Der Prinz und die Tänzerin

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Der Prinz und die Tänzerin
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Der Prinz und die Tänzerin

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2016

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1.~ 1867

„Seine Hoheit Prinz Iwan Wolkonski!“ meldete ein Diener der Britischen Botschaft.

Lord Marston legte die Feder weg, drehte sich ungläubig um und sprang von seinem Schreibtisch auf.

„Iwan!“ rief er. „Ich hatte keine Ahnung, daß du in Paris bist.“

„Ich bin auch gerade erst angekommen“, entgegnete der Prinz, „und war hocherfreut, als ich hörte, daß du auch hier bist.“

„Der Premierminister hat mich zur Weltausstellung abkommandiert“, erklärte Lord Marston lachend. „Als Strafe für meine Sünden. Jetzt werde ich meine Pflichten natürlich vernachlässigen und wir werden uns zusammen amüsieren.“

„Worauf du dich verlassen kannst“, entgegnete der Prinz und ließ sich in einen bequemen Sessel fallen.

Sein Freund fand, daß er besser und attraktiver aussah denn je. Lord Marston und der Prinz, ein Cousin des Zaren, waren seit der Zeit befreundet, in der Lord Marstons Vater Botschafter in St. Petersburg gewesen war.

Sie waren gleichaltrig und hatten sich in Rußland, Frankreich und England Eskapaden geleistet, die in Gesellschaftskreisen Gesprächsstoff für Monate geliefert hatten.

„Und vor wem hast du diesmal die Flucht ergriffen?“ fragte Lord Marston.

In den Augen des Prinzen saß der Schalk.

„Vor einer gar köstlichen Dame“, antwortete er. „Aber genug ist genug. Als die Zarin dann auch noch vom Zar verlangte, er müsse mich zur Rechenschaft ziehen, fand ich, daß Abwesenheit erst einmal das Beste ist.“

Lord Marston lachte.

„Dachte ich es mir doch! Hier wirst du so manchen alten Flirt wieder treffen und so manche neue Dame kennenlernen, bei deren Schönheit es dir den Atem verschlägt. Die Weltausstellung hat halb Europa nach Paris gelockt, was leider zur Folge hat, daß alles überfüllt ist.“

„Damit habe ich gerechnet“, sagte der Prinz, „aber uns alte Draufgänger soll das nicht weiter stören.“

„Allerdings nicht“, entgegnete Lord Marston.

Der Prinz war nicht nur ein ausnehmend gutaussehender Mann, er war obendrein noch enorm reich und großzügig, alle Türen standen ihm offen.

Und die Frauen beteten ihn an.

Sobald der Prinz jedoch eine Frau so weit hatte, daß sie sich seinem Willen beugte, langweilte ihn die Angelegenheit und er sah sich nach neuen amourösen Abenteuern um.

„Wie ich schon erwähnte“, sagte Lord Marston jetzt, „bin ich in offizieller Mission hier und werde mich daher von dir in keinen Skandal verwickeln lassen.“

„Ich werde mich tadellos benehmen“, versprach der Prinz mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme, aber in seinen schwarzen Augen funkelte es.

„Iwan, ich warne dich!“ rief Lord Marston. „Du hast mich schon in die größten Schwierigkeiten gebracht.“

„Wofür du mir dankbar sein solltest“, sagte der Prinz gelassen. „Wenn ich nicht manchmal für Abwechslung gesorgt hätte, wärst du längst ein steifer, verknöcherter Engländer ... Und was gibt es Neues in Paris?“

„Eine ganze Menge“, antwortete Lord Marston. „Willst du die Weltausstellung sehen?“

„Um Gottes willen, bloß nicht! Wie ist es überhaupt dazu gekommen?“

„Sie ist in erster Linie ein politischer Schachzug“, antwortete Lord Marston. „Nach dem Sieg der Preußen über Österreich im letzten Jahr haben es die Franzosen mit der Angst zu tun bekommen.“

„Was hat das denn mit der Ausstellung zu tun?“

„Daß die französische Armee nicht in der Lage wäre, gegen Preußen anzutreten. Napoleon der Dritte hat daher beschlossen, die Bevölkerung von Paris mit Jubiläumsfeiern und höfischem Pomp bei Laune zu halten.“

Prinz Iwan lachte.

„Ein jämmerlicher Schachzug“, sagte er.

„Allerdings“, stimmte sein Freund zu.

