Garten der Sehnsucht

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Garten der Sehnsucht
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Garten der Sehnsucht

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2018

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1 ~ 1882

Als der Zug anhielt, stellte Solita mit einem Blick nach draußen fest, daß sie an ihrem Ziel angelangt war.

Ihr Koffer befand sich im Abteil. Das hatte ihr der Gepäckträger geraten, als sie ihm gesagt hatte, wohin die Reise gehen sollte.

»Das ist nur eine Bedarfshaltestelle, Miss«, hatte er gebrummt, »da kommt der Packwagen nicht bis zum Bahnsteig.«

Was damit gemeint war, wurde ihr jetzt klar, als sie das winzige Bahnhofsgebäude und den Bahnsteig erblickte, der nicht viel länger war als ein Eisenbahnwagen.

Sie stieg aus und überließ es einem ältlichen und klapprig wirkenden Dienstmann, ihren Koffer aus dem Abteil zu heben.

In diesem Augenblick tauchten zwei adrett livrierte Lakaien auf dem Bahnsteig auf und strebten dem Wagen neben ihrem zu.

Offensichtlich wollten sie jemanden abholen, der im selben Zug angereist war wie sie, stellte sie bei sich fest, ohne sich sonderlich dafür zu interessieren. Sie wandte sich an den Dienstmann, der ihren Koffer auf dem Gepäckkarren zum Ausgang rollte.

»Besorgen Sie mir bitte eine Mietdroschke.«

»So was gibt’s hier nicht«, lautete die Antwort.

Solita glaubte ihm erst, als sie vor dem Gelände der Bahnstation nur zwei Kutschen stehen sah.

Die eine war ein flotter gelber Phaeton mit schwarzlackierten Rädern, der von zwei Rappen gezogen wurde. Bei der anderen handelte es sich um einen Break mit offenem Verdeck, der zur Beförderung der Dienerschaft und des Gepäcks benutzt wurde.

Unschlüssig stand sie da und wußte nicht, was sie tun sollte. Dann hörte sie, wie der Zug abfuhr, und sah einen Gentleman vom Bahnsteig kommen.

Er war eine eindrucksvolle Erscheinung hochgewachsen, breitschultrig und elegant gekleidet mit einem leicht schrägsitzenden Zylinderhut auf dem dunklen Haarschopf.

Ohne Hast ging er auf den Phaeton zu und war im Begriff einzusteigen, als Solita ihre Stimme wiederfand.

»Verzeihung, Sir«, sagte sie, »aber da es für Fremde offenbar keine Möglichkeit gibt, hier wegzukommen, möchte ich Sie bitten, mich bis zum Schloß Calver mitzunehmen.«

Der Fremde, der bereits den rechten Fuß gehoben hatte, um die Kutsche zu besteigen, hielt in der Bewegung inne und drehte sich zu ihr um. Der Ausdruck seiner Augen verriet Überraschung, als sein Blick sie erfaßte.

»Tut mir leid, Sie belästigen zu müssen«, sagte sie verlegen, »aber ich weiß wirklich nicht, wie ich sonst zum Schloß kommen soll.«

»Sie sind dort zu Gast?«

»Eigentlich nicht. Aber ich muß Seine Gnaden, den Herzog, unbedingt sprechen.«

Der Fremde zögerte, schien dann aber zu einem Entschluß zu kommen, denn er sagte: »Dann werde ich Sie natürlich zu ihm bringen.«

»Vielen Dank.«

Solita lief rasch um die Kutsche herum und kletterte leichtfüßig auf den Beifahrersitz. Der Fremde hielt bereits die Zügel in der Hand. Kaum hatte sie Platz genommen, da ließ der Pferdeknecht die Pferde, die er am Kopf festgehalten hatte, los und rannte nach hinten, um sich auf den Außensitz zu schwingen.

Der Phaeton setzte sich in Bewegung.

Eine grüne Landschaft tat sich vor ihnen auf. An den Bäumen sprossen bereits die ersten Blüten, und hinter den Hecken blühten Primeln.

Nachdem sie eine kleine Wegstrecke zurückgelegt hatten, brach der Fremde das Schweigen.

