Der Marquis und das arme Madchen

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Der Marquis und das arme Madchen
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der Marquis und das Arme Mädchen

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2016

Copyright Cartland Promotions 1985

9781782138525

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1 ~ 1815

Rowena legte den Strumpf, den sie gerade stopfte, nieder, als sie den Türklopfer vernahm.

Es wäre sinnlos anzunehmen, daß die alte Mrs. Hanson in der Küche das Klopfen gehört hatte. Sie wurde von Jahr zu Jahr schwerhöriger. Und sie benutzte diese Tatsache als Entschuldigung, wenn sie gewisse Aufträge oder Anordnungen nicht hören und befolgen wollte.

Rowena nahm an, daß es ein Patient ihres Vaters sei. Sie hatte den Eindruck, daß das Klopfen eilig und drängend geklungen hatte; vielleicht war es eine Frau in den Wehen, oder ein Arbeiter von der angrenzenden Farm, der einen Unfall hatte.

Sie durchquerte die kleine Diele und öffnete die Tür. Erstaunt bemerkte sie vier Männer, die eine Tür trugen, auf der eine Gestalt ausgestreckt lag.

„Was ist geschehen?“ fragte sie entsetzt.

„Der Doktor hat gesagt, wir sollen den Gentleman herbringen“, antwortete einer der vier Männer.

Rowena betrachtete zweifelnd die Tür, die man offensichtlich aus den Angeln gehoben hatte.

„Die werdet Ihr nicht durch die Tür bringen. Und schon gar nicht die Treppe hinauf. Ich glaube, Ihr werdet ihn tragen müssen.“

„Hab’ ich dir doch gesagt“, sagte einer der Männer zu einem anderen.

Sie waren alle aus dem Dorf, Rowena kannte sie beim Namen.

„Was ist passiert, Abe?“ fragte sie den ältesten der vier Männer.

„War’n Unfall an der Kreuzung, Miss Rowena,‘n ganz gemeiner, wirklich!“

Die Männer setzten die Tür ab, und Rowena konnte nun den Mann erkennen, der darauf lag. Sie erkannte sofort, daß es sich um einen Gentleman handelte. Er war prächtig gekleidet.

Er trug ein raffiniert gebundenes weißes Halstuch und glänzende Stiefeletten. Er mußte gewiß sehr groß sein, wenn er aufstand.

„Ich sage, der Fahrer von der Postkutsche war wieder ’mal betrunken“, sagte einer der Männer.

„Die verursachen sowieso die meisten Unfälle”, stimmte ein dritter ihm zu.

„Wie viele Menschen sind denn verletzt worden? “fragte Rowena.

„Nur dieser Gentleman hier“, erwiderte Abe. „Die Fahrgäste der Kutsche waren so erschrocken, dass sie alle schrieen und weinten. Aber der Doktor hat sich um sie gekümmert.“

Rowena dachte, was für ein Glück es war, daß ihr Vater auf dem Weg zu einer entlegenen Farm noch einen Besuch im Dorf zu machen hatte. Das hieß, daß er zur Zeit des Unfalls in der Nähe gewesen war.

Die vier Männer hoben den Verletzten von der Tür. Er mußte sehr schwer sein, denn die Muskeln der vier spannten sich gewaltig vor Anstrengung. Langsam trugen sie ihn ins Haus und stiegen die schmale Treppe hinauf.

Es gab oben nur ein Schlafzimmer, in das sie den Verletzten legen konnten.

Es war ein hübsches Zimmer, mit runden Fenstern und mit Blick auf den Garten.

Rowena eilte voraus, um die Rouleaus hochzuziehen und das Bett aufzudecken.

Das Bett war jederzeit hergerichtet. Dies war nicht das erste Mal, daß es für Patienten ihres Vaters benutzt wurde.

Das letzte Mal war es eine Frau, die darin schlief. Sie war auf der Durchreise gewesen und hatte sich ein Bein gebrochen, als sie auf der eisglatten Straße ausgerutscht war. Rowena erinnerte sich, daß diese Frau fast drei Wochen bei ihnen geblieben war. Sie hatte viel Unruhe ins Haus gebracht und war schließlich verschwunden, ohne einen Penny für die Unterkunft und Behandlung zu bezahlen.

,Auf jeden Fall sieht dieser Mann wenigstens so aus, als wäre er sehr wohlhabend’, dachte sich Rowena.

Aber sie wußte, daß es auch dieses Mal wieder ihre Aufgabe sein würde, den Patienten um Geld für die Behandlung zu bitten. Niemals kam es ihrem Vater in den Sinn, für seine Dienste Bezahlung zu verlangen.