„Ich werde sowohl die Ausstellung wie den französischen Hof ignorieren“, erklärte der Prinz. „Was kannst du mir sonst bieten?“

„Die Halbwelt.“

Der Prinz zog die Augenbrauen in die Höhe.

„Meinst du damit die Kurtisanen und Kokotten?“

„Genau die meine ich“, antwortete Lord Marston.

„Keine schlechte Idee“, sagte der Prinz. „Übrigens, da fällt mir die Paiwa ein. Ist sie immer noch von oben bis unten mit Juwelen behängt?“

„Natürlich“, antwortete Lord Marston.

La Paiwa, die Edelsteine und Perlen im Wert von mindestens zwei Millionen Francs auf ihrem schönen Körper zu tragen pflegte, galt als die Halbweltdame des Jahrhunderts. In einer Epoche von Emporkömmlingen war sie die unmoralischste von allen. Angeblich besaß sie kein Herz, aber Lord Marston wußte, daß die Frau, die mit Geschenken überschüttet wurde, eine Schwäche für den Prinzen hatte.

„Und die Castiglione?“ fragte dieser.

„Die Comtesse ist nach wie vor die Mätresse des Kaisers. Und deine Freundin Madame Mustard hat übrigens ein enormes Vermögen vom König der Niederlande bekommen. Er soll ganz verrückt nach ihr sein.“

„Kann ich verstehen“, sagte der Prinz. „Sie ist ja auch bildhübsch.“

„Im Bois und ihren üblichen Lieblingslokalen triffst du sie samt und sonders. Nichts hat sich geändert. Sie bringen ihre Anbeter innerhalb von wenigen Wochen um deren gesamtes Vermögen und lassen sie dann wie ausgequetschte Zitronen fallen.“

„Immer, wenn ich nach Paris komme, denke ich, daß sich etwas geändert haben muß“, sagte der Prinz, „und jedes Mal muß ich feststellen, daß es absolut nicht der Fall ist.“

„Paris ist und bleibt Paris, Iwan“, meinte Lord Marston lachend. „Daran kannst selbst du nichts ändern.“

„Will ich doch gar nicht“, versicherte der Prinz, aber er klang nicht ganz überzeugend.

Sein Freund sah ihn an.

„Was suchst du eigentlich, Iwan?“ fragte er. „Seit ich dich kenne, scheinst du nach etwas auf der Suche zu sein.“

„Du wirst doch nicht wie meine geliebte Mutter werden, Hugo?“ entgegnete der Prinz. „Auf dem Sterbebett sagte sie mir noch, daß es meine Rettung wäre, wenn ich mich in eine ,anständige Frau’ verlieben würde.“

„Hat sie das wirklich gesagt?“

„Nicht einmal, sondern tausendmal. Sie war von der Idee besessen, daß ich mich verheiraten und eine große Familie gründen sollte. Ich bin im Grunde nicht prinzipiell abgeneigt, ich habe bloß Angst...“

Der Prinz brach ab.

„Daß du dich zu Tode langweilst?“ fragte Lord Marston.

„Mit den Frauen, die ich bisher gekannt habe, ist es mir leider immer so gegangen“, berichtete der Prinz, stand auf und ging hin und her. „Ich weiß sehr wohl, Hugo, daß ich heiraten und Söhne zeugen sollte, aber ich habe das Gefühl, daß ich weder idealistisch noch romantisch veranlagt bin.“

„Da täuschst du dich, Iwan“, sagte Lord Marston. „Du bist beides und warst es schon immer. Erinnerst du dich noch daran, wie wir gemeinsame Pläne für unser Leben geschmiedet haben? Damals, das weiß ich noch genau, hast du dich als ein Mensch gesehen, der in einer idealistischen Welt lebt und dessen Aufgabe es ist, andere glücklich zu machen.“

„Vielleicht hast du recht, Hugo“, meinte der Prinz nachdenklich. „Es stimmt, ich sehne mich nach etwas, mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Seele sehne ich mich danach, aber ich weiß nicht, was es ist.“

Lord Marston sah ihn verständnisvoll an. Er kannte den Prinzen, liebte ihn wie einen Bruder und wußte, daß er in seinem tiefsten Innern ein durch und durch guter Mensch war.

Seine Untergebenen hatte er von eh und je mit Höflichkeit und Takt behandelt, und von den Frauen, mit denen er zusammengekommen war, konnte nicht eine behaupten, er habe sie ausgenutzt. Im Gegenteil, alle waren reich beschenkt worden und sahen ihre Zukunft gesichert.