»Wie Sie sagten, wollen Sie den Herzog aufsuchen. Mich würde der Grund Ihres Besuches interessieren.«

Solita war so in die Betrachtung der Landschaft versunken, daß sie ohne zu überlegen antwortete: »Ich will ihm ins Gesicht sagen, daß er ein gefühlloser, selbstsüchtiger, gemeiner und außerdem undankbarer Mensch ist!«

Während sie es aussprach, wurde ihr bewußt, wie vorlaut sie gewesen war, und sie stammelte verwirrt: »Verzeihen Sie . . . das hätte ich einem Fremden gegenüber nicht sagen dürfen.«

»Sie haben mich neugierig gemacht. Wie sind Sie zu dem vernichtenden Urteil über den Herzog gekommen?«

»Das . . . möchte ich nur Seiner Gnaden persönlich mitteilen«, erwiderte Solita abweisend.

Wieder schwiegen sie eine Weile, dann bemerkte der Fremde: »Sind Sie nicht viel zu jung, um allein zu verreisen?«

Und viel zu hübsch, hätte er beinahe hinzugefügt.

Tatsächlich war er erstaunt gewesen, ein großes blaues Augenpaar in einem zarten, herzförmigen Antlitz zu erblicken, als er sich nach der unbekannten Bittstellerin umgedreht hatte. Die Farbe ihres Haares erinnerte ihn an strahlenden Sonnenschein. Er fand es höchst ungewöhnlich, daß eine junge Dame mit diesem Aussehen ohne Begleitung reiste, auch wenn die Strecke zwischen London und Calver nur kurz war.

»Ich bin auf mich allein gestellt«, beantwortete Solita seine Frage. »Auch daran ist der Herzog schuld!«

»Man kann ihm sicher eine Menge Sünden andichten«, erwiderte der Gentleman spöttisch, »aber es ist unverzeihlich, daß er Ihnen keine Begleiterin zur Verfügung gestellt hat!«

Solita spürte, daß er sich über sie lustig machte, und reckte in trotziger Auflehnung gegen seine Unverschämtheit ihr Kinn.

»Kennen Sie den Herzog gut?« fragte sie den Fremden nach einer Weile.

»Gut genug, um zu wissen, daß ihm Ihr vernichtendes Urteil über ihn nicht gefallen wird.«

»Er hat nichts Besseres verdient«, entgegnete Solita scharf.

»Mir scheint, Sie haben den armen Mann verurteilt, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sich zu verteidigen«, hielt ihr der Fremde entgegen.

»Für einige Dinge gibt es keine Entschuldigung«, erklärte Solita und machte deutlich, daß sie sich nicht weiter über dieses Thema auslassen wollte.

Wieder schwiegen sie eine Weile, dann fragte ihr Begleiter: »Und was tun Sie, wenn Sie nicht gerade damit beschäftigt sind, einem Herzog seine Sünden vorzuhalten?«

»Ich bin gerade aus dem Ausland zurückgekehrt«, sagte Solita, »und finde England sehr schön.«

»Sie beabsichtigen, hier zu bleiben?«

»Das muß ich wohl. Daher werde ich mir auf irgendeine Weise meinen Unterhalt verdienen müssen.«

»Soll das heißen, Sie sind mittellos?« fragte der Fremde.

Solita nickte.

»Ich habe mir überlegt, was ich tun könnte«, sagte sie, »und bin zu der Überzeugung gelangt, daß die einzige Möglichkeit, die sich mir bietet, eine Karriere als Ballettänzerin ist.«

Der Fremde wandte den Kopf und sah sie erstaunt an.

»Ballettänzerin?« wiederholte er.

»Man sagte mir, die Ballettänzerinnen im Covent Garden würden allgemein bewundert und von den Gentlemen, die in den Clubs von St. James verkehrten, verehrt.«

»Und das streben Sie an?«

Der abfällige Ton seiner Stimme war unüberhörbar.

»Es ist das einzige Talent, das ich besitze«, verteidigte sich Solita, »außer einer gewissen Begabung für Sprachen.«

Der Fremde sagte nichts, und nach einer Weile fuhr sie leise fort, als spräche sie zu sich selbst: »Da ich aber sehr jung bin, wird man mich sicher nicht als Gouvernante oder Lehrerin an einer Schule anstellen. Zudem machen sich die wenigsten Engländer die Mühe, die Sprache anderer Nationen zu lernen.«

»Hat Sie das Ihre langjährige Erfahrung gelehrt?«

Es war offensichtlich, daß der Gentleman sich erneut über sie lustig machte, aber sie erwiderte ernst: »Wenn Sie meinen, ob ich das selbst beobachtet habe, dann kann ich das bejahen. Wenn sich die Engländer den Eingeborenen, die sie verachten, nicht verständlich machen können, brüllen sie sie an - natürlich auf Englisch!«

Der Fremde mußte lachen.

