Die Braut des Rebellen

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Die Braut des Rebellen
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Die Braut des Rebellen

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2016

Copyright Cartland Promotions 1981

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1873

Ich bin da, dachte Theola, ich bin wirklich da!

Am liebsten hätte sie es laut hinausgeschrien. Auch als sie England schon verlassen hatten, hatte sie es immer noch nicht glauben können. Und, daß sie jetzt tatsächlich in Kawonien waren - es kam ihr wie ein Wunder vor.

Sie waren in Marseille an Bord des Schiffes gegangen, das eben angelegt hatte. Am Kai ein großes Aufgebot von Würdenträgern. Der Empfang, den man Catherine bereitete, war beeindruckend.

Daß sie nicht aus verwandtschaftlicher Liebe aufgefordert worden war, ihren Onkel, den Herzog von Wellesbourne, und ihre Cousine, Lady Catherine Bourne, auf dieser Reise zu begleiten, war Theola nur zu bewußt. Der Herzog hatte einfach niemand anderen gefunden, der als Hofdame für Catherine, die Königin von Kawonien werden sollte, in Frage kam.

Die Eltern von Catherines Internatsfreundinnen hatten kategorisch abgelehnt. Sie waren nicht bereit, bei den derzeitigen Unruhen in Europa ihre Töchter in ein so entferntes Land reisen zu lassen.

„Verängstigte Narren!“ hatte der Herzog eines Morgens beim Frühstück gesagt und einen Antwortbrief nach dem anderen zerrissen.

„Man kann wirklich nur hoffen, daß wenigstens dort Ruhe herrscht“, hatte die Herzogin erwidert.

„Was denn sonst?“ Der Herzog war von Tag zu Tag ungeduldiger geworden. „Wie du sehr gut weißt, Adelaide, ist Kawonien seit Jahren unabhängig. Seit König George in Griechenland Ordnung und Frieden geschaffen hat, besteht nicht mehr der geringste Grund, sich wegen Ferdinands Souveränität Sorgen zu machen. Schließlich regiert er das Land nun schon seit zwölf Jahren, und in der ganzen Zeit hat es nicht den geringsten Zwischenfall gegeben.“

„Gott sei Dank nicht!“ Ein Stoßseufzer der Herzogin zur Decke. „Wir müssen uns jetzt aber wirklich um eine Hofdame für Catherine kümmern. Und ich finde, es sollte schon eine junge Dame sein, die absolut standesgemäß ist.“

Die schmalen Lippen des Herzogs waren noch schmaler geworden. Wenn er etwas nicht ertragen konnte, dann Ablehnung und Widerrede. Er war ein willensstarker Mann, der zu Jähzorn und Grausamkeit neigte.

„Was hältst du denn von Lord Pierrepoints Tochter?“ hatte die Herzogin gefragt. „Ich finde sie zwar reichlich anmaßend in ihrer Art und recht freizügig soll sie auch sein, heißt es, aber die Pierrepoints halten es sicher für eine große Ehre, wenn ihre Tochter Catherine begleiten darf.“

„Ich kann auf weitere Absagen verzichten“, hatte der Herzog aufbrausend entgegnet. „Theola wird Catherine begleiten, und damit ist der Fall erledigt.“

„Theola?“ hatte die Herzogin mit schriller Stimme gerufen.„Theola?“

Catherine hatte verständnislos den Kopf geschüttelt. „Aber Papa …“

„Keine Widerrede!“ Der Herzog war aufgestanden. „Theola wird mit uns nach Kawonien reisen und dort bleiben, bis wir jemanden gefunden haben, der sich besser eignet.“

Theola hatte es nicht fassen können und war an dem Abend erst sehr spät eingeschlafen. Nachdem sie ihr Nachtgebet gesprochen hatte, hatte sie sich - wie so oft - in Gedanken mit ihren Eltern unterhalten. Sie hatte von der bevorstehenden Reise erzählt und das Gefühl gehabt, von ihrer Mutter vor Freude in den Arm genommen zu werden.

Seit ihre Eltern tot waren und sie bei ihrem Onkel und ihrer Tante in dem kalten freudlosen Schloß in der Grafschaft Wiltshire lebte, hatte es unzählige Momente dieser Art gegeben.

Der Herzog war einer der reichsten Männer Englands, aber gleichzeitig auch einer der gemeinsten. Und die Herzogin, eine geborene Fürstin von Holtz-Melderstein, war eine geizige, humorlose, spröde Frau.