Aber ob sie nun der Welt des Adels oder der Halbwelt angehörten, keine Frau hatte bisher den Prinzen für längere Zeit fesseln können. Ihrer schnell überdrüssig, war er jeweils ausgezogen, um nach neuen Verbindungen zu suchen.

„Hugo“, sagte er jetzt, „ich bin nicht zum Philosophieren nach Paris gekommen. Wie wär’s, wenn du mir einen Drink anbieten würdest?“

„Verzeih“, bat Lord Marston. „Ich war so erstaunt, dich plötzlich vor mir stehen zu sehen, daß ich das völlig vergessen habe.“

Er stand auf und läutete.

Es dauerte nicht lange, dann wurde von livrierten Dienern Champagner und Kaviar gebracht.

„Dir scheint es hier in der Botschaft nicht schlecht zu gehen, Hugo“, sagte der Prinz und nippte an seinem Champagner. „Wenn du allerdings lieber bei mir wohnst, bist du herzlichst willkommen.“

„Ich würde dein Angebot liebend gern annehmen, Iwan, aber ich möchte den Botschafter und seine Frau nicht vor den Kopf stoßen. Sie waren reizend zu mir.“

Graf Cowley war seit über fünfzehn Jahren Britischer Botschafter in Paris. Er war ein diplomatischer und äußerst vorsichtiger Mann, es war jedoch im Grunde seine Frau, die England besser repräsentierte als sonst jemand.

Sie war eine erfahrene Gastgeberin, bei den Franzosen sehr beliebt und besaß Humor.

„Wenn du allerdings vorhast“, fuhr Lord Marston fort, „dich skandalös zu benehmen, dann sollte ich vielleicht doch lieber in dein Haus übersiedeln.“

„Ja, komm doch an die Champs-Élysées“, sagte der Prinz. „Ich beabsichtige übrigens, so manches Fest zu geben.“

Lord Marston warf einen flehentlichen Blick zur Decke.

„Iwan!“ stöhnte er. „Ich kenne deine Feste nur zu gut. Willst du meinen guten Ruf ruinieren?“

 

„Unsinn!“ rief der Prinz. „Ich werde lediglich dafür sorgen, daß etwas Leben in die Bude kommt.“

Das, dachte Lord Marston, dürfte leicht untertrieben sein.

Die Feste des Prinzen hatten von eh und je Aufsehen erregt und waren das Tagesthema sowohl bei Hof wie auch in sämtlichen Cafés gewesen.

Die beiden Freunde unterhielten sich angeregt, als die Tür aufging und der Britische Botschafter hereinkam. Lord Marston und der Prinz standen auf.

„Hoheit!“ rief der Graf und hielt dem Prinzen die Hand entgegen. „Wie erfreulich, daß Sie hier sind. Sie haben uns schon so lange nicht mehr besucht.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Exzellenz“, entgegnete Prinz Iwan. „Da ich allein nach Paris gekommen bin, hoffe ich, daß Sie Verständnis dafür haben werden, wenn ich Ihnen Ihren Gast wegnehme.“

Der Graf sah Lord Marston an und lächelte.

„Ich glaube, er hat unseren Premierminister mit so vielen Berichten überhäuft, daß dessen Papierkorb überquillt. Nun ist es an der Zeit, daß er sich auch ein wenig amüsiert.“

„Vielen Dank, Mylord“, sagte Lord Marston.

Die offene Chaise des Prinzen wartete auf dem Hof der Botschaft.

Nachdem Lord Marstons Kammerdiener angewiesen war, die Sachen seines Herrn zu packen und ihm in das Haus des Prinzen zu folgen, fuhren die beiden Freunde zusammen weg.

„Und was passiert heute abend?“ fragte der Prinz.

„Ich zeige dir etwas Neues“, antwortete Lord Marston. „Ich bin sicher, daß es dich interessiert.“

„Worum handelt es sich?“

„Das sage ich dir nicht, weil es eine Überraschung werden soll.“

„Meinetwegen“, sagte der Prinz. „Aber vorher dinieren wir in aller Ruhe, einverstanden?“

„Natürlich. Willst du bei Vefour oder bei Magny essen?“

„Bei Vefour“, antwortete der Prinz. „Ich will gut speisen und mir nicht die Berühmtheiten ansehen, die sich bei Magny treffen.“

Lord Marston lächelte.