»Sie üben harte Kritik, Miss . . .« Er hielt inne. »Mir fällt gerade ein, daß Sie mir Ihren Namen noch nicht genannt haben.«

»Dazu sehe ich keine Veranlassung, Sir, zumal Sie ja selbst beanstandet haben, daß es keine Begleiterin gibt, die uns einander vorstellen könnte!«

Diesmal klang sein Lachen ehrlich amüsiert.

»Also gut«, sagte er, »spielen Sie weiter die geheimnisvolle Unbekannte, aber eins möchte ich Ihnen klarmachen: Der Beruf der Ballettänzerin ist ungeeignet für Sie.«

»Warum?« fragte Solita.

»Weil ich sicher bin, daß Sie eine Dame sind!«

»Warum sollte das eine Rolle spielen, wenn man gut tanzen kann?«

Er hätte ihr eine Menge Gründe nennen können, aber er drückte sich sehr vorsichtig aus.

»Ballettänzerinnen werden von den Kavalieren in St. James verehrt, gewiß, aber man erwartet auch von ihnen, daß sie sich für die Geschenke, die sie erhalten, erkenntlich zeigen.«

Solita wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn bestürzt an.

»Meinen Sie damit, sie müssen sich dafür bedanken?«

»Nicht nur mit Worten!«

»Ich . . . verstehe Sie nicht.«

»Wie sollten Sie auch?« entgegnete der Fremde. »Hören Sie auf meinen Rat, und glauben Sie mir, daß Sie für das Leben einer Ballettänzerin ungeeignet sind.«

Solita seufzte.

»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als den Herzog zu zwingen, einer Verpflichtung nachzukommen, die er sträflich vernachlässigt hat.«

»Ich habe ihn immer für einen sehr verantwortungsbewußten Menschen gehalten«, entgegnete der Fremde. »Wollen Sie mir nicht sagen, in welcher Weise Seine Gnaden Sie gekränkt hat?«

Dem schmeichelnden Ton, den er anschlug, konnte kaum eine Frau widerstehen.

Solita reckte jedoch ihr Kinn noch trotziger vor und entgegnete: »Da Sie offensichtlich mit ihm befreundet sind, würden Sie ganz gewiß alle möglichen Entschuldigungen für ihn finden.«

 

Der Fremde lächelte verhalten.

»Ich glaube, er ist durchaus imstande, das selbst zu besorgen.«

»Und er wird dabei ganz gewiß sehr überzeugend wirken!« sagte Solita sarkastisch.

»Was ist geschehen?« wiederholte der Gentleman seine Frage. »Hat der Herzog sich geweigert zu helfen, als es Ihrer Meinung nach seine Pflicht gewesen wäre?«

Sie schwieg.

Nach einer Weile fügte er hinzu: »Vielleicht möchten Sie sich mir anvertrauen?«

Wieder sah sie ihn mit erstauntem Blick an, der verriet, daß ihr ein solcher Gedanke nie in den Sinn gekommen wäre.

»Nein . . . natürlich war das niemals meine Absicht!« rief sie erschrocken aus. »Ich . . . würde niemals einen Fremden mit meinen persönlichen Angelegenheiten behelligen!«

Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Es war ungehörig von mir, Sie zu bitten, mich mitzunehmen, aber ich hatte keine Ahnung, daß es am Bahnhof keine Mietdroschke geben würde, und wußte einfach nicht, wie ich zum Schloß kommen sollte.«

Das klang so bekümmert, daß der Fremde sie beruhigte.

»Sie haben das in Ihrer Lage einzig Vernünftige getan«, versicherte er ihr. »Es wäre ausgesprochen töricht gewesen, mich wegfahren zu lassen.«

»Dann hätte ich laufen müssen«, sagte Solita. »Wie weit ist es eigentlich bis zum Schloß?«

»Über drei Meilen.«

»Oje, und ich hätte nicht einmal den Weg gewußt!«

»Also müssen Sie zugeben, daß Sie völlig vernünftig gehandelt haben«, betonte der Fremde, »und ich muß mich bei Ihnen für Ihre anregende Gesellschaft auf dieser sonst so langweiligen Fahrt bedanken.«

Solita lachte kläglich.