Die vier Männer legten nun den Verletzten auf das Bett. Jetzt konnte Rowena sein Gesicht sehen. Er war ein ausnehmend hübscher Mann. Nur auf seiner Stirn war eine große Wunde, die stark blutete. Seine Augen waren geschlossen.

Rowena nahm an, daß er noch andere Verletzungen erlitten haben mußte, da er in tiefer Bewußtlosigkeit war.

„Gibt es noch ’was, das wir tun können?“ fragte Abe.

„Ja!“ antwortete Rowena schnell. „Es wäre gut, wenn ihr den Gentleman auskleiden würdet. Es ist niemand weiter hier als Mrs. Hanson und ich. Und der Doktor wird sicher sehr beschäftigt sein, wenn er nach Hause kommt.“

Ein wenig nervös blickten die vier Männer auf den Verletzten. Es schien, als hätten sie Sorge, der Herr könnte aufwachen und sie wegen einer solchen Vertraulichkeit belangen.

„Geht vorsichtig mit ihm um“, ermahnte sie Rowena. „Ich werde ein Nachthemd meines Vaters für ihn holen.“

Sie verließ das Zimmer noch während sie sprach, um ihnen jede Möglichkeit des Widerspruchs zunehmen. Sie dachte sich, daß die vier sich schließlich nützlich machen könnten und ihrem Vater ein wenig die Arbeit erleichtern konnten. Sie wußte, wie beschwerlich es war, einen so großen Mann auszukleiden, noch dazu, wenn er bewußtlos war. Sicher trug er so elegante, eng sitzende Wäsche, die noch schwerer zu entkleiden war, als gewöhnliche Wäsche.

Rowena ging in das Zimmer ihres Vaters und öffnete die Kommode, in der sich die Nachthemden befanden. Nach kurzem Zögern zog sie von ganz unten eines hervor, von dem sie wußte, daß es das beste ihres Vaters war.

Es war aus reiner Seide, und Rowena erinnerte sich daran, wie ihre Mutter es vor einigen Jahren genäht hatte.

„Ich wünschte mir immer das Beste für deinen Vater“, hatte sie gesagt.

Worauf Rowena geantwortet hatte: „Ich dachte immer, es wäre viel wichtiger, daß du schöne Kleider hast. Für Papa ist es sicher nicht so wichtig.“

„Bei mir spielen Kleider keine Rolle. Dein Vater liebt mich so, wie ich bin. Aber ich wünsche mir das Beste für ihn“, hatte ihre Mutter lächelnd geantwortet.

Aber für keinen der beiden war es je möglich gewesen, dem anderen das zu geben, was er für das Beste hielt. Mit vier Kindern war es seit jeher schwer gewesen, überhaupt zu überleben. Es war nie darum gegangen, ob man Seide oder Baumwolle trug, sondern sie hatten sich Gedanken darüber machen müssen, daß Mark ein Paar Schuhe brauchte, Hermoine neue Strümpfe und Lotty ein neues Kleid.

Rowena konnte sich nicht daran erinnern, daß es jemals problemlos gewesen war, die Familie satt zu machen und zu kleiden.

Es gab Zeiten, in denen sie ihrem Vater verübelte, daß er glücklich war, solange er anderen Menschen helfen konnte. Er ging völlig in seinem Beruf auf, ohne sich Gedanken darüber zu machen, welche Opfer dies von seiner Familie erforderte.

Erst vor einer Woche hatte sie ihn daran erinnern müssen, daß der Bauer Bostock noch immer nicht für die Operation an seiner Hand vor einem Jahr bezahlt hatte.

„Die Bostocks haben schwere Zeiten gehabt“, war die Antwort ihres Vaters gewesen. „Er wird mich schon bezahlen, wenn er das Geld dafür hat.“

Aber all ihre Proteste stießen auf taube Ohren. Auch wußte sie, ob der Bauer Bostock oder irgendein anderer Patient seine längst fällige Rechnung bezahlen würde, das Geld würde ausgegeben werden, um Milch für ein krankes Kind zu kaufen, oder einem Invaliden zu helfen, der nicht in der Lage war, seine Medikamente selbst zu bezahlen.

„Ich werde dafür sorgen, daß dieser Patient seine Rechnung bezahlt. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“

Rowena gab sich dies Versprechen, als sie das seidene Nachthemd nahm und an die Tür des Krankenzimmers klopfte.

