter Garantie über seine Neugierde gelacht.

Schließlich hatte er immer wieder betont, mit welchem Widerwillen er diese Reise antrat und wie sehr er Schottland haßte „Wenn Ihnen das Land derart zuwider ist, warum fahren Sie dann hin?“ hatte ihn der Freund einmal gefragt.

„Aus familiären Gründen“, hatte der Herzog nur knapp geantwortet.

Diskret, wie Lord Hinchley nun einmal war, hatte er es bei dieser einen Frage belassen. Lord Hinchley schätzte den Herzog sehr. Er bewunderte seine Fairness, mußte aber immer wieder feststellen, daß er von einer Reserviertheit sein konnte, die ihm noch bei keinem anderen Menschen begegnet war.

Man hätte doch annehmen sollen, daß es unter Freunden, und sie waren sehr gute Freunde, nichts gab, worüber man nicht sprechen konnte. Nichts, was tabu war. Doch - kam die Rede auf die McNarn, so wurde der Herzog wortkarg.

Sie ritten weiter. Hier, auf flachem Gelände, legten die Pferde ein ordentliches Tempo vor.

Sowohl der Herzog als auch sein Freund Lord Hinchley waren daran gewöhnt, lange Stunden im Sattel zu verbringen. Sie legten oft Strecken zurück, die andere zu reiten nicht einmal erwogen hätten. Trotzdem war Lord Hinchley erleichtert, als der Ritt sich seinem Ende näherte.

„Jetzt sind wir gleich da“, erklärte Mr. Dunblame nach etwa zwei Stunden. „In fünf Minuten kann man das Schloß bereits sehen.“

Der Herzog war den Anblick gewöhnt, als sie jedoch aus einem Hohlweg kamen und es plötzlich vor sich liegen sahen, war er beeindruckt. In seiner Erinnerung war es viel kleiner und unansehnlicher gewesen.

Aus grauem Sandstein erbaut, war Narn Castle mit seinen Türmen und Türmchen der großartigste Bau des ganzen Hochlandes.

Lord Hinchley war begeistert.

„Mein Gott, Taran!“ rief er. „Sie haben nie erwähnt, daß Sie ein Schloß besitzen, das sogar Windsor Castle in den Schatten stellt.“ „Ich freue mich, daß es Ihnen gefällt“, erwiderte der Herzog trocken, stellte jedoch zu seinem Erstaunen fest, daß er irgendwie stolz war.

Er hatte das Schloß gehaßt. Wie ein riesiger Schatten hatte es seine Kindheit belastet. Es hatte so bedrohlich und so feindselig auf ihn gewirkt, daß er aufgeatmet hatte, als er mitten in der Nacht aus seinen Mauern geflohen war. Nie wieder kehre ich hierher zurück, hatte er sich damals geschworen.

An diesem Tag jedoch spiegelte sich der Schein der Sonne in den Fenstern, die Flagge wehte auf der Spitze des höchsten Turms, und das, was für den Herzog als Kind beängstigend gewirkt hatte, wirkte jetzt majestätisch.

Die perfekte Umgebung für das Oberhaupt der McNarn.

Der Herzog drehte sich nach den sechs Dienern um, die ihnen in gebührendem Abstand gefolgt waren. Sie kamen näher.

„Die anderen, warten vor dem Schloß“, sagte Mr. Dunblame in dem Moment.

„Welche anderen?“ fragte der Herzog.

„Die Mitglieder des Clans“, antwortete Mr. Dunblame. „Natürlich nur diejenigen, die in der Nachbarschaft wohnen. Der Rest kommt morgen oder übermorgen.“

Der Herzog überlegte.

„Und wozu das Ganze?“ fragte er schließlich. Sein Ton war scharf und leicht vorwurfsvoll.

Mr. Dunblame sah den Herzog mit offenem Blick an.