»Das sagen Sie nur, damit ich keine Gewissensbisse bekomme.«

»Meine Neugier haben Sie aber noch immer nicht gestillt . . .«

Ihr Mitreisender sah sie herausfordernd an.

»Darf ich nochmals betonen, daß ich Ihnen gern behilflich wäre, wenn Sie in Schwierigkeiten sind?«

»Dafür ist der Herzog zuständig«, sagte sie energisch.

Die grimmige Entschlossenheit, die aus ihren Worten klang, mutete den Fremden bei einem so jungen Mädchen merkwürdig an, aber er bemühte sich, ernst zu bleiben.

»Sie erwähnten, daß Sie im Ausland gelebt haben, aber offensichtlich sind Sie Engländerin. Freuen Sie sich, wieder in der Heimat zu sein?«

»Eigentlich schon«, erwiderte Solita, »obwohl mir alles hier ein wenig fremd und beunruhigend vorkommt, besonders . . .«

Sie stockte, weil sie wieder einmal fast zu viel über sich verraten hätte.

» . . . weil Sie kein Geld haben«, ergänzte er ihren Satz.

»Ganz mittellos bin ich nicht«, sagte Solita, »aber das Geld wird nicht lange reichen.«

»In eine solche Lage geraten wir wohl alle hin und wieder einmal.«

»Dann verstehen Sie sicher auch, weshalb ich etwas unternehmen muß.«

Sie sah ihn beinahe flehend an, als sie fortfuhr: »Ich tanze wirklich sehr gut. Der Tanzlehrer an unserer Schule hat einmal gesagt, ich könnte mich mit jeder ausgebildeten Tänzerin messen, und das brachte mich auf die Idee, mich um eine Anstellung beim Covent Garden Ballett zu bewerben. Es stimmt doch, daß es das beste in London ist, nicht wahr?«

»Ja, das schon«, erwiderte der Fremde, »aber ich sagte Ihnen bereits, daß Sie die Idee vergessen sollen.«

»Weil ich eine Dame bin? Ich kann mir nicht vorstellen, daß man mich deshalb ablehnen würde.«

»Wenn Sie tatsächlich so talentiert sind, wie Sie glauben, wird man Sie nicht ablehnen«, erwiderte der Fremde, »aber es wäre kein Leben für ein so zartes, wohlerzogenes und gebildetes junges Mädchen wie Sie.«

Solita stieß einen Seufzer aus.

»Wie kommen wohlerzogene Damen dann zu Geld?« ,

»Sie heiraten. Es muß doch jemanden geben, der Sie in die Gesellschaft einführen könnte.«

»Ich lege keinen Wert darauf, in die Gesellschaft eingeführt zu werden«, entgegnete Solita. »Mir geht es eigentlich nur darum, genügend Geld für eine Indienreise zusammenzubekommen.«

»Indien?« rief der Herr aus. »Was um alles in der Welt wollen Sie denn in Indien?«

»Dafür gibt es einen sehr persönlichen Grund.«

Bevor er sie fragen konnte, welcher Grund das sei, schrie sie leise auf.

»Das muß das Schloß sein! So habe ich es mir vorgestellt!«

Auf einem Hügel ragte Schloß Calver auf. Es war ringsum von Bäumen umgeben, und mit dem in der Sonne golden glänzenden alten Mittelturm wirkte es wie ein auf Samt gebetteter Edelstein. Die unzähligen hell blitzenden Fenster verliehen dem Schloß das Aussehen eines Märchenpalastes.

»Es ist wunderschön!« sagte Solita leise.

»Ich dachte mir, daß es Ihre Bewunderung erregen würde«, bemerkte der Gentleman.

»Wie kann man ein so zauberhaftes Schloß bewohnen, ohne sich dessen würdig zu erweisen?« murmelte Solita, und es bestand kein Zweifel, daß ihre abfällige Bemerkung dem Herzog galt.

Der Fremde zwinkerte belustigt, während sie das schmiedeeiserne Tor passierten und eine sich daran anschließende lange Eichenallee entlangfuhren. Schließlich überquerten sie eine Brücke, die über einen See führte. Danach ging es eine Anhöhe hoch bis zum Schloß.

»Ich möchte Ihnen danken, daß Sie mich hierhergebracht haben, Sir«, sagte Solita artig. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, daß ich den weiten Weg nicht zu Fuß zurücklegen mußte.«

»Dann hätten Sie wohl etwas länger gebraucht, um Ihr Ziel zu erreichen«, bemerkte der Gentleman trocken.