„Gut“, sagte er. „Wetten, du bestellst wieder die Spezialität des Hauses?“

„Karpfen in Wurzelsud?“ fragte der Prinz. „Allerdings. Ich freue mich jetzt schon darauf.“

Auch Lord Marston freute sich. Über einen Monat lang hatte er bei Empfängen den perfekten Diplomaten gespielt, und diese Abwechslung kam ihm gerade recht.

Die beiden Freunde wurden im Vefour mit großen Freuden empfangen. Das Restaurant befand sich im Palais Royal, welches der Duc d’Orleans während der Regierung Ludwigs XVI. in eine Stätte des Amüsements und des Glücksspiels verwandelt und dabei ein Vermögen verdient hatte.

Die Inneneinrichtung des Vefour war noch genauso, wie gleich nach der Revolution.

Mit seinen roten Plüschsofas und den vielen Spiegeln war es gemütlich und intim und genau das richtige Restaurant für jemanden, der das Essen genießen wollte.

Der Maître d’Hôtel nahm die Bestellung auf und schien fast etwas enttäuscht zu sein, daß der Prinz von chinesischen Vogelnestern, Rheinsalm, Flußkrebsen und Trüffeln nichts wissen, sondern Schnecken haben wollte.

Während sie auf das Essen warteten, lehnten sich die Freunde bequem zurück, tranken Champagner und unterhielten sich.

Wie so oft, wenn sie allein waren, sprachen sie über Themen, die viele ihrer Bekannten erstaunt haben würden: Philosophie, Literatur, Politik. Beide waren sehr belesen und diskussionsgewandt.

Als sie gegessen hatten, änderte sich die Laune des Prinzen mit einer Schlagartigkeit, die typisch für ihn war.

„So, Hugo“, sagte er. „Schluß mit dem ernsten Gespräch. Wo führst du mich jetzt hin?“

„Du wirst es nicht für möglich halten“, entgegnete Lord Marston. „Zu Aschenputtel.“

„Aschenputtel?“ wiederholte der Prinz, der seinen Ohren nicht traute.

„Ja. Im Theâtre Imperial du Châtelet.“

„Meinst du nicht, ich bin etwas zu alt für ein Märchen?“

„Nicht für dieses, Iwan.“

„Ich warne dich. Wenn ich mich langweile, gehe ich.“

„Du kannst die Höhe der Wette bestimmen, daß es nicht der Fall sein wird.“

„Also, meinetwegen. “

Sie verließen das Restaurant und gingen zur Kutsche des Prinzen. Die Aprilluft war warm und mild.

Sie fuhren über die Boulevards mit den hellerleuchteten Cafés zu beiden Seiten. Auf den breiten Gehsteigen flanierten Menschen im goldenen Schein der Gaslaternen.

Obwohl die Vorstellung schon vor einer knappen Stunde begonnen hatte, stand immer noch eine beachtliche Schlange vor der Kasse des Theaters.

„Ist Paris in seine Kindheit zurückgefallen?“ fragte der Prinz spöttisch.

„Es handelt sich hier um kein gewöhnliches Märchen“, berichtete Lord Marston. „Das Stück hat fünf Akte und dreißig Szenen.“

„Oh Gott!“ stöhnte der Prinz.

„Aufwendige Inszenierungen sind typisch für das zeitgenössische Theater“, sagte Lord Marston in leicht schulmeisterlichem Ton. „Du wirst erstaunt sein, was du alles zu sehen bekommst: die Grüne Grotte, den Feuerberg, den Silbersee, den Palast der Glühwürmchen und goldene Wolken, nur um ein paar Beispiele zu nennen.“

Sie kamen gerade in die erste Pause hinein. Menschen strömten in das Foyer, die Herren versuchten, einen Drink zu ergattern, das Stimmengewirr war ohrenbetäubend.

Lord Marston hatte die Proszeniumsloge gemietet. Als sie Platz nahmen, richteten junge Männer mit tief geschnittenen Frackschößen und Gardenien in den Knopflöchern die Operngläser auf sie.

Damen nickten lächelnd und winkten mit schmalen, blassen Händen. Der Prinz verbeugte sich nach allen Seiten.

„Morgen wird es Einladungen regnen“, bemerkte Lord Marston trocken.

Der Prinz ließ den Blick durch das Rund des Theaters schweifen.

