Im Zeichen der Liebe

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Im Zeichen der Liebe
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Im Zeichen der Liebe

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2018

Copyright Cartland Promotions 1978

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1 ~ 1869

Die Passagiere des Dampfschiffes, das von Calais kommend den Kanal überquert hatte, beeilten sich, in Dover von Bord zu gehen. Trotz des Nieselregens schienen sie erleichtert und sichtlich froh, weil die Überfahrt hinter ihnen lag und sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

Ein junges Mädchen, in dessen grauen Augen eine Andeutung von Angst lag, kam langsam die Gangway herunter und stützte dabei eine ältere Frau. Es dauerte ziemlich lange, bis sie den Kai erreicht hatten, so daß die Passagiere hinter ihnen murrten und sie zur Eile anzutreiben versuchten.

Kaum hatten die beiden das nasse Pflaster des Piers betreten, schwankte die alte Frau, und dem Mädchen gelang es nur mit Mühe, sie zum Karren eines Trägers zu führen, damit sie sich darauf niederlassen konnte.

Stöhnend hielt die Frau die Hände vors Gesicht.

„Je suis malade, très malade.“

„Ich weiß, Mademoiselle“, sagte das Mädchen, „wenn Sie sich aber ein letztes Mal zusammennehmen, können wir noch den Zug erreichen, und Sie brauchen sich dann bis zur Ankunft in London nicht mehr zu rühren.“

Ein klägliches Aufstöhnen war die einzige Reaktion der Französin.

„Kommen Sie“, bat das junge Mädchen eindringlich, „es ist nicht weit. Stützen Sie sich auf mich, Mademoiselle, oder noch besser, ich lege meine Arme um Sie.“

Sie versuchte die ältere Frau hochzuziehen, vergeblich, wie es sich zeigte.

„Non, c’est impossible!“ flüsterte die Französin.

„Wir dürfen den Zug nicht verpassen“, drängte das Mädchen. „Bitte, Mademoiselle, Sie müssen es versuchen!“

Sie richtete ihre Begleiterin mühsam auf, doch plötzlich brach die alte Dame zusammen und blieb unbeweglich auf dem Boden liegen.

Entsetzt starrte das Mädchen auf seine Begleiterin.

Jetzt ging ihr auf, daß Mademoiselle wirklich krank sein mußte und nicht nur an den Folgen der Seekrankheit litt, wie sie zunächst vermutet hatte.

Die Überfahrt war stürmisch gewesen, so stürmisch, daß die Mehrzahl der Passagiere seekrank wurde, kaum daß das Schiff den Hafen von Calais verlassen hatte, und Mademoiselle Bouvais hatte ihr schon vor ihrer Abreise anvertraut, daß sie nicht seefest war.

Bettina aber hatte keine Ahnung gehabt, wie schlimm alles kommen sollte, noch ehe der Dampfer zu stampfen anfing, sich heftig hob und senkte, daß er auf offener See zu kentern drohte.

Wie schon oft während der Reise mußte Bettina auch jetzt daran denken, daß es reiner Wahnsinn gewesen war, ihr eine so betagte Begleiterin mit auf den Weg zu geben, obwohl sie genau wußte, daß Mademoiselle Bouvais von allen Lehrerinnen der Schule die entbehrlichste war.

Verzweifelt hielt Bettina nach Hilfe Ausschau.

Doch die Passagiere und die vorübereilenden Träger hatten für die reglos Daliegende nicht einen einzigen Blick übrig.

In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an eine ältere Dame, die einen freundlichen Eindruck machte.

„Bitte, können Sie mir helfen? Meine Begleiterin . .“

Sie wurde fast rüde beiseite gestoßen, und die Dame fegte mit raschelnden Seidenröcken, in ein warmes Pelzcape gehüllt, an ihr vorüber, dem wartenden Zug zu.

„Träger! Träger!“ rief Bettina, doch die Träger waren zu beschäftigt, um sie zu beachten. Sie schoben ihre mit Gepäck hochbeladenen Karren vor sich her, während die Besitzer der Koffer komplizierte Wünsche bezüglich des Platzes im Zug äußerten: „Erste Klasse in Fahrtrichtung“, „Ecksitz zweite Klasse“, „im Damenabteil“, „im Speisewagen.“

Was soll ich nur machen? fragte sich Bettina verzagt.

Ein Blick auf Mademoiselle Bouvais zeigte ihr, daß diese aschfahl war und die Augen geschlossen hielt. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun, denn Mademoiselle hätte ebenso gut tot sein können. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an einen Gentleman, der ohne Begleitung war.

„Sie müssen mir helfen!“ rief sie. „Meine Begleiterin ist tot oder liegt im Sterben, und kein Mensch hilft!“

Der Gentleman sah erst Bettina an und dann die auf dem Boden liegende Mademoiselle Bouvais, deren graue Haare unter dem Häubchen schon vom Regen durchnäßt waren.

Wortlos bückte er sich und nahm die Reglose auf die Arme, um sie ins Trockene zu bringen.

„Oh, ich danke Ihnen! “ sagte Bettina atemlos. „Sie litt schwer unter der Seekrankheit, und jetzt fürchte ich, daß ihr Herz das nicht gut verkraftet hat.“

„Das ist gut möglich. Ich halte es für angebracht, daß sich sofort ein Arzt um sie kümmert“, sagte der Gentleman.