Sie war nicht etwa schüchtern oder verschämt, denn schon oft hatte sie ihrem Vater geholfen, und dabei nackte Menschen gesehen. Aber sie wußte, daß Abe und die anderen wahrscheinlich schockiert sein würden bei dem Gedanken, daß sie diesen unbekleideten Herrn ansehen würde.

Daher reichte sie das Nachthemd lediglich durch die Tür und ging dann hinunter, um etwas heißes Wasser, Handtücher und Verbandzeug zu holen.

„Sie haben uns einen Patienten gebracht, der bei einem Unfall verletzt wurde, Mrs. Hanson!“ erklärte sie der alten Köchin, die an dem alten Ofen in der Küche stand.

„Was war das, Miss Rowena?“ fragte Mrs. Hanson.

Man mußte alles, was man dieser alten Frau sagte, wenigstens einmal wiederholen, da sie sich nicht die Mühe machte, beim ersten Mal überhaupt hinzuhören.

„Ein Patient, haben Sie gesagt?“ fragte die alte Frau, als Rowena ihre Worte wiederholt hatte.

Ablehnung war in ihren Augen zu sehen, denn sie wußte, daß es zusätzliche Arbeit bedeuten würde. Da Rowena bestrebt war, den Frieden zu wahren, sagte sie besänftigend: „Aber er sieht sehr reich aus. Also wird er sicher nicht lange bleiben. Sobald Papa ihn behandelt hat, wird ihn sicher eine Kutsche abholen. Wir werden nicht viel Arbeit mit ihm haben. Also machen Sie sich keine Sorgen.“

„Als ob in diesem Hause nicht genug zu tun ist!“ murrte Mrs. Hanson.

„Ich glaube nicht, daß unser Patient etwas zu Essen wünscht“, antwortete Rowena.

Aus dem Regal nahm sie eine chinesische Schale und füllte eine Kanne mit heißem Wasser. Dann ging sie zu dem Schrank, in dem ihr Vater das Verbandzeug aufbewahrte und nahm noch einige frische Tücher mit.

Gerade wollte sie die Treppe hinaufsteigen, als die vier Männer ihr entgegenkamen.

„Wir haben den Mann ins Bett gelegt, Miss Rowena. Er hat nicht ’mal mit den Wimpern gezuckt. Wenn Sie mich fragen, wird der Doktor ihn halbtot vorfinden, wenn er zurückkommt.“

 

Aufgeregt machte Abe diese Mitteilung, und Rowena wußte, daß es für die Männer nichts Erregenderes gab als den Tod.

„Ich danke euch sehr für eure Hilfe“, sagte sie. “Aber ihr braucht euch keine Sorgen zu machen; ich bin sicher, daß unser Patient überleben wird, besonders wenn der Doktor ihn mit seinen magischen Händen behandelt haben wird.“

„Das glaube ich auch, Miss Rowena. Der Doktor hat wirklich ’was Magisches an sich. Meine Frau hat das auch gesagt, nachdem er sie fast aus dem Grab zurückgeholt hat.“

„Das sagen viele Leute“, lächelte Rowena.

„Wenn noch irgendwas zu helfen ist, brauchen Sie es nur zu sagen, Miss Rowena. Wir gehen jetzt ’mal gucken, was es an der Unfallstelle noch zu tun gibt. Ick hoffe, wir müssen Ihnen nich’ noch ’nen Verletzten bringen“, sagte Abe.

„Hier ist kein Platz mehr!“ erklärte Rowena scharf. „Macht das bitte meinem Vater klar, wenn ihr ihn seht. Und sagt ihm bitte, daß er so schnell wie möglich nach Hause kommen soll.“

„Wir richten es aus.“

Die Männer lüfteten respektvoll ihre Mützen, Rowena schloß die Tür hinter ihnen und ging dann die Treppe hinauf in das Krankenzimmer.

Der Patient lag in den Kissen, seine Kleider waren am Kamin sorgfältig über einen Stuhl gelegt.

Sie setzte sich auf das Bett und begann, das Gesicht des Gentlemans vorsichtig mit einem feuchten Tuch zu säubern. Die Wunde hatte stark geblutet. Dann jedoch sah sie, daß die Verletzung nicht sehr tief war.

,Er muß noch andere Verletzungen haben’, dachte sie sich, als sie sein Gesicht mit einem Handtuch abtupfte.

Jetzt, als sein Gesicht sauber war, konnte sie erkennen, daß er noch hübscher war, als sie vorher bemerkt hatte. Er hatte aristokratische Gesichtszüge, ein eckiges Kinn und einen entschlossenen Mund, der beinahe hart wirkte. Sicher war er eine starke Persönlichkeit.