Fast täglich träumte Theola von der Gemütlichkeit, die in dem einfachen Häuschen ihrer Eltern geherrscht hatte. Und nachts, wenn die Kälte der hohen, ungeheizten Räume schier unerträglich war, wünschte sie sich oft, mit ihren Eltern umgekommen zu sein. Manchmal glaubte sie, die Erniedrigungen nicht mehr ertragen zu können und sich wie ein Tier verkriechen zu müssen.

Daß seine einzige Schwester, Theolas Mutter, mit dem Hauslehrer weggelaufen war, hatte der Herzog nie vergessen, geschweige denn verzeihen können.

Richard Waring war damals ein hochintelligenter junger Mann von neunundzwanzig Jahren gewesen, der schon so manches Aristokratensöhnchen durch die Examina geboxt hatte. Blendend aussehend, gebildet und aus gutem Haus, das alles hatte für den alten Herzog nichts gegolten. Für ihn war der Hauslehrer ein Angestellter gewesen.

Dieselbe Einstellung hatte sein Sohn Septimus vertreten. Wie sein Vater war er außer sich, als herauskam, daß sich Richard Waring unsterblich in seine einzige Schwester, Lady Elizabeth Bourne, verliebt hatte.

Richard Waring hatte - wie es sich gehörte - beim Herzog um die Hand Elizabeths angehalten und war im wahrsten Sinn des Wortes hinausgeworfen worden.

Daß Elizabeth daraufhin das Haus der Eltern verlassen hatte und dem jungen Mann gefolgt war, hatte wie eine Bombe eingeschlagen. Alles hatte man für möglich gehalten, nur das nicht.

Jahrelang war Elizabeths Name nicht erwähnt worden.

Nach Theolas Geburt hatte Elizabeth an ihre Eltern geschrieben und ihnen das freudige Ereignis mitgeteilt. Der Brief war ungeöffnet zurückgekommen.

Erst nachdem er die Todesnachricht erhalten hatte - Elizabeth und Richard Waring waren bei einem Zugunglück ums Leben gekommen - war Septimus, der inzwischen das Herzogtum geerbt hatte, zu dem Häuschen außerhalb von Oxford gekommen, um Theola mitzuteilen, daß sie ab jetzt bei ihm wohnen würde.

Septimus hatte mit einundzwanzig geheiratet und hatte eine Tochter, Catherine, die ein Jahr älter war als Theola.

„Glaube bloß nicht, daß es mir Freude macht, dich bei mir aufzunehmen“, hatte er gesagt. „Das Benehmen deines Vaters war skandalös. Ich werde ihm und deiner Mutter nie verzeihen, daß sie solche Schande über die Familie gebracht haben.“

„Schande?“ hatte Theola gefragt. „Was haben sie denn getan? Sie haben sich geliebt und geheiratet, weiter nichts.“

„Wenn unser Blut mit dem eines ganz gewöhnlichen Parvenü vermischt wird, dann ist das sehr wohl eine Schande! Als Hauslehrer seinen Lebensunterhalt verdienen! So jemand kann ja nur aus der Gosse kommen.“

„Das stimmt nicht“, hatte Theola gesagt. „Die Eltern von Papa waren brave Leute. Jeder in Bedfordshire hatte sie gern. Und Papa war sehr klug und ...“

Weiter war sie nicht gekommen, denn ihr Onkel hatte sie mit dem Handrücken mitten ins Gesicht geschlagen.

„Du wagst es, mir zu widersprechen?“ hatte er gebrüllt. „Das wollen wir einmal gleich am Anfang unserer Bekanntschaft klarstellen. Ich kann dich nicht verhungern lassen, weil du meine Nichte bist. Ich nehme dich also in meiner Familie auf. Aber du wirst mir gehorchen und sprichst weder in meinem Beisein noch vor anderen von deinen Eltern. Ist das klar?“

Theolas Gesicht hatte gebrannt wie Feuer. Sie hatte den Onkel mehr entsetzt als verängstigt angesehen. Sie war noch nie in ihrem Leben geschlagen worden. Aber in den folgenden Monaten sollte sie erfahren, daß ihr Onkel bei jeder Gelegenheit zuschlug. Die ständige Erniedrigung schmerzte Theola wie eine Wunde, die nicht heilen wollte. Daß es Menschen wie ihren Onkel und ihre Tante gab, hatte das junge Mädchen bis dahin nicht gewußt. Auch nicht, was es hieß, mit Haß leben zu müssen.