»Vielen, vielen Dank!«

Da er noch immer die Zügel in der Hand hielt, machte Solita keine Anstalten, sich mit einem Händedruck von ihm zu verabschieden.

Mit Hilfe eines Lakaien, der über die Freitreppe herbeigeeilt war, stieg sie aus dem Phaeton und ging über die mit einem roten Läufer bedeckten Stufen nach oben.

Erst als sie etwa auf der Mitte der Freitreppe angelangt war, merkte sie, daß der Gentleman ihr gefolgt war.

Er holte sie ein und schritt neben ihr die Stufen hoch.

»Willkommen daheim, Euer Gnaden!« begrüßte ihn der Butler am Schloßportal.

Solita zuckte zusammen und warf ihrem Begleiter einen vorwurfsvollen Blick zu.

Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, sagte der Herzog zu seinem Butler: »Die junge Dame, die ich mitgebracht. habe, will sich nach der langen Reise sicher etwas frisch machen, Dawson. Wir nehmen dann den Tee im Blauen Salon ein.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden.«

Der Butler trat neben Solita und sagte respektvoll: »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Madam!«

Er schritt vor ihr die Treppe hoch. Verwirrt und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, folgte sie ihm.

»Wie hätte ich ahnen sollen, daß der Herzog mit dem Zug reist wie ein ganz gewöhnlicher Fahrgast?« murmelte sie leise bei sich.

Sie war davon ausgegangen, daß in England jeder Herzog einen Privatzug besaß oder zumindest einen eigenen Luxuswagen, der an den Expreß angehängt wurde. Außerdem wäre ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß jede auf der Bedarfsstation aussteigende Person zum Schloß gehören oder gar der Herzog selbst sein könnte.

Eine Haushälterin geleitete sie zu einem prunkvollen Schlafzimmer. Nachdem sie sich die Hände gewaschen und das Haar geordnet hatte, führte die Frau sie zum oberen Treppenabsatz zurück. Unten in der Halle wartete bereits der Butler auf sie.

Die Haushälterin hatte ihr geraten, den Hut abzulegen. Da Solita nach allem, was sie über den Herzog geäußert hatte, mit einem Hinauswurf rechnete, behielt sie den Hut jedoch in der Hand. Wie konnte ich nur so töricht sein, mich so ungebührlich über ihn zu äußern? schalt sie sich.

Doch im Grunde hatte sie ohnehin vorgehabt, dem Herzog all das vorzuwerfen, was er nun bereits wußte. Was machte es also aus, auf welche Weise er es erfahren hatte? Krampfhaft überlegte sie, wo sie übernachten sollte, wenn er ihr im Zorn die Tür weisen würde. Sie hatte das unbehagliche Gefühl, daß es ihr ohne Begleitperson schwerfallen würde, ein anständiges Hotel zu finden.

Eins nahm sie sich jedoch fest vor, während sie langsam die Treppe hinabstieg: Sie würde sich vom Herzog nicht einschüchtern lassen.

Schließlich war es allein seine Schuld, daß sie hier war.

Der Butler lächelte sie freundlich an.

»Seine Gnaden erwarten Sie im Blauen Salon, Madam«, sagte er. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«

Er führte sie einen stilvoll ausgestatteten Gang entlang, öffnete dann eine Tür und ließ sie eintreten.

Der Herzog stand vor dem Kamin und wirkte sehr furchteinflößend auf Solita. Sie ging langsam auf ihn zu und blitzte ihn herausfordernd an.

»Vermutlich müßte ich mich jetzt entschuldigen«, sagte sie, »aber Sie haben sich seit unserer letzten Begegnung so verändert, daß ich Sie unmöglich erkennen konnte.«

»Seit unserer letzten Begegnung?« fragte der Herzog. »Wann war das?«

Trotz des Unbehagens, das sie empfand, mußte Solita lächeln.

»Das ist zehn Jahre her. Ich war noch ganz klein; und Sie haben mit mir gelacht und gescherzt, und ich dachte, ich könnte Ihnen vertrauen.«

Der Herzog sah sie verständnislos an.

»Vor zehn Jahren, sagen Sie?«

Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

»Sie sind doch nicht etwa Charles Greshams Tochter?« fragte er.