Sie schätzte, daß er so um die dreißig war. Sein Haar war nach der neuesten Mode geschnitten.

,Sicher ist er eine wichtige Person’, dachte Rowena bei sich, während sie seine langen Finger betrachtete, an denen er einen Siegelring mit Monogramm trug.

Rowena stellte fest, daß es für sie eigentlich nichts mehr zu tun gab, als auf die Rückkehr ihres Vaters zu warten. Automatisch griff sie nach seinen Kleidern, um sie ein wenig zu ordnen. Sie registrierte die ausgezeichnete Qualität des Anzuges. Als sie ihn aufnahm, fühlte sie eine dicke Brieftasche. Sie nahm sie heraus, um sie auf den kleinen Tisch zu legen. Dabei stellte sie fest, daß sie mit Banknoten gefüllt war. Sie widerstand der Versuchung, die Tasche zu öffnen.

„Nun, er hat wenigstens Geld“, stellte sie zufrieden fest. „Und er wird nicht fortgehen, bevor er bezahlt hat.“

Rowena betrachtete die staubigen Schuhe des Patienten und machte sich Gedanken, was wohl zu dem Unfall geführt hatte. Sie wagte nicht daran zu denken, daß den Pferden etwas passiert war. Noch zu gut erinnerte sie sich an den letzten Unfall, als zwei Pferden die Beine gebrochen wurden. Sie mussten getötet werden.

,Ob wohl dieser Herr die Schuld trug?’ fragte sie sich für einen Augenblick. Gleichzeitig verwarf sie den Gedanken. Sie war sicher, daß er ein ausgezeichneter Fahrer war. Und hatte Abe nicht erwähnt, daß der Kutscher der Postkutsche betrunken war?

Es war bekannt, daß in letzter Zeit viele der Kutscher betrunken waren und keine Ahnung vom Umgang mit Pferden hatten.

Gleichzeitig konnte sich Rowena des Gefühls nicht erwehren, daß der Mann vor ihr vielleicht doch einen Teil Schuld an dem Unfall trug. Vielleicht war er zu schnell gefahren. Sicher war er ein Mann, der ungeduldig seinem Ziel entgegenstrebte. Und sie konnte sich nicht vorstellen, wenn sie ihn so betrachtete, daß er auf der Straße entlang zuckeln würde.

Während sie so in Gedanken um sich sah, ob es nicht doch noch etwas für sie zu tun gab, hörte sie ihren Vater in der Halle.

„Papa!“ rief sie, während sie ihm entgegenlief.

„Da bist du ja, Rowena. Abe hat mir berichtet, daß sie den Patienten ins Bett gebracht haben.“

„Alles ist vorbereitet, Papa. Er wartet nur auf dich. War es ein schwerer Unfall?“

„Es war ein furchtbares Durcheinander“, antwortete Dr. Winsford, während er die Treppe hinaufstieg.

„Wie ist es passiert?“

„Der Fahrer der Postkutsche ist auf der falschen Seite der Straße um die Ecke gefahren. Es war allein seine Schuld. Nur der ausgezeichneten Fahrkunst des Herrn in der Phaethon Kutsche war es zu verdanken, daß es nicht zu einem Frontalzusammenstoß gekommen ist. Ich befürchte, daß ein Rad ihn überfahren hat, als seine Kutsche sich überschlagen hat.“ Mit bitterem Ton fuhr er fort: „Es heißt, der liebe Gott hält seine Hand über die Betrunkenen. Der Fahrer der Postkutsche ist ohne einen Kratzer davongekommen.“

„Und unser Patient? Ist er schwer verletzt?“

„Das kann ich erst beurteilen, wenn ich ihn untersucht habe“, erwiderte der Doktor. „Bring mir bitte etwas heißes Wasser und Verbandzeug.“

„Es ist alles schon im Zimmer. Ich habe auch sein Gesicht abgewaschen. Die Wunde an der Stirn sieht nicht sehr gefährlich aus.“

„Ich mache mir auch mehr Sorgen um seine inneren Verletzungen.“

Der Doktor betrat das Krankenzimmer. Er erblickte den Verletzten im Bett und sagte anerkennend: „Du hast ihn schon ausgezogen. Das ist gut. Es erspart viel Zeit. Auf mich warten noch mindestens ein Dutzend Schrammen und blutende Nasen im Dorf.“ Der Doktor wusch sich die Hände und betrachtete dabei den Patienten. Rowena fragte ihn, ob er noch irgendetwas benötigte. Er schüttelte den Kopf. Sie wußte, daß er sich auf den Kranken konzentrierte und nicht in der Lage war, an irgendetwas anderes zu denken.