Sie war immer von Liebe umgeben gewesen. Die Liebe, die ihr Vater und ihre Mutter füreinander empfanden, hatte auch sie stets wie ein wärmender, schützender Mantel eingehüllt und ihr das Gefühl gegeben, daß sie etwas sehr Kostbares war.

Nach ein paar Monaten der Qual war Theola wie ein kleiner grauer Geist durch das Schloß gehuscht und hatte es möglichst vermieden, jemandem zu begegnen.

Sie hatte versucht, sich mit ihrer Cousine Catherine zu befreunden, hatte aber feststellen müssen, daß das nicht möglich war. Catherine hatte die Unnahbarkeit ihres Vaters geerbt und interessierte sich genau wie ihre Mutter nur für die eigene Person. Sie sah in Theola einen Dienstboten, der nach ihrer Pfeife zu tanzen hatte und hielt das junge Mädchen von früh bis spät auf Trab.

Theola wusch und bügelte Catherines Kleider und mußte sich pausenlos die Lobhudeleien der Cousine über die eigene Person anhören.

„Ich denke oft, daß ich griechische Züge habe“, hatte Catherine einmal gesagt. „Ich sehe den viel bewunderten Plastiken der griechischen Götter ähnlich.“

Theola hatte sich nur mit Mühe eine Entgegnung verkneifen können. Catherine hatte mit dem besten Willen keine griechischen Züge. Sie war blond und hatte blaue Augen, und es hieß, sie sei hübsch, aber in dem Ruf stand sie, weil sie zur Gesellschaft gehörte, elegant gekleidet war und mit arrogantem Stolz auftrat.

Theola wußte mehr über Griechenland als sonst über ein Land dieser Erde. Ihr Vater war ein fanatischer Verehrer des klassischen Altertums gewesen und hatte Theola von klein auf mit den Sagen und der hochstehenden Zivilisation der Griechen vertraut gemacht. Auch hatte er schon früh damit angefangen, ihr Sprachunterricht in Französisch, Deutsch, Latein und Griechisch zu geben, und Theola las mühelos die Klassiker der jeweiligen Länder.

Daß eine so hochgestellte Persönlichkeit wie der Herzog von Wellesbourne noch nie in seinem Leben ein Buch gelesen hatte, war und blieb ihr unbegreiflich.

Manchmal, wenn sie am Abend todmüde und mit schmerzenden Gliedern ins Bett fiel, sehnte sie sich danach, einmal wieder mit einem Menschen wirklich reden zu können. Der geistige Austausch in einem Gespräch fehlte ihr so sehr, daß sie Angst hatte, ihr Geist und ihre Seele könnten verkümmern.

 

Und Zeit zum Lesen fand sie kaum. Dazu kam, daß in den Schlafgemächern des Schlosses kein elektrisches Licht war. Man behalf sich mit Kerzen, und bei Theola und dem Personal wurde sogar an diesen gespart. Am Abend zu lesen, war also unmöglich, und während des Tages hatte Theola keine Zeit.

Und, oh Wunder, nach einem Jahr voll Trübsal und Stumpfheit, war sie jetzt hier in Kawonien!

Mit Hilfe ihrer Holtz-Meldersteinschen Verwandtschaft hatte die Herzogin die Heirat ihrer Tochter Catherine mit einem Cousin, dem König Ferdinand von Kawonien, arrangiert.

Dem Muster Griechenlands folgend, das ein Mitglied eines ausländischen Königshauses zum Regenten gemacht hatte, hatte Kawonien Ferdinand auf den Thron gesetzt. Die ursprüngliche Idee, sich den König aus Skandinavien zu holen, hatte sich nicht verwirklichen lassen, daher hatte man sich für Ferdinand, einen Verwandten Kaiser Franz Josephs, entschieden.

In England hatte man wenig über ihn in Erfahrung bringen können. Man wußte lediglich, daß er fünfunddreißig und schon einmal verheiratet gewesen war. Seine Frau war vor zwei Jahren gestorben und hatte ihm keinen Erben hinterlassen.

Daß die Herzogin die Tochter nicht hatte begleiten können, war bitter für sie gewesen. Ihre Ärzte hatten ihr dringendst davon abgeraten, eine so lange und anstrengende Reise zu machen.

Die Herzogin hatte seit Jahren mit dem Herzen zu tun, und ihr Mann hatte nach einigem Hin und Her strikt erklärt, daß sie kein Risiko eingehen dürfe und in England bleiben müsse.