»Doch, das bin ich. Ich bin Solita Gresham, das Mädchen, das Sie völlig vergessen haben.«

»Das entspricht nicht ganz der Wahrheit«, erwiderte der Herzog. »Aber warum sind Sie hier? Was ist aus meiner Cousine Mildred geworden?«

»Ihre Cousine Mildred, der Sie von dem Tage an, da sie mich zu sich nahm, keinerlei Beachtung mehr geschenkt haben, starb vor einem Monat.«

»Davon hatte ich keine Ahnung.«

»Außer mir gibt es niemanden, der Sie informieren konnte«, entgegnete sie. »Als ich feststellen mußte, daß ich kein Geld besaß, reiste ich nach England, um Sie nach dem Verbleib der Hinterlassenschaft meines Vaters zu fragen.«

Der Herzog schüttelte ungläubig den Kopf.

»Mir ist das alles völlig unbegreiflich«, sagte er. »Nachdem ich Sie bei meiner Cousine untergebracht hatte, traf ich Vorkehrungen, regelmäßig einen Betrag vom Erbe Ihres Vaters zu überweisen und Ihr Schulgeld davon zu bezahlen!«

»So viel mir bekannt ist, hat Ihre Cousine keinen Penny erhalten«, entgegnete Solita, »und alles selbst bezahlt.«

»Ich glaube kaum, daß das wahr ist.«

»Ich versichere Ihnen, daß ich Sie nicht behelligt hätte, wäre mir nicht mitgeteilt worden, daß Ihre Cousine ihr Geld von einer Stiftung erhielt und diese Zuwendung mit ihrem Tode erlosch.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie völlig mittellos sind?«

»Ich habe den gesamten Schmuck, den ich im Laufe der Jahre von Ihrer Cousine geschenkt bekam, verkauft, um die Überfahrt nach England zu bezahlen.«

»Da muß ein bedauerliches Versehen vorliegen«, sagte der Herzog betroffen, »und meine einzige Entschuldigung ist, daß ich sofort nach meiner Rückkehr aus Neapel mit einem Bataillon meines Regimentes zu den Westindischen Inseln abkommandiert wurde.«

Ihm fiel wieder ein, daß Solita ihn damals zum Abschied umarmt und geküßt hatte.

Sie war ein reizendes Kind von acht Jahren gewesen, und er hatte vor seiner Abreise noch einmal bei ihr vorbeigeschaut.

Während er sich all das ins Gedächtnis zurückrief, begriff er auch, weshalb sie sich so abfällig über ihn geäußert hatte.

Charles Gresham war Hauptmann in der Armee gewesen und er selbst Offiziersanwärter. Gresham hatte sich gleich nach ihrem. Eintreffen in Indien mit ihm angefreundet, weil sie viele gemeinsame Interessen hatten.

Sie waren an die Nordwestgrenze versetzt worden. Greshams Frau und seine Tochter mußten in der Garnison im Landesinneren zurückbleiben.

Sie hatten blutige Kämpfe gegen kriegerische Stämme ausgefochten.

Die in Afghanistan befindlichen Russen hatten diese Männer gegen die Engländer aufgehetzt. Während eines nächtlichen Überfalls, auf den sie nicht vorbereitet waren, war der Feind in der Überzahl gewesen.

Charles Gresham hatte dem Herzog das Leben gerettet und sich dabei eine Beinverletzung zugezogen. Während Charles Gresham im Hospital war, um seine Wunde auszukurieren, hatte er eine Affäre mit einer bildschönen Frau gehabt, die ihn zu vergöttern schien.

Der Herzog, der damals noch Hugo Leigh hieß, hatte niemals etwas anderes hinter ihrem offenkundigen Interesse für Gresham vermutet, der ein blendend aussehender Mann gewesen war.

 

Als Gresham von seiner Verwundung genesen war, kehrte er zu seiner Einheit zurück.

Der Herzog erhielt Befehl, sich noch eine Woche in Peschawar aufzuhalten.

Hinterher ließ sich trotz einer offiziellen Untersuchung nie genau feststellen, was geschehen war.

Man wußte nur, daß eine Kompanie britischer Soldaten, unter ihnen auch Gresham, in einen Hinterhalt geraten war. Alle hatten den Tod gefunden.

Erst als die Frau, die eine so leidenschaftliche Affäre mit Gresham gehabt hatte, plötzlich spurlos verschwand, kam das Gerücht auf, daß sie eine russische Spionin gewesen sei.

Damals hatte auch der Herzog Verdacht geschöpft, aber ihm fehlten die Beweise.