„Ich werde dir eine Tasse Tee machen, Papa“, sagte sie und rannte die Stufen hinunter, froh darüber, etwas für ihren Vater tun zu können.

Sie wußte nur zu gut, wie ihn Unfälle dieser Art aufregten. Er konnte niemanden leiden sehen, und das war auch der Grund dafür, warum ihm viele der Dorfbewohner geheimnisvolle Kräfte zusprachen. Er war ein sehr sensibler Mensch und immer bemüht, die Leiden seiner Patienten zu lindern.

Vor ihrem geistigen Auge konnte Rowena die schreienden Frauen und Kinder sehen, die Verletzten, die auf der Straße lagen zwischen all dem Gepäck, das heruntergefallen war.

Sie hoffte nur, daß keines der Pferde verletzt war, denn sie konnte sich vorstellen, daß der Gentleman, der jetzt verletzt in ihrem Haus lag, sicher Pferde von bester Rasse und Qualität besaß. Es wäre furchtbar, wenn diesen Tieren etwas geschehen war, so wie es bei dem letzten schweren Unfall der Fall gewesen war.

,Ist der Doktor da?“ fragte Mrs. Hanson, als Rowena in die Küche trat.

„Ja, er ist oben bei dem Patienten“, erwiderte Rowena.

„Ich wollte ihm sagen, daß Mistress Carstairs es sehr schätzen würde, wenn er heute Abend bei ihr ‘reinschauen könnte.“

„Dafür wird er wohl keine Zeit haben“, antwortete Rowena bestimmt. „Sie wissen genauso gut wie ich, daß Mrs. Carstairs keinerlei Beschwerden hat. Sie braucht nur jemanden, der ihren Klagen über ihren Sohn zuhört. Sie verschwendet nur Papas Zeit, und er ist zu gutmütig, um es ihr zu sagen.“

„Ich richte ja auch nur aus, was sie mir aufgetragen hat“, erwiderte Mrs. Hanson.

„Ja, ich weiß“, entgegnete Rowena. „Aber ich denke, daß es besser ist, es heute zu vergessen. In all der Aufregung kann uns das ja passieren.“

Sie war überzeugt davon, daß Mrs. Carstairs nur eine der Personen war, die die Gutmütigkeit und Großzügigkeit ihres Vaters ausnutzte.

Für die Dorfbewohner war ihr Vater nicht nur der Arzt, sondern der Vertraute, der Beichtvater, der Ratgeber. Manchmal neckte sie ihn, indem sie ihn sogar als den Wahrsager der Leute bezeichnete.

„Mit allen Sorgen und Bedürfnissen kommen sie zu dir“, hatte sie ihm erst neulich gesagt. „Es wird Zeit, daß sich dieser faule Vikar um einige dieser Leute kümmert.“

„Sie vertrauen mir“, hatte er sanft geantwortet. “Und ich kann sie nicht enttäuschen.“

Während sie die Treppe hinaufstieg, um ihrem Vater den Tee zu bringen, dachte sie darüber nach, daß er sich nach dem Tode seiner Frau noch mehr in seinen Beruf vertiefte, als er es vorher getan hatte. Sie war sicher, daß er nur deshalb so viel arbeitete, um nicht über den Verlust seiner Frau nachdenken zu müssen. Ihr Tod hatte ein schmerzliches Loch in sein Leben gerissen, das auch seine Kinder nicht füllen konnten.

Rowena wußte, daß ihr Vater sie sehr liebte und sehr an ihr hing. Aber niemand konnte den Platz ihrer Mutter einnehmen, so sehr er es auch wünschte. Als sie starb, das wußte Rowena, war das Licht aus dem Leben ihres Vaters geschwunden.

Rowena hatte oft darüber nachgedacht, wie schnell alles gegangen war und wie unnötig der Tod der Mutter gewesen ist.

Es war ein harter und langer Winter gewesen. Ihre Mutter hatte sich eine Erkältung geholt, die trotz der verschiedenen Hausmittel, die man ausprobiert hatte, nicht vergehen wollte. Im Haus war es kalt gewesen, da das Geld nicht gereicht hatte, um genügend Kohlen zum Heizen zu kaufen. Es hatte zeitweilig nicht einmal gereicht, um die ganze Familie satt zu kriegen.

Als Rowena später zurückdachte, war sie sicher, daß ihre Mutter oft verzichtet hatte, um wenigstens die Kinder satt zu bekommen.