Nachdem sie den Kanal überquert hatten und in Calais an Land gegangen waren, hatten sie die Reise durch Frankreich in einem luxuriösen Zugabteil fortgesetzt. In ihrer Begleitung waren der Kurier des Königs von Kawonien, der Sekretär des Herzogs, sein Kammerdiener und eine Zofe für Catherine.

Die Zofe war, kaum in Marseille angekommen, nach England zurückgeschickt worden, denn sie hatte sich während der ganzen Reise durch Frankreich nicht von der Übelkeit erholt, die sie auf der Fähre über den Ärmelkanal befallen hatte.

Und so war Theola allein mit Catherine an Bord des Schiffes gegangen, das König Ferdinand geschickt hatte. Das Mittelmeer war ruhig gewesen, bis sie den Südzipfel Italiens umfahren hatten. Dann waren sie in einen Sturm hineingekommen, und Catherine hatte die Kabine nicht mehr verlassen. Stöhnend und jammernd war sie im Bett gelegen und hatte Theola und zwei Stewardessen den ganzen Tag springen lassen. Zum Glück war ein Arzt an Bord gewesen, der ihr schließlich ein Beruhigungsmittel gegeben hatte, das Catherine über Stunden in tiefen Schlaf versetzt und damit Theola Zeit für sich selbst gegeben hatte.

An Bord war eine Anzahl Würdenträger des Landes gewesen, die den König zu vertreten hatten. Da sie samt und sonders fanatische Kartenspieler waren, verstand sich der Herzog prächtig mit ihnen. Die Herren hatten ihre Zeit im Rauchsalon verbracht, während Theola bald jemand gefunden hatte, der gewillt gewesen war, ihr Kawonisch beizubringen.

Es war der Adjutant des Feldmarschalls, also des Mannes, der für die Eskorte verantwortlich gewesen war. Der junge Offizier hätte sich an Bord vielleicht gelangweilt, hätte ihn Theola nicht auf ihre bescheidene Weise gebeten, ihr die Grundbegriffe seiner Sprache zu erklären.

„Und wie kommt es, daß Sie Kawonisch lernen wollen?“ hatte der Adjutant gefragt.

„Ich freue mich sehr, Ihr Land kennenlernen zu dürfen, Captain Petlos“, hatte Theola geantwortet.

„Hoffentlich werden Ihre Erwartungen nicht enttäuscht, Miss Waring“, hatte der junge Offizier geantwortet.

„Ganz sicherlich nicht. Ich werde alles noch mehr genießen können, wenn ich mich mit den Menschen unterhalten und sie verstehen kann.“

Captain Nicias Petlos hatte sich zwar nichts anmerken lassen, aber Theola hatte gespürt, mit welcher Skepsis er an die erste Unterrichtsstunde herangegangen war. Nach der zweiten Stunde war jedoch jede Skepsis verflogen und hatte heller Begeisterung Platz gemacht.

„Unglaublich!“ hatte Captain Petlos gesagt. „Ich hätte nie gedacht, daß jemand so schnell Kawonisch lernen kann.“

Theola hatte gelächelt.

„Es ist für mich eine große Hilfe, daß so viele Worte griechischen Ursprungs sind.“

„Ja, unsere Sprache ist eine Mischung aus Griechisch und Albanisch, wobei Griechisch überwiegt.“

Als sie auf der Höhe von Sizilien gewesen waren, hatte sich Theola bereits recht geschickt ausdrücken können und - was noch wichtiger war - sie hatte fast alles verstanden, was Captain Petlos in seiner Muttersprache zu ihr gesagt hatte.

„Sie sind ein Phänomen!“ hatte der junge Offizier an dem Tag ausgerufen. „Wenn doch bloß -.“

Er hatte mitten im Satz abgebrochen.

„Was wollten Sie gerade sagen?“

„Ach, lieber nicht.“

„Wieso denn nicht?“ Theola hatte sich in der leeren Bibliothek umgesehen. „Fassen Sie sich ein Herz. Es hört doch sonst niemand.“

„Na gut.“ Captain Petlos hatte gelächelt. „Ich wollte sagen, wenn doch bloß unser König Interesse an der Sprache seines Volkes hätte.“

„Spricht er sie denn nicht?“

Captain Petlos hatte den Kopf geschüttelt.

„Nicht ein Wort.“

„Wie ist das denn möglich?“ Theola hatte es nicht glauben wollen. „Er ist doch seit zwölf Jahren in Kawonien.“

„Seine Majestät ziehen es vor, Deutsch zu sprechen“, hatte der junge Offizier etwas steif entgegnet.