„Die Einführung eines neuen Oberhaupts ist seit eh und je mit traditionellen Zeremonien verbunden“, sagte er. „Die Leute warten schon sehnsüchtig auf die Rückkehr Euer Gnaden.“

Der Herzog schwieg. Er konnte Mr. Dunblame unmöglich sagen, daß ihn erst der zweite Brief zu dieser Rückkehr bewogen hatte.

Vage erinnerte er sich an Zusammenkünfte, die sein Vater abgehalten hatte und bei denen er nie hatte zugegen sein dürfen.

Der Herzog wußte, wie wichtig ein Oberhaupt für die Mitglieder eines Clans war, aber er hatte diese Tatsache verdrängt oder sich zumindest eingeredet, daß diese Art von Tradition veraltet war und ihr kein Gewicht mehr verliehen werde.

Er hatte sich allerdings einer Täuschung hingegeben. Das wurde ihm jetzt klar.

In dem Brief an Mr. Dunblame, in dem er seine Ankunft angekündigt hatte, hatte er dummerweise nicht betont, daß er keine Willkommensgrüße und keine Ovationen der Mitglieder des Clans wünsche. Wahrscheinlich jedoch hätte man derlei Wünsche mißachtet.

Das Oberhaupt war nun einmal die Vaterfigur des Clans. Das Recht von früher, über Leben und Tod seiner Untergebenen zu bestimmen, war ihm inzwischen genommen, es trug jedoch nach wie vor die volle Verantwortung für das Wohlergehen der Leute.

Der Herzog erinnerte sich an einen Satz, den er einmal in einer Abhandlung über die Funktion eines Oberhaupts gelesen hatte:

Als Grundbesitzer, Vaterfigur, Richter und Heerführer ist seine Macht gewaltig und unumstritten, trotzdem jedoch bespricht er wichtige Entscheidungen mit den Mitgliedern seiner Familie und den führenden Persönlichkeiten seines Clans.

Eines stand für den Herzog allerdings fest: Eine Familie wollte er nicht so schnell gründen. Schon gar nicht, um jemanden zu haben, mit dem er über wichtige Entscheidungen diskutieren konnte.

Seine Schwester Janet war tot, sein Vater Gott sei Dank auch.

Blieb also nur Torquil, dieser törichte junge Mann, der ihn dazu veranlaßt hatte, die Bequemlichkeiten und Vergnügungen Londons hinter sich zu lassen und nach Schottland zurückzukehren.

 

Sicherlich gab es noch irgendwelche anderen Verwandten, an die er sich nicht erinnern konnte. Vorsichtig erkundigte er sich bei seinem Verwalter.

„Lebt übrigens sonst noch jemand auf dem Schloß?“ fragte er.

„Nur Jamie, Euer Gnaden“, antwortete Mr. Dunblame.

„Jamie?“

„Ja, Lady Janets jüngerer Sohn.“

„Natürlich!“

Der Herzog hatte sich lediglich nicht an den Namen des zweiten Kindes erinnert, bei dessen Geburt seine Schwester gestorben war.

„Er ist ein sehr aufgeweckter Bub“, berichtete Mr. Dunblame weiter. „Immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt. In jeder Beziehung ein richtiger McNarn.“

„Ich weiß nicht, ob ich es sehr schätzen werde, wenn meine Neffen immer zu irgendwelchen Streichen auf- gelegt sind“, entgegnete der Herzog kühl.

Mr. Dunblame sah ihn von der Seite her an, sagte jedoch nichts.

Und dann, so unerwartet, daß der Herzog und Lord Hinchley erschraken, tauchten plötzlich Männer aus ihren Verstecken hinter Büschen und Sträuchern auf und kamen auf sie zugelaufen.

Sie warfen die Arme in die Luft und gaben eine Art Kriegsgeheul von sich.

Es dauerte einen Moment, bis der Herzog begriffen hatte, daß es sich dabei um den Schlachtruf der McNarn handelte.

Der jeweilige Schlachtruf eines Clans gehörte ebenso zur Tradition wie das Sträußchen Heidekraut oder Myrte, das die Männer an der Mütze trugen.