Der Husten war immer schlimmer geworden, und plötzlich stellte man fest, daß sie eine Lungenentzündung hatte. Sie war durch Kälte und Hunger so geschwächt, daß sie der Krankheit nichts entgegensetzen konnte, und plötzlich war sie gestorben.

„Wenn deine Patienten ihre Rechnungen bezahlt hätten, könnte Mutter heute noch leben“, hatte Rowena ihrem Vater bitter vorgeworfen, als ihre Mutter beerdigt worden war.

Der Vater hatte nichts geantwortet, und Rowena wollte ihn auch nicht weiter quälen. Aber sie hatte sich geschworen, daß kein Patient ihnen etwas schuldig bleiben sollte, dem es möglich war, zu zahlen.

Die örtlichen Persönlichkeiten, von denen es nicht viele gab, waren in der Folgezeit sehr erstaunt, als sie die Briefe erhielten, die Rowena in ihrer feinen Schrift aufgesetzt hatte, und in denen ihnen mitgeteilt wurde, wie viele Besuche ihr Vater bei ihnen gemacht hatte, und in denen sie aufgefordert wurden, den fälligen Betrag so bald als möglich zu zahlen. Wenn dies nichts half, zögerte Rowena nicht, diese Leute persönlich aufzusuchen.

„Ich muß schon sagen, Miss Winsford, Ihr Vater hat uns früher nie auf diese Weise gedrängt“, hatte die Frau des Metzgers ihr vorgeworfen.

„Mit dem Ergebnis, daß wir oft hungrig zu Bett gehen mußten, Mrs. Pitt“, war Rowenas Antwort gewesen.

Mrs. Pitt war erstaunt gewesen.

„Ist das wirklich wahr?“

„Sie können Ihren Mann fragen, Mrs. Pitt. Er wird ihnen bestätigen, daß wir in den letzten Wochen kein Fleisch bestellt haben. Und das nur, weil wir kein Geld dafür hatten.“

Die Frau des Metzgers hatte daraufhin bezahlt. Auch die anderen wenigen begüterten Familien hatten gezahlt. Aber die Mehrheit der Patienten ihres Vaters war selbst so arm, daß sie nicht genug zu essen hatten.

Rowena hatte große Achtung vor der Wohltätigkeit ihres Vaters. Oft jedoch sagte sie sich, dass Wohltätigkeit eigentlich im eigenen Haus beginnen sollte. Besonders wenn sie ihre schäbige Garderobe betrachtete und wenn sie daran dachte, daß sie jede freie Minute damit verbrachte, Kleider für ihre Geschwister zu nähen.

Sie öffnete die Tür zum Krankenzimmer. Ihr Vater hatte die Hemdsärmel aufgerollt und war gerade dabei, den Patienten wieder zuzudecken.

„Ist es sehr schlimm?“ fragte Rowena.

„Schlimm genug“, erwiderte der Doktor. „Ich vermute, daß zwei oder drei Rippen gebrochen sind. Und der Magen ist gequetscht. Aber es ist schwer zu sagen, was für innere Verletzungen er noch erlitten hat.“

„Hast du eine Ahnung, wer er ist?“

„Ja, sein Stallbursche sagte mir, er ist der Marquis of Swayne.“

„Der Marquis of Swayne!“ wiederholte Rowena mit großen Augen. „Dann wohnt er in Swayneling Park, in dem großen Haus in der Nähe von Hatfield?“

„So ist es“, antwortete Dr. Winsford.

„Und was wirst du mit ihm machen?“

„Sein Reitknecht, der nicht verletzt worden ist, fährt nach Hause und wird dort berichten, was geschehen ist. Er hat sicher einen Sekretär oder irgendjemanden, der sich mit uns in Verbindung setzen wird. Aber ich bin der Meinung, er sollte nicht transportiert werden, bevor ein Spezialist ihn untersucht hat.“

 

„Ein Spezialist?“ rief Rowena aus. „Wo sollen wir hier in der Umgebung denn einen finden?“

„Zweifellos werden sie jemanden aus London holen. Ich glaube nicht, daß das für den Marquis etwas Besonderes ist.“

Er lächelte seine Tochter an. Das Lächeln ließ sein dünnes Gesicht leuchten. Er war einmal ein sehr schöner Mann gewesen. Und alle Leute die ihn früher gekannt hatten, wußten, warum alle seine Kinder so außerordentlich hübsch waren.