„Das ist irgendwie verständlich, aber gleichzeitig finde ich es seltsam. Wie sprechen denn die Leute am Hof mit dem König?“

„Sie mußten Deutsch lernen.“

„Aber das ist doch ...“ Theola hatte verlegen gelächelt. „Verzeihen Sie, mir steht keine Kritik zu.“

„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Miss Waring, üben Sie in Kawonien nie Kritik. Wenn der König von unserer Unterhaltung wüßte, würde ich auf der Stelle degradiert und Sie des Landes verwiesen.“

Theola hatte ihn mit großen Augen angesehen.

„Ist das Ihr Ernst?“

Captain Petlos hatte genickt.

„Ich erlaube mir, Sie zu warnen, weil ich weiß, daß die Engländer manchmal sehr offen sind. Am Hof in Wien kann man sich das nicht leisten, und am Hof König Ferdinands erst recht nicht.“

„Sehr seltsam“, hatte Theola gesagt.

„Deshalb erlaube ich mir ja, Sie darauf aufmerksam zu machen, Miss Waring.“ Der Captain hatte einen schnellen Blick über die Schulter geworfen. „Der Feldmarschall ist übrigens der Meinung, es sei recht unkonventionell, daß wir so viel Zeit zusammen verbringen.“

„Mein Gott!“ hatte Theola gesagt. „Ich wollte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Das tut mir leid.“

„Es braucht Ihnen nicht leid zu tun, denn mir macht es viel Freude.“

Der junge Offizier hatte sie angelächelt, und zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern hatte Theola das Gefühl gehabt, wie ein ganz normaler Mensch behandelt zu werden.

Sie hatte die Feder weggelegt.

„Bitte, erzählen Sie mir von Ihrem Land“, hatte sie gebeten.

„Wollen Sie die Wahrheit wissen, oder das, was Sie auch in einem Fremdenführer nachlesen können?“

„Die Wahrheit, natürlich.“

„Die Kawonier sind fröhliche Menschen, wenn sie nicht unterdrückt werden. Sie wollen lachen und tanzen, singen und lieben.“ Captain Petlos hatte die Stimme gesenkt. „Aber seit Jahren lacht und tanzt kaum jemand mehr.“

„Warum nicht?“ hatte Theola gefragt.

„Weil das Leben schwer geworden ist.“

„Wieso?“

Captain Petlos hatte seine Worte mit Bedacht gewählt.

„Zum Beispiel, weil die Steuern schier unerträglich geworden sind.“

„Aus welchem Grund?“

„Zur Finanzierung von öffentlichen Gebäuden, zur Renovierung des Palastes, für die Erstellung einer großen Armee und so weiter.“

„Ich denke, Kawonien lebt in Frieden mit den angrenzenden Ländern. Die Türken bedrohen doch das Land nicht etwa?“

„Die Türken haben alle Hände voll damit zu tun, Albanien in Schach zu halten. Falls die Türken einem europäischen Land den Krieg erklären sollten, würde Albanien sofort die Gelegenheit nutzen und revoltieren.“

„Und Griechenland hat doch auch kein Interesse an Kawonien, oder?“

„Nein! König George will den Frieden, weiter nichts.“

„Wozu dann eine große Armee?“

Wieder wählte Captain Petlos die Worte mit Bedacht.

„Weil innerhalb des Landes eine gewisse Unruhe herrscht.“

„Unter der Landbevölkerung?“

Der junge Offizier hatte genickt.

„Die Bauern ernähren sich zum größten Teil von trockenem Brot. Wenn es Ärger gibt, verstecken sie sich in den Bergen.“

„Aber die Soldaten sind doch Kawonier, oder?“

„Schon, aber die Offiziere stammen zu neunundneunzig Prozent aus Österreich. Ich bin eine Ausnahme.“

„Wieso das?“

„Vor knapp zwölf Jahren wurde ein Attentat auf König Ferdinand verübt. Mein Vater hat ihm das Leben gerettet. Zum Dank gewährt der König meiner Familie gewisse Privilegien.“

Er war aufgestanden und hatte die Bücher zusammengesammelt, die er zum Unterricht benutzt hatte.