Wieder und wieder ertönte der Schlachtruf. In die Stimmen der Männer mischten sich die hohen Töne der Dudelsackpfeifen. Die Männer liefen neben den Pferden her und begleiteten ihr Oberhaupt zum Schloß.

Ehe sich der Herzog dessen richtig bewußt war, ritt er allein voraus, gefolgt von Mr. Dunblame und den sechs Dienern.

Einen Moment später gingen die Töne der Pfeifer in einem Geschrei aus Hunderten von Kehlen unter.

Die Auffahrt zum Schloß war von Mitgliedern des Clans eingesäumt, die Spalier standen.

Es waren rauhe, verwitterte Gesellen, die zwar einen armen Eindruck machten, aber einen Stolz an sich hatten und eine Kraft ausstrahlten, wie man sie nur noch selten fand.

Das sind Männer, auf die man sich verlassen kann, dachte der Herzog.

Die Jubelrufe waren so laut, daß der Herzog unmöglich mit dem einen oder anderen ein Wort hätte sprechen können. Er winkte den Leuten zu, sah nach links, sah nach rechts und nickte.

Als sie vor dem Schloß angekommen waren, brachen die Stimmen ab.

Alles wartete in atemloser Stille.

Der Herzog hatte einfach absitzen und in das Schloß hineingehen wollen, aber er wußte, daß er die Männer, die ihm das Geleit gegeben hatten, nicht vor den Kopf stoßen durfte.

„Vielen Dank!“ rief er daher mit fester, tragender Stimme. „Vielen Dank. Glück sei mit euch!“

Wie von selbst waren die Worte aus seinem Gedächtnis aufgetaucht, das Seltsame jedoch war, daß er sie in Gälisch gesprochen hatte, einer Sprache, die er seit zwölf Jahren nicht mehr benutzt hatte.

Als der Jubel wieder auf wallte, hob der Herzog den rechten Arm, drehte sich um und ging ins Schloß.

„So, und jetzt berichten Sie, was mein Neffe angestellt hat“, sagte der Herzog.

Das Essen war beendet, Lord Hinchley war in den Salon gegangen, und der Herzog hatte Mr. Dunblame gebeten, mit ihm in die Bibliothek zu kommen, die seinem Vater als Arbeitszimmer gedient hatte.

Als er über die Schwelle getreten war, hatte er automatisch damit gerechnet, die finstere Gestalt des Mannes, den er gehaßt hatte, am Schreibtisch vor dem Fenster sitzen zu sehen.

Von diesem Fenster aus konnte man das ganze Tal überblicken, und der Herzog hatte früher seinen Vater oft mit einem Wasserspeier verglichen, der zornig und furchtgebietend über das Land hinwegsah, das er besaß.

Merkwürdigerweise sah der Raum völlig anders aus als in der Erinnerung des Herzogs. In seiner Erinnerung war er finster, bedrückend und häßlich gewesen.

Nichts davon stimmte. Die Bibliothek, von William Adam entworfen, war ein Meisterwerk an Symmetrie, Ausgewogenheit und männlicher Eleganz.

Der Herzog sah sich erstaunt um. Daß er in jungen Jahren nichts von dieser Eleganz gespürt hatte, war ihm jetzt unbegreiflich.

Von der drohenden Atmosphäre, die sein Vater verbreitet hatte, war nichts mehr zu spüren. Ohne auch nur darüber nachzudenken, hatte sich der Herzog auf den Sessel seines Vaters gesetzt und Mr. Dunblame gebeten, auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz zu nehmen.

„Ich habe Ihrem Brief entnommen“, fuhr er jetzt fort, „daß die Situation höchst kritisch ist, kann mir aber nicht vorstellen, daß dies der Fall ist.“

„Leider schon, Euer Gnaden.“

„Inwiefern?“

„Torquil ist Gefangener der Kilcraig.“

„Gefangener?“ wiederholte der Herzog. „Sie können ihn doch nicht einfach in ein Kellerloch oder dergleichen sperren und die Sache damit auf sich beruhen lassen.“

Der Ton des Herzogs ließ vermuten, daß er die Angelegenheit nicht sonderlich ernst nahm.