„Du kannst Gift darauf nehmen, Hugo“, sagte er, „daß ich sehr wählerisch sein werde.“

Es klingelte, die Pause war zu Ende und das Publikum kehrte zu seinen Sitzen zurück. Das Stimmengewirr verstummte allmählich und der rote Samtvorhang ging auf.

Das Bühnenbild zeigte den Feuerberg. Zwerge liefen geschäftig auf rotglühenden Felsen hin und her. Am Fuße des Berges lag der Silbersee, dessen Wellen immer höher wurden. In seinen kühlen Wogen schwammen nackte Nymphen.

Das Bild war so phantastisch, daß das Publikum in Begeisterungsstürme ausbrach. Sogar der Prinz war zutiefst beeindruckt.

Nach einem Chor der Zwerge und einer Arie des schönen Prinzen war die Bühne plötzlich in Finsternis getaucht und zwei Spaßmacher traten auf, deren derbe Witze das Publikum zu Lachsalven veranlaßte.

Das Interesse des Prinzen begann zu schwinden. Er betrachtete sich die Herrschaften in den Logen.

Die Spaßmacher verschwanden leise, sanfte Töne erklangen aus dem Orchester.

„Deshalb habe ich dich hierhergeführt“, flüsterte Lord Marston.

Der Prinz sah wieder zur Bühne. Der Vorhang ging langsam auf, der Feuerberg und der Silbersee waren verschwunden. Nur noch dunkle Tücher hingen vom Schnürboden, Tücher, die in Schatten überzugehen schienen.

Und dann tauchte eine Tänzerin auf.

So eine Ballerina hatte der Prinz in seinem Leben noch nicht gesehen. An das strenge russische Ballett mit den stark geschminkten Tänzerinnen gewöhnt, glaubte er, plötzlich in eine andere Welt versetzt zu sein.

Das Mädchen auf der Bühne trug ein weißes Seidengewand, das an eine griechische Toga erinnerte. Sein Haar war schlicht aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zusammengebunden. Es war nicht geschminkt. Seine bloßen Füße steckten nicht etwa in Ballettschuhen, sondern in flachen Sandalen.

Das Mädchen stand einen Moment reglos auf der Bühne, dann begann es zu tanzen.

Es war Tanz und gleichzeitig Pantomime, die eine Geschichte erzählte, die so einfach und so fabelhaft nachvollzogen war, daß jeder sie verstehen mußte.

Ein glückliches, sorgloses Kind, das Blumen, Schmetterlinge und Vögel liebte, die man förmlich vor Augen hatte, wenn sie die schlanken Arme danach ausstreckte. Jede Bewegung, jede Geste war so zart, so verhalten und anmutig, daß es dem Publikum den Atem verschlug und kein Laut zu hören war.

Das Mädchen verkörperte die Freude, das Jungsein, die Unschuld. Es war die Schönheit schlechthin und schien das Glück in den Armen zu halten.

Der Vorhang fiel und einen Moment lang war es noch totenstill. Und dann brach donnernder Applaus los.

„Sie ist großartig!“ rief der Prinz. „Wer ist sie?“

„Sie heißt Lokita“, antwortete Lord Marston.

Als das Orchester wieder einsetzte - diesmal mit schweren, trauervollen Tönen - und sich der Vorhang erneut hob, verstummte alles.

Wieder stand Lokita auf der Bühne, diesmal in einen schwarzen Umhang gehüllt. Sie hielt einen Blumenkranz in der Hand.

Noch bewegte sie sich nicht, aber in ihrer Pose lag etwas, was jedem Zuschauer das Herz schwer machte.

Schließlich kam sie nach vorn, legte den Kranz auf das Grab eines Menschen, den sie geliebt hatte, und senkte den Kopf. Was sie verloren hatte, war unersetzlich. Ein Teil ihrer selbst war dahingegangen und sie schien an der Welt, in der sie lebte, nicht mehr teilzuhaben.

Das Mädchen weinte, und die Damen im Publikum weinten mit ihr. Die Verzweiflung zog Lokita zu Boden. Sie sank neben dem Grab nieder, als wolle auch sie sterben.

Doch plötzlich ertönte eine Flöte, eine hoffnungsvolle Melodie löste sich aus dem unheilvollen Klangkörper, Lokita hob den Kopf, wandte das tränenüberströmte Gesicht dem Publikum zu und stand so langsam auf, daß es fast schmerzte, ihr zuzusehen.