Als er nach Lucknow zurückgekehrt war, hatte Mrs. Gresham ihn zu sich gebeten. Natürlich waren auch ihr die Gerüchte zu Ohren gekommen, die in der britischen Truppe die Runde machten. Der Herzog sah sich außerstande, ihren Schmerz um den Verlust des Gatten zu lindern, sondern mußte zugeben, daß die Frau, die mit ihrem Gatten zusammen gewesen war, unter Spionageverdacht stand.

Mrs. Gresham hielt sich sehr tapfer, obwohl auch sie zu der bitteren Erkenntnis gelangt war, daß diese russische Spionin in einer schwachen Stunde Charles Gresham ausgehorcht und erfahren hatte, welche Order ihm erteilt worden war. Daher war sie für seinen Tod verantwortlich.

In Lucknow hatte den Herzog dann die Nachricht ereilt, daß seine Mutter in England erkrankt sei.

Er hatte Sonderurlaub erhalten und mit dem ersten Schiff, das Bombay verließ, die Heimreise angetreten. Mrs. Gresham und ihre kleine Tochter hatten sich zufällig auf demselben Schiff befunden, um ebenfalls nach England zurückzukehren.

Er war eng mit Charles Gresham befreundet gewesen, der ihm zudem das Leben gerettet hatte. Deshalb war er bemüht, alles zu tun, um der Witwe die Überfahrt erträglich zu gestalten, wußte er doch, daß ihre Zukunft ohne den geliebten Gatten trostlos sein würde.

Im Laufe ihrer langen Gespräche erfuhr er außerdem, daß sie nicht nur mittellos war, sondern auch nur wenige Verwandte hatte.

Sie berieten über ihre Zukunft, während sie das Rote Meer überquerten und in Port Sudan vor Anker gingen.

Danach hatte das Schiff langsam den neu eröffneten Suezkanal durchquert, und als es sich schließlich Alexandria näherte, erfuhr der Herzog, daß Mrs. Gresham an einem bösartigen Fieber erkrankt war, das sie sich vermutlich beim Besuch eines einheimischen Basars zugezogen hatte.

Der Schiffsarzt konnte wenig für sie tun.

Er bestand jedoch darauf, daß die kleine Solita von ihrer Mutter ferngehalten wurde, damit sie sich nicht ansteckte.

Die Kleine verbrachte die meiste Zeit mit Hugo Leigh und anderen Offizieren, die sich an Bord befanden.

Sie war ein hübsches Kind und sah mit ihren goldblonden Locken und den strahlend blauen Augen aus wie ein kleiner Engel.

Sie huschte mit einer Grazie über das Deck, daß es aussah, als würde sie schweben.

Der Herzog erinnerte sich daran, daß sie eines Abends im Salon zu der Musik, die einer der Offiziere auf dem Klavier spielte, getanzt hatte.

Sie war ganz versunken gewesen in ihren Tanz und hatte ihr Publikum völlig vergessen. Erst als die Musik verklang und alle Beifall klatschten, schien ihr bewußt zu werden, daß sie Zuschauer gehabt hatte.

Er hatte das Kind für ungewöhnlich begabt gehalten und konnte jetzt verstehen, daß sie sich zur Ballettänzerin berufen fühlte.

Mrs. Gresham war drei Tage später gestorben.

Solita hatte sich an Hugo Leighs Schulter ausgeweint und Trost bei ihm gesucht.

»Was geschieht jetzt mit mir?« hatte sie ihn schluchzend gefragt. »Du schickst mich doch nicht in ein Waisenhaus?«

Hugo Leigh wußte, daß ihr davor graute, seit sie die Waisenhäuser in Indien gesehen hatte. Die Kinder dort waren zwar gut genährt, aber einem strengen Regiment unterworfen.

Unwillkürlich verstärkte sich der Druck seiner Arme um den zierlichen Körper, als er ihr feierlich versprach:

»Das werde ich niemals zulassen!«

»Aber ... wo soll ich dann hin?«

Tränen strömten über die bleichen Wangen, während sie ängstlich zu ihm aufblickte. In diesem Augenblick erschien sie ihm liebreizender als je zuvor.

»Ich denke mir etwas aus«, sagte er.

»Versprichst du das? Gibst du mir dein heiliges Ehrenwort?« fragte sie.

»Ich verspreche es dir«, erwiderte er, ohne zu wissen, ob er dieses Versprechen jemals würde einlösen können.