„Und warum wurde ein Ausländer geholt, um das Land zu regieren?“ hatte Theola gefragt. „In Kawonien hat es doch bestimmt eine königliche Familie gegeben.“

„Ja“, hatte Captain Petlos geantwortet. „Durch Jahrhunderte hindurch waren die Vasilas auf dem Thron. Als der letzte König starb, wurden Stimmen gegen das Königshaus laut. Außerdem war der Thronfolger noch zu jung.“

„Demnach gibt es noch einen Vasilas, der Anspruch auf den Thron hat?“ hatte Theola gefragt.

Zu ihrem Erstaunen hatte Captain Petlos die Frage nicht beantwortet.

Er hatte sich die Lehrbücher unter den Arm geklemmt, die Hacken zusammengeschlagen und sich verbeugt.

„Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Miss Waring. Es war mir, wie immer, ein Vergnügen, Ihnen Unterricht geben zu dürfen.“

Steifen Schrittes hatte er dann die Bibliothek verlassen.

Theola war enttäuscht gewesen. Sie hätte den Offizier gerne noch so viel gefragt. In den nächsten zwei Tagen jedoch hatte sie trotzdem eine Menge über das Land erfahren, das sie besuchen sollte. In Kawonien herrschten mehr Unruhe und vor allem Unzufriedenheit unter der Bevölkerung, als der Herzog auch nur geahnt hatte. Die Kawonier schienen von der österreichischen Herrscherschicht auf harte, wenn nicht brutale Weise unterdrückt zu werden.

Als sie die Küste Kawoniens endlich erreicht hatten und das Schiff anlegte, strahlte die Sonne aus einem tiefblauen Himmel. Eine Militärkapelle spielte einen Begrüßungsmarsch, als Catherine mit ihrem Gefolge von Bord ging.

Niemand würdigte Theola auch nur eines Blickes. Es wurden Reden gehalten, und währenddessen hatte Theola Zeit, sich umzusehen. Hohe Berge hoben sich majestätisch gegen den Himmel ab. Ihre Gipfel waren von ewigem Schnee bedeckt, ihre Hänge zierten Pinienwälder und Olivenhaine. Hinter den Holzhäusern an ihrem Fuße Orangen- und Zitronenbäume, auf den Balkons eine Fülle von Geranien.

Als die Kutschen den Hafen Khevea verließen, um in die Hauptstadt Zanthos zu fahren, glaubte sich Theola in einem Märchen. Eine solche Pracht von Blüten und Farben war einfach unvorstellbar. Die Straßen waren mit Girlanden überzogen, überall wehten Fahnen, die Brücken, über die sie fuhren, waren von Soldaten bewacht.

In den Dörfern war alles auf der Straße. Die Menschen in ihrer farbenfrohen Tracht winkten und jubelten. Die Frauen hatten sich Blüten ins Haar gesteckt.

Theola konnte es einfach nicht fassen, daß Catherine sich nicht mehr für ihre zukünftigen Untertanen interessierte. Die Menschen, die die Straße einsäumten, schienen ihr egal zu sein. Es berührte sie nicht im geringsten, daß man sie mit so großer Herzlichkeit empfing. Sie hatte nur Augen für den Premierminister, der sie im Auftrag des Königs am Schiff abgeholt hatte. Theola und Captain Petlos, die ihr gegenüber saßen, ignorierte sie total.

Der Premierminister war ein älterer Mann mit einer knarrenden Stimme und stechenden Augen. Er war Österreicher.

Der Herzog folgte in einer zweiten Kutsche mit dem Feldmarschall und anderen Würdenträgern des Landes. Insgesamt waren es sechs Kutschen, die von Soldaten zu Pferd begleitet wurden.

„Die Soldaten an der Spitze“, erklärte Captain Petlos, „gehören zur Leibgarde des Königs.“

 

Theola nickte nur. Sie hätte sich gern mit dem jungen Offizier unterhalten, aber sie hatte Angst, dadurch die Konversation zwischen Catherine und dem Premier zu stören und schwieg. Wie gerne hätte sie wenigstens den Kindern zugewinkt, die kleine Blumensträuße auf die Kutschen warfen, aber von niemand beachtet wurden. Ihre Sträußchen wurden unter den Pferdehufen zertrampelt, die Kinder selbst blieben unbeachtet.

Nach einer Stunde Fahrt hatten sie den Rand der Hauptstadt erreicht. Sie überquerten einen breiten Fluß. Die Brücke war mit Blumengirlanden geschmückt und von Soldaten bewacht.