Das Wissen darum, daß Leben stärker war als Tod, erfüllte alle.

Die Bühne war plötzlich in helles Licht getaucht, und Lokita streifte den schwarzen Umhang von den Schultern und tanzte, wie sie vorher getanzt hatte. Der Glaube an das Leben hatte allen Kummer und Schmerz vertrieben, die Sonne war wieder eingekehrt in das Herz des Mädchens.

Wieder fiel der Vorhang, wieder raste das Publikum.

„Unglaublich!“ rieb der Prinz, fiel in das Klatschen ein und wartete sehnsüchtig darauf, daß Lokita sich noch einmal zeigen würde.

„Da wartest du vergebens“, sagte Lord Marston, als er bemerkte, daß der Prinz keinen Blick von dem Samtvorhang ließ.

Prinz Iwan sah ihn erstaunt an.

„Wieso?“ fragte er. „Kommt sie nicht heraus?“

„Nein, nie“, antwortete Lord Marston. „Das Publikum kann noch so toben.“

Der Prinz war verwundert. Noch nie hatte er von einer Schauspielerin, Sängerin oder Tänzerin gehört, welche die Ovationen des Publikums nicht genossen hätte.

Als sich der Vorhang wieder öffnete und ein farbenprächtiges, phantasievolles Bühnenbild zeigte, beugte sich der Prinz zu Lord Marston.

„Ich muß sie sehen“, sagte er. „Komm, gehen wir hinter die Bühne.“

„Das ist sinnlos. Sie empfängt keinen.“

„Unsinn!“ entgegnete der Prinz. „Mich wird sie empfangen. Ruf einen Lakaien.“

Lord Marston machte die Logentür einen Spalt auf und winkte, während der Prinz ein paar Worte auf eine Visitenkarte schrieb.

Er gab einem Lakaien die Karte.

„Bringen Sie diese Nachricht zu Mademoiselle Lokita“, bat er leise, „und warten Sie bitte auf Antwort.“

Er drückte dem Mann einen Louis in die Hand, doch dieser schüttelte den Kopf.

„C’est impossible, Monsieur.“

„Nichts ist unmöglich“, sagte der Prinz. „Ich möchte, daß die Mademoiselle mit mir soupiert.“

„Tut mir leid, Monsieur le Prince, aber Mademoiselle Lokita soupiert mit niemandem.“ Er warf einen Blick auf die Bühne. „Außerdem hat sie inzwischen das Theater schon verlassen.“

„Wie bitte?“ fragte der Prinz gereizt. „Tritt sie im Schlußbild denn nicht mehr auf?“

„Nein, Monsieur. Mademoiselle Lokita spricht mit niemandem und geht sofort nach ihrem Auftritt.“ w

Der Prinz entließ den Mann.

„Stimmt das, was er gesagt hat?“ fragte er Lord Marston.

„Offensichtlich“, antwortete Lord Marston. „Lokita ist im Moment die Sensation. Alle Zeitungen haben über sie geschrieben, aber sie weigert sich, Interviews zu geben und läßt sich in der Öffentlichkeit nirgends sehen.“

„Sie ist phantastisch. Einmalig! Ich habe mir immer eingebildet, ein Experte zu sein, aber so etwas an Talent habe ich noch nie gesehen.“

„Ich wußte, daß du begeistert sein wirst“, sagte Lord Marston. „Der Rest des Stücks ist nicht mehr sonderlich aufregend. Sollen wir gehen?“

„Nein“, sagte der Prinz. „Ich will erst einmal hinter die Bühne. Ich muß herausbekommen, ob das alles stimmt.“

„Bitte“, sagte Lord Marston. „Aber es ist Zeitverschwendung und verlorene Liebesmühe.“

 

Der Prinz wollte nicht auf Lord Marston hören. Er kannte sich hinter den Bühnen aller großen Theater Europas aus und hatte den Bühnenmeister schnell gefunden und mit ein paar Louis in beste Laune versetzt.

„Meinetwegen können Sie in die Garderobe von Mademoiselle Lokita gehen, Monsieur“, sagte dieser. „Aber antreffen werden Sie Mademoiselle nicht.“

„Wo ist sie denn?“ fragte der Prinz.

„Bereits gegangen. Sie geht immer sofort nach ihrem Auftritt.“

„Wieso?“

Der Bühnenmeister zuckte mit den Schultern.