„Sieh mich nicht so erschrocken an, meine Liebe”, fuhr Dr. Winsford fort. „Ich bin ganz sicher, der Marquis wird uns nicht lange zur Last fallen. Und je eher er in die Hände von einem Spezialisten kommt, desto besser!“

„Ich glaube nicht, daß es besser für ihn ist“, antwortete Rowena. „Du weißt genau, daß du so etwas wie ,heilende Hände’ hast, wie die alten Frauen es nennen. Ich bezweifle, ob ein Spezialist mehr für ihn tun kann als du.“

„Ich wünschte, du hättest recht“, erwiderte der Doktor. „Aber ich kenne meine Grenzen.“

Der Marquis lag mit geschlossenen Augen da und fragte sich, wo er war.

Er fühlte sich sehr schwach und müde, aber der Nebel, der seinen Kopf gefüllt hatte und ihn am Denken gehindert hatte, schien geschwunden zu sein. Er war jetzt sicher, daß sich jemand im Raum befand. Er hatte die Gegenwart dieser Person, die sich sehr leise bewegte, schon vorher gefühlt, aber es war ihm unmöglich gewesen, sich zu konzentrieren.

Plötzlich fühlte er, wie jemand seinen Arm berührte. Sein Kopf wurde ein wenig hochgehoben und eine Tasse wurde an seine Lippen gehalten.

„Versuchen Sie, ein wenig zu trinken“, sagte eine weiche Stimme.

Automatisch befolgte er die Aufforderung. Plötzlich wußte er, daß er dieser Stimme schon vorher gehorcht hatte.

Er schmeckte etwas Süßes, und da er durstig war und sein Hals wehtat, trank er noch ein wenig mehr.

„Das ist sehr gut“, sagte die Stimme. „Nun schlafen Sie ein wenig, und dann werde ich Ihnen etwas Kraftbrühe bringen.“

„Warum kann ich nicht auch ein wenig Brühe haben?“ fragte eine andere Stimme.

Der Marquis erkannte, daß es ein Kind war.

„Lotty, wie oft habe ich dir gesagt, daß du nicht in dieses Zimmer kommen sollst?“ fragte die erste Stimme.

„Aber ich schau’ ihn so gerne an“, erwiderte Lotty trotzig. „Hermoine sagt, er sieht aus wie ein gefallener Gladiator. Ich glaube, sie ist in ihn verliebt!“

„Du sollst nicht solchen Unfug reden! Geh’ jetzt hinunter. Und weder du noch Hermoine wird hier noch einmal hereinkommen. Ist das klar?“

„Ich finde, du bist sehr egoistisch, Rowena. Du willst ihn nur für dich haben“, widersprach Lotty. „Wir wollen ihn auch ansehen.“

„Du gehst sofort hinunter!“

Der Ton in Rowenas Stimme verfehlte seine Wirkung nicht. Der Marquis hörte, wie jemand die Treppe hinunterlief, und Rowena, wer immer sie auch sein mochte, schloß die Tür.

Ganz vorsichtig öffnete der Marquis die Augen. Er hatte Angst, daß diese entsetzlichen Kopfschmerzen wiederkehren würden.

Wie er erwartet hatte, lag er in einem Bett in einem fremden Raum.

Am Waschtisch stand die schlanke Figur einer Frau und wusch die Tasse aus, aus der er getrunken hatte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm. Der Marquis erinnerte sich an die weiche Stimme, mit der sie zu ihm gesprochen hatte, und an die sanfte Berührung, mit der sie seinen Kopf gehalten hatte, und er wünschte, sie würde sich zu ihm wenden, damit er ihr Gesicht sehen konnte.

Sie trocknete die Tasse ab und stellte sie lautlos auf einen Teller, legte das Handtuch zusammen und drehte sich dann um.

Er hatte zwar erwartet, daß sie ihrer Stimme ähnlich war. Aber auf das, was er jetzt sah, war er nicht vorbereitet. Er glaubte für einen Augenblick, sie sei eine Halluzination.

Das Mädchen, das sich jetzt seinem Bett näherte, war lieblicher als irgendjemand, den er zuvor gesehen hatte.

Sie war in Gedanken, und ihre großen Augen, die fast ihr ganzes zartes Gesicht ausfüllten, sahen ihn nicht wirklich, bis sie an seinem Bett stand.

Als sie das Betttuch zurecht ziehen wollte, bemerkte sie, daß er sie ansah. Sie hielt inne.

„Sie sind wach?“ fragte sie. Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie schnell fort: „Bitte, versuchen Sie nicht, zu reden. Sie waren lange Zeit bewußtlos. Aber ich glaube, daß Sie mich jetzt hören können. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Sie sind in guten Händen.“

Trotz ihrer Bitte versuchte der Marquis zu sprechen. Seine Stimme klang fremd und heiser.