Sie kamen durch enge Sträßchen. Zu beiden Seiten bescheidene Häuser. Zu Theolas Erstaunen waren sie nicht geschmückt und sahen fast unbewohnt aus. Die Fensterläden waren geschlossen. Keine lachenden, winkenden Menschen, keine Blumensträuße. Die Pferde schienen schneller zu laufen, und Theola hätte Captain Petlos gern gefragt, warum hier alles so finster und freudlos war. Nicht einmal der Himmel war mehr strahlend. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben.

Sie kamen schließlich durch eine Gasse, in der ein paar ärmlich gekleidete barfüßige Kinder spielten. Die Kutsche schwankte plötzlich, ein Aufschrei, und der Kutscher zügelte die Pferde und brachte sie zum Stehen.

„Was ist denn los?“ fragte der Premierminister. „Ist was passiert?“

Captain Petlos sprang aus der Kutsche.

„Ein Kind ist angefahren worden, Exzellenz“, rief er nach einem Moment. „Ein kleines Mädchen. Es muß direkt in die Räder hineingelaufen sein.“

„Ein Kind?“ rief Theola.

Ohne eine Sekunde zu überlegen, stieg sie aus der Kutsche. Neben dem rechten Vorderrad lag ein Mädchen von vielleicht vier Jahren. Die kleinen Beinchen waren voll Blut.

Theola kniete sich neben dem Kind auf den Boden. Es war besinnungslos und schien kaum zu atmen. Im linken Oberschenkel klaffte eine tiefe Wunde.

Theola legte den Kopf des Kindes in ihren Schoß.

„Ihr Taschentuch, bitte“, sagte sie zu Captain Petlos, der neben ihr stand.

Der junge Offizier kramte in den Taschen. Da er offensichtlich kein Taschentuch bei sich zu haben schien, zog sich Theola kurz entschlossen den Seidenschal vom Hals und band damit dem kleinen Mädchen das Bein ab.

„Das Kind muß sofort in ein Krankenhaus gebracht werden“, sagte sie. „Es muß ärztliche Hilfe bekommen. Ist die Mutter in der Nähe?“

Theola sah hoch und mußte zu ihrem Erstaunen feststellen, daß niemand mehr da war. Die Kinder waren weggelaufen.

„Was ist denn los?“ rief der Premierminister aus der Kutsche. „Wir können hier nicht stehenbleiben, Captain Petlos.“

„Das Kind ist verletzt, Exzellenz.“

„Dann sollen sich die Eltern darum kümmern.“

„Es ist niemand da, Sir.“

„Legen Sie das Kind an den Straßenrand. Wir müssen weiter.“

„Das können wir doch nicht machen“, sagte Theola zu Captain Petlos. „Ich habe das Bein zwar abgebunden, aber das Kind muß schnellstens von einem Arzt behandelt werden. Versuchen Sie doch die Eltern zu finden. Oder wenigstens jemand, der sich um das Kind kümmert. Schauen Sie sich die Wunde an! Das Kind muß ins Krankenhaus!“

„Es gibt kein Krankenhaus“, entgegnete Captain Petlos leise.

„Hallo!“ rief der junge Offizier in dem Moment laut. „Jemand wird doch noch so viel Anstand haben und sich um das Kind kümmern!“

Es dauerte eine ganze Weile, bis schließlich eine Tür aufging und ein Mann auf sie zukam.

„Das muß der Vater sein“, meinte Theola erleichtert. „Bitte, erklären Sie ihm - ich weiß ja nicht, ob er mich versteht - daß die Binde in zehn Minuten abgenommen werden muß, sonst verliert das Kind das Bein. Der Mann muß es schnellstens zu einem Arzt bringen.“

Dann war der Mann bei ihnen.

Und nun traute Theola ihren Ohren nicht.

„Bist du wahnsinnig?“ flüsterte der Captain dem Mann zu. „Wenn sie dich erkennen, knallen sie dich ab.“

„Das weiß ich“, entgegnete der Mann leise.

„Mann Gottes!“ stöhnte Captain Petlos. Aus seiner Stimme schwang Angst.

„Ihr Kind ist leider verletzt worden“, setzte er laut hinzu. „Die Dame hier läßt Ihnen ausrichten, daß es sofort zu einem Arzt gebracht und die Binde innerhalb von zehn Minuten abgenommen werden muß.“

Der Mann bückte sich und nahm das Kind in die Arme. Jetzt sah Theola zum ersten Mal sein Gesicht. Sie zweifelte keinen Moment daran, daß er griechischer Abstammung war? Doch nach den Bildern, die ihr ihr Vater gezeigt hatte, waren Theola diese Züge so vertraut, daß sie das Gefühl hatte, den Mann schon seit langem zu kennen.