Bei ihrer Ankunft in Neapel war ihm seine Cousine väterlicherseits eingefallen, die in Sorrento lebte.

Mildred Leigh ging auf die Sechzig zu und litt an Rheumatismus. Die Ärzte hatten ihr deshalb geraten, sich in wärmeren Gefilden niederzulassen.

Sie war eine sanftmütige Frau, die nie geheiratet hatte und sich deshalb besonders in dem fremden Land oft einsam fühlte.

Einem spontanen Entschluß folgend war der Herzog mit Solita zu ihr gefahren.

Mildred hatte sein Problem sofort erfaßt und sich bereit erklärt, für Solita zu sorgen.

»Es wäre für mich ein großes Glück, mein lieber Junge«, versicherte sie dem Herzog. »Sie wird die beste Schule von Neapel besuchen und ganz sicher zu einer kleinen Schönheit heranwachsen.«

So schien alles nach Wunsch zu verlaufen, doch der Abschied war herzzerreißend. Solita klammerte sich an ihn und wollte ihn nicht mehr loslassen. Er war der einzige Mensch, der ihr geblieben war, nachdem sie ihre Eltern verloren hatte, und deshalb hing sie mit kindlicher Liebe an ihm.

»Du . . . wirst mich doch nicht vergessen?« fragte sie flehend. »Du besuchst mich doch bald wieder, nicht wahr?«

»Sobald ich kann«, versprach er. »Du darfst nicht vergessen, daß ich ein Soldat bin - wie dein Vater.«

»Aber du denkst oft an mich, ja?«

»Ganz bestimmt werde ich das tun.«

Er hatte ihr zum Abschied einen Kuß gegeben.

Er erinnerte sich, wie die kleine verlorene Gestalt mit Tränen in den Augen auf den Stufen vor der Villa gestanden und ihm lange nachgewinkt hatte.

Monatelang hatte er Solita aus allen Teilen der Welt Ansichtskarten geschrieben und sich nach ihrem Befinden erkundigt.

Dann erfolgte seine Versetzung nach Westindien. Zwei Jahre später wurde er mit einem Sonderauftrag nach Indien abkommandiert.

In Kalkutta hatte ihn dann eine Nachricht erreicht, die er nie für möglich gehalten hatte.

Ihm war der Titel des vierten Herzogs von Calverleigh zugefallen.

Sein Vater war der jüngere Sohn des dritten Herzogs gewesen und der Tradition entsprechend sehr kurz gehalten worden, während der gesamte Besitz an seinen älteren Bruder übergegangen war.

Hugo Leigh hatte das nichts ausgemacht. Er hatte sein Auskommen als Soldat und war damit völlig zufrieden.

Deshalb traf ihn die Unglücksnachricht aus England wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Sein Großvater, der amtierende Herzog, und sein Onkel, der Marquis von Calver, waren bei einer stürmischen Überfahrt über die Irische See ertrunken.

Sie waren auf dem Weg nach Irland gewesen, um dem Vizekönig einen Besuch abzustatten und Zuchtstuten für das Gestüt des Herzogs zu erwerben.

Hugo Leigh war sofort von Indien nach Hause geeilt und hatte eine Menge zu ordnen gehabt.

Königin Viktoria hatte ihm in Windsor eine Audienz gewährt, woraufhin sich sein ganzes Leben auf phantastische Weise änderte.

Aus dem unbekannten Hauptmann war ein wohlhabender Aristokrat geworden, dem eines der schönsten Schlösser Englands gehörte.

Der Herzog gestand sich ein, daß er Solita darüber vernachlässigt hatte.

Er hatte immerhin sofort nach seiner Ankunft in England die Familienanwälte beauftragt, Nachforschungen nach dem Hab und Gut von Charles Gresham anzustellen.

Sie sollten die rechtliche Grundlage dafür schaffen, daß vorhandene Gelder gewinnbringend für das Kind des Gefallenen investiert wurden.

Danach hatte er sich nicht mehr darum gekümmert, wie er jetzt zu seinem Bedauern feststellen mußte, da er davon ausgegangen war, daß Mildred sich mit ihm in Verbindung gesetzt hätte, wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre.

Während er nun Solitas vorwurfsvollen Blick auf sich spürte, wurde ihm seine Unterlassungssünde erst richtig bewußt, und er konnte nur bedauernd sagen: »Es tut mir leid, Solita. Hoffentlich können Sie mir verzeihen.«

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