„Wo bin ich?“

„Sie sind in Little Powick, wo Sie einen Unfall hatten.“

Rowena machte eine Pause, um ihm Zeit zu geben, sie zu verstehen.

Dann sagte sie: „Es wurde niemand außer Ihnen verletzt. Ich nehme an, daß Sie gerne wissen möchten, daß auch Ihren Pferden nichts geschehen ist, außer daß sie einen Schrecken erlitten haben.“

„Es freut mich ... das zu hören ... aber ... wer sind ... Sie?“

„Ich bin die Tochter des Doktors, Rowena Winsford.“

„Doktor... Winsford?“ wiederholte der Marquis, als versuchte er, sich an diesen Namen zu erinnern.

Er sah das Lächeln, das Rowenas Gesicht erhellte.

„Sie haben bestimmt noch nicht von uns gehört”, sagte sie. „Aber Ihr Spezialist, Sir George Seymour, ist von London gekommen, um Sie zu untersuchen. Er sagte, daß Ihnen nichts fehlt, was nicht wieder von selbst heilt. Aber er hat es strikt abgelehnt, Sie von hier fortzubringen.“

Während sie sprach, bemerkte Rowena, daß der Marquis die Augen schloß, als sei er erschöpft.

„Es ist besser, wenn Sie jetzt wieder schlafen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. In einigen Tagen werden Sie kräftig genug sein, nach Hause zu fahren.“

Der Marquis richtete sich mühsam in seinem Bett auf und betrachtete das Tablett, das man ihm hingestellt hatte.

„Ich mag keine Tauben!“ sagte er eigensinnig.

„Ich fürchte, es ist nichts Anderes da“, erwiderte Rowena. „Hühnchen sind sehr teuer, und Rindfleisch hatten Sie erst gestern.“

„Wenn er keine Tauben mag“, ertönte eine Stimme von der Tür her, „dann kann er vielleicht meine Fleischpastete haben. Ich liebe Tauben und Hermoine auch!“

Der Marquis drehte sich zu Lotty um, die er inzwischen gut kannte und die ihn bittend von der Tür her ansah.

Lotty sah ihrer Schwester sehr ähnlich. Während Rowenas Gesicht jedoch zart war und zu ihrer schlanken Figur paßte, war Lottys Gesicht rund und ein wenig zu plump. Der Marquis dachte, daß sie Ähnlichkeit mit einem Botticelli Engel hatte.

Er war jedoch nicht abzulenken.

„Warum ist Hühnchen zu teuer?“ fragte er.

„Weil wir nicht das Geld haben, es zu kaufen, mein Herr“, erwiderte Rowena.

„Wollen Sie damit sagen, daß ich für meinen Aufenthalt nicht bezahle?“

„Bis jetzt waren sie noch nicht in einer gesundheitlichen Verfassung, die es erlaubt hätte, Sie nach Geld zu fragen“, antwortete Rowena.

„Und warum haben Sie nicht meinen Sekretär danach gefragt? Er ist oft genug hier.“

„Daran habe ich noch nicht gedacht“, sagte Rowena freimütig.

„Warum, zum Teufel, hat er es nicht von selbst angeboten?“ fragte der Marquis ungeduldig.

„Er hat einige Früchte gebracht, die wir selbst nicht kaufen können, und den Wein, von dem Papa jedoch nicht möchte, daß Sie ihn trinken, bevor Ihr Kopf besser ist.“

„Ich glaube, der kann sich gar nicht vorstellen, dass Sie sich nicht jeden Luxus leisten können“, sagte der Marquis, als spräche er mit sich selbst. „Wie dem auch sei, ich hatte Geld bei mir.“

„Es liegt hier in dieser Schublade, Mylord.“

„Dann bringen Sie es mir doch bitte her.“

„Ihr Essen wird kalt“, antwortete sie. „Ich schlage vor, daß Sie zuerst einmal essen.“

Der Marquis sah Lotty an.

„Ich glaube, ich ziehe die Fleischpastete vor“, sagte er.

„Ich hole sie Ihnen. Ich hole sie sofort!“ rief Lotty begeistert.

„Nein warte!“ rief Rowena, aber es war schon zu spät. Ihre kleine Schwester war schon fast unten.

„Wenn Sie jetzt anfangen, sich in meine Hausordnung einzumischen und alles durcheinander zu bringen, schicke ich Sie nach Hause, egal was der Doktor sagt“, warnte Rowena den Marquis.