Und als sich ihre Blicke trafen, schrak sie zusammen. Noch nie hatte sie in den Augen eines Menschen so viel Verachtung gesehen.

„Wer ist dieser Mann?“ fragte der Premierminister scharf.

„Ich nehme an, der Vater des Kindes, Exzellenz“, antwortete Captain Petlos.

Der Mann, der jetzt das kleine Mädchen in den Armen hielt und sich aufgerichtet hatte, wandte sich an Theola.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagte er ruhig. „Dürfte ich Sie noch um einen Gefallen bitten?“

„Nämlich?“ fragte Theola.

„Würden Sie mir helfen, das Kind vorsichtig ins Haus zu tragen? Wenn Sie nur die Beine stützen, dann sind die Schmerzen nicht so groß.“

Die Begründung kam Theola reichlich gesucht vor, sie hätte es jedoch nicht übers Herz gebracht, die Bitte abzulehnen. So trug sie das Kind mit dem Mann zusammen zu einem Haus, dessen Tür wie von selbst auf ging.

Und genau in dem Moment wurde Theola klar, daß sie auf dem kurzen Weg zu dem Haus als Deckung für den Mann gedient hatte.

Sie gingen in das Haus. Ein einfacher Raum, in dem kaum Möbel standen. An einer Wand lehnte ein Mann. Auf einem Stuhl saß eine Frau, der die Tränen über das Gesicht liefen. Sie mußte die Mutter des Kindes sein.

Die Frau sprang auf und kam mit ausgestreckten Armen auf Theola und den Mann zu.

„Das ist Alexius Vasilas!“ hörte Theola in dem Moment den Premierminister rufen. „Erschießt ihn! Schießen, sage ich!“

Der Mann legte der Mutter das Kind in die Arme und verschwand wortlos durch die rückwärtige Tür.

Sie hatte sich gerade hinter ihm geschlossen, als Captain Petlos, die Pistole in der Hand und von vier Soldaten gefolgt, auf das Haus zukam. Warum Theola es tat, wußte sie nicht, aber sie stellte sich absichtlich vor die Tür, durch die der Mann verschwunden war.

„Was ist denn los?“ fragte sie.

„Geben Sie den Weg frei, Miss Waring“, sagte Captain Petlos. „Ich habe meine Befehle.“

„Was für Befehle?“ fragte Theola.

„Der Mann, der das Kind ins Haus getragen hat, muß festgenommen werden.“

„Der Premierminister hat aber gesagt, daß er erschossen werden soll.“

„Ich muß ihn erst einmal finden, Miss Waring.“

„Er holt bestimmt einen Arzt“, meinte Theola. „Ihn daran zu hindern wäre eine Todsünde. Es kann dem Kind das Leben kosten.“

„Ich muß meine Pflicht tun, Miss Waring.“

Theola rührte sich nicht von der Stelle.

Die vier Soldaten, die dem Captain gefolgt waren, hämmerten an die Türen der Nebenhäuser.

„Zurück!“ rief in dem Moment der Premierminister. „Zurückkommen!“

„Wir müssen weiter!“ drängte einer der Offiziere, die zum Begleitschutz gehörten. „Diese Gegend ist zu unsicher.“

„Dann fahren wir doch endlich weiter!“ schrie der Premier. „Dieser Vasilas ist uns wieder einmal entkommen. Warum hat man mich nicht informiert, daß er in der Stadt ist?“

Niemand antwortete auf die Frage, und Theola wußte, daß die Gefahr vorüber war. Sie streifte das perlenbestickte Beutelchen ab, das sie am Handgelenk trug, nahm eine Goldmünze heraus und legte sie auf den Stuhl neben der Tür.

„Für das Kind“, sagte sie nur und folgte Captain Petlos zur Kutsche.

„Also alles was recht ist!“ schimpfte Catherine, als Theola einstieg. „Wie kannst du dich so lachhaft benehmen. Dein Kleid ist ruiniert.“

„Verzeih, Catherine“, antwortete Theola. „Es tut mir leid, daß ich alle aufgehalten habe.“

„Wenn Papa von deinem Benehmen hört, wird er entsetzt sein“, entgegnete die Cousine mit einem drohenden Unterton in der Stimme. „Voll Blut bist du. Schämen muß man sich ja mit dir!“