„Ich vermute, daß er nicht sehr bequem untergebracht ist“, entgegnete Mr. Dunblame. „Man hat mir zu verstehen gegeben, daß es nur eine Alternative gibt: ihm in Edinburg den Prozeß zu machen.“

„Einen Prozeß? Was lastet man ihm an?“ fragte der Herzog schon interessierter.

„Viehdiebstahl, Euer Gnaden.“

„Gerechter Himmel!“ Der Herzog konnte nur noch den Kopf schütteln.

„Ich habe das Oberhaupt der Kilcraig aufgesucht, Euer Gnaden“, berichtete Mr. Dunblame weiter, „er ist überzeugt davon, daß Torquil und seine Mithelfer mit schweren Strafen, wenn nicht sogar Zwangsarbeit rechnen müssen, falls die Angelegenheit vor ein Gericht gebracht wird. Er hat sich allerdings bereit erklärt, erst einmal zu warten, bis Sie da sind.“

Dem Herzog hatte es die Rede verschlagen.

Daß Viehdiebstahl schwer bestraft wurde, war ihm nichts Neues.

Mit dem Ausbau der Viehzucht im Tiefland und in England hatten Viehdiebstahl und Erpressung zugenommen.

Erpressung insofern, als kleine Farmer von räuberischen Banden gezwungen wurden, eine gewisse Summe zu zahlen, wenn ihre kleinen Herden verschont werden sollten.

Auf Viehdiebstahl und Erpressung stand nicht mehr Tod durch Erhängen, sondern Zwangsarbeit in den Kolonien oder lange Gefängnisstrafe.

„Wie haben Sie es zulassen können, daß der Junge so einen Wahnsinn begeht?“ fragte der Herzog verärgert.

Mr. Dunblame stieß einen Seufzer aus. „Ich habe Ihren Vater immer wieder auf Torquils Situation angesprochen, Euer Gnaden“, entgegnete er. „Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, daß der junge Mann nichts zu tun hat, daß er nicht ausgelastet ist und deshalb auf dumme Gedanken kommt.“

„Und?“ fragte der Herzog.

„Es hat natürlich nichts genützt“, antwortete Mr Dunblame. „Ehrlich gesagt bin ich überzeugt davon, daß es sich lediglich um einen dummen Streich handelt. Die Kilcraig und die McNarn sind eingeschworene Feinde, und er fand es eben spannend, nachts über die Grenze zu schleichen und ein Kalb oder wenn möglich eine prämierte Kuh zu stehlen und sie wie eine Trophäe nach Hause zu bringen.“

Der Herzog verstand, was Mr. Dunblame meinte. Seit Jahrhunderten nährten die beiden Clans ihren Haß und bekriegten sich. Allein die Tatsache, daß die Kilcraig gute Viehherden besaßen, war natürlich schon ein Anreiz, ihnen eins auszuwischen.

„Und wie wurde er ertappt?“ fragte er.

„Allem Anschein nach war es nicht das erste Mal“, entgegnete Mr. Dunblame. „Leider habe ich erst von diesen Dummheiten erfahren, als das Oberhaupt der Kilcraig mir mitteilen ließ, Torquil und drei andere Jungen befänden sich in seinem Gewahrsam.“

„Ich nehme an, daß man ihnen aufgelauert hat“, sagte der Herzog.

Mr. Dunblame nickte.

„Und weiterhin nehme ich an, daß sie dumm genug gewesen sind, denselben Weg zu nehmen und sich in dasselbe Gebiet zu schleichen wie beim ersten Mal.“ „Ja“, antwortete Mr. Dunblame.

„Es ist nicht zu fassen!“ Der Herzog schüttelte den Kopf. „Eine höchst peinliche Angelegenheit. Glauben Sie, daß Kilcraig mit sich reden läßt?“