„Das weiß ich auch nicht. Mademoiselle vertraut sich mir nicht an.“

„Wird sie denn von jemand abgeholt?“

„Nein, Monsieur. Mademoiselle ist immer in Begleitung von Madame.“

„Wie heißt diese Madame?“

Der Mann überlegte.

„Anderson“ sagte er schließlich.

„Das ist doch ein englischer Name!“ rief der Prinz. „Was meinst du, Hugo?“

„Klingt zumindest englisch“, sagte Lord Marston.

Der Prinz wandte sich wieder an den Bühnenmeister.

„Folgendes“, sagte er. „Ich wünsche Mademoiselle Lokita zu treffen. Wenn ich Ihnen jetzt eine Nachricht hinterlasse, werden Sie dann dafür sorgen, daß sie morgen die Nachricht erhält?“

Wieder zuckte der Mann mit den Schultern.

„Ich kann sie Madame Anderson geben“, sagte er mit zweifelndem Gesicht.

„Die Nachricht ist für Mademoiselle Lokita, nicht für Madame Anderson.“

„Schon“, sagte der Bühnenmeister, „aber Madame Anderson kümmert sich um alles. Die kleine Mademoiselle spricht mit niemandem. Sie kommt, verschwindet in ihrer Garderobe, tritt auf und verläßt das Theater wieder, ohne je ein Wort zu sprechen.“

„Das glaube ich nicht“, sagte der Prinz, als er mit Lord Marston durch das nächtliche Paris fuhr.

„Wie oft ich das schon gehört habe“, sagte Lord Marston. „Aber es scheint nun einmal so zu sein.“

„Ich muß sie sehen!“

„Das wird dir wohl kaum gelingen, aber versuchen kannst du es ja. Du gibst also zu, daß sie einmalig ist?“

„Natürlich ist sie einmalig. Einmalig und sensationell - aber, was nützt mir das?“

Lord Marston lachte.

„Du bist ganz schön durcheinander, mein Freund.“

„Bin ich auch“, gestand der Prinz. „Aber eines schwöre ich dir, Hugo, niemand wird mich davon abhalten können, Mademoiselle Lokita kennenzulernen.“

„Abhalten vielleicht niemand“, sagte Lord Marston lachend, „ich frage mich bloß, ob du Erfolg hast.“

„Was wetten wir?“ fragte der Prinz.

Lord Marston überlegte.

„Um Geld wette ich mit dir nicht, Iwan“, sagte er schließlich. „So einfach will ich es dir nicht machen. Ich besitze ein neues Jagdpferd, einen Grauschimmel, den ich für exzellent halte.“

„Und?“ fragte der Prinz lächelnd.

„Den wette ich. Er heißt Kingfisher, und ich setze ihn gegen deinen besten Wallach.“

„Angenommen“, sagte der Prinz. „Wenn wir morgen früh ausreiten, kannst du dir Suleiman anschauen. Er ist das schnellste Pferd unter der Sonne und hat mich ein Vermögen gekostet - was mit ein Grund ist, warum ich ihn behalten will.“

Der Prinz legte nachdenklich den Kopf zur Seite.

„Diese Madame Anderson mag Engländerin sein, aber Lokita ist bestimmt keine Engländerin, da verwette ich meinen Kopf.“

„Nicht nötig, ich bin deiner Meinung“, sagte Lord Marston. „Allerdings - sie ist blond.“

„Aber ihre Augen sind dunkel. Wo sie nur diese Art zu tanzen gelernt hat?“

„Du stellst dieselbe Frage, die alle Zeitungen beschäftigt hat. Man hat die tollsten Recherchen angestellt, aber nicht einmal der gerissenste Reporter hat etwas herausbekommen. Niemand weiß, wo das Mädchen herkommt, wo es wohnt, welche Sprache es spricht - nichts weiß man über Lokita. Absolut gar nichts.“

„Es ist unglaublich“, meinte der Prinz. „Man sollte es nicht für möglich halten.“

„Eben“, sagte Lord Marston. „Ich habe Lokita nun schon viermal tanzen gesehen und jedes Mal war ich von neuem erstaunt, daß es in dieser überzüchteten, hochgestochenen Stadt noch ein Wesen von einer solchen Reinheit gibt, daß man ihm nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen zusieht.“

„Genau das habe ich auch empfunden“, sagte der Prinz. „Und sogar noch mehr, Hugo. Dieses Mädchen hat meine Seele angesprochen, und das ist etwas, was mir noch nie passiert ist.“

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