„Sie meinen, schon hier in Dover?“

„Es gibt hier sicher ein Krankenhaus. Ich werde mich sofort danach erkundigen.“

Sie waren vor dem Wartesaal angelangt, und Bettina öffnete eilig die Tür, damit er seine Last hineintragen konnte. Mademoiselle Bouvais sah in seinen Armen klein und mitleiderregend aus. Sie war so blaß und ihre Haut so durchscheinend, daß Bettina meinte, eine Tote vor sich zu sehen.

Nachdem der unbekannte Gentleman sie auf die schwarze, mit Leder überzogene Sitzbank gelegt hatte, die eine Wand des Raumes einnahm, fühlte er ihr den Puls und stellte fest: „Sie lebt.“

„Gottlob!“ hauchte Bettina. „Ich hatte Angst... schreckliche Angst.“

„Das kann ich gut verstehen. Die Dame ist nicht mehr die Jüngste.“

„Sie ist die einzige Lehrkraft, die die Schule mir als Begleitung mitgeben konnte.“

Ihre Erklärung entlockte ihm ein kaum merkliches Lächeln.

„Warten Sie hier“, sagte er. „Ich erkundige mich, wie es hier um ärztliche Hilfe und ein Krankenhaus bestellt ist.“

Damit verließ er den Wartesaal. Bettina zog besorgt den Rock ihrer Begleiterin herunter, damit man die geknöpften Schuhe nicht sehen konnte, dann löste sie die Kinnbänder der Haube.

Mademoiselle Bouvais lag so leblos und bleich da, daß Bettina den Puls der alten Dame prüfte, als müßte sie sich vergewissern, daß der fremde Gentleman sich nicht getäuscht hatte.

Der Puls war schwach, so schwach, daß sie zunächst glaubte, sie bilde sich nur ein, etwas zu spüren. Zum Glück brannte im Kamin des Wartesaales ein wärmendes Feuer, ein Glück auch, daß der Raum leer war.

Der Lärm vom Bahnsteig her zeigte an, daß die Abfahrt des Zuges nach London kurz bevorstand. Sicher hatte der Träger unterdessen ihr Gepäck im Gepäckwagen verstaut und hielt nach ihnen Ausschau, um sich sein Trinkgeld abzuholen.

Als sie von Bord gingen, war er ihnen vorausgeeilt, im Vertrauen darauf, daß sie ihm folgen würden.

Falls Papa die Absicht hatte, mich abzuholen, wird er sich Sorgen machen, überlegte Bettina einen Moment lang.

Doch das war jetzt unwichtig.

Erst mußte sie sich um Mademoiselle kümmern und dafür sorgen, daß sie sich wieder erholte.

Plötzlich wurde sie von der Angst erfaßt, der freundliche Herr könnte sie im Stich gelassen haben, weil er den Zug nicht verpassen wollte. Doch als ein Pfiff ertönte und der Fähren-Expreß den Geräuschen nach losfuhr, wurde die Tür des Wartesaales geöffnet. Bettina stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, da der Gentleman in Begleitung eines Mannes in mittleren Jahren, der der Arzt sein mußte, eintrat. Dieser nahm sich sofort der Bewußtlosen an, fühlte nach einem kurzen Blick in ihr Gesicht den Puls, zog dann ein Stethoskop aus seiner schwarzen Tasche und horchte sie ab.

„Mylord, Sie hatten recht“, sagte der Arzt sodann. „Ein durch heftige Seekrankheit hervorgerufener Herzanfall. Leider ein häufiges Zusammentreffen.“

„Können wir sie in ein Krankenhaus schaffen?“ fragte der Gentleman.

„Selbstverständlich, Mylord. Das ist kein Problem. Ich werde sofort einen Krankenwagen kommen lassen. Wenn Sie mich kurz entschuldigen.“

„Danke, Doktor. Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen.“

Erst jetzt sah der Arzt Bettina zum ersten Mal an.

„Seine Lordschaft sagte mir, die Dame sei Lehrerin und fungiere als Ihre Reisebegleiterin.“

„Ja, Mademoiselle Bouvais entschloß sich - allerdings nur sehr widerstrebend - mitzukommen, da sie nicht seefest ist.“

Der Arzt nickte.

„Im Krankenhaus können Sie mir dann alle Einzelheiten angeben“, sagte er.

Mit einer höflichen Verbeugung vor dem Gentleman, den er mit Mylord angesprochen hatte, verließ er eilig den Wartesaal.

„Es tut mir leid, daß Sie unseretwegen Ihren Zug verpaßt haben“, sagte Bettina leise, „doch bin ich Ihnen für Ihre Hilfe... sehr dankbar.“

„Es freut mich, daß ich Ihnen helfen konnte. Was werden Sie tun, wenn Mademoiselle im Krankenhaus untergebracht ist?“

„Ach, ich werde den nächsten Zug nach London nehmen. Sicher wird mein Vater sich Sorgen machen, wenn ich nicht mit dem Fähren-Expreß ankomme.“

„Wie war doch gleich Ihr Name?“ fragte der Gentleman.

„Bettina Charlwood.“

„Ich bin Eustace Veston — Lord Eustace Veston.“

„Nochmals vielen Dank für Ihre Güte und Hilfsbereitschaft. Niemand wollte mir Gehör schenken.“

„Auf einem Bahnhof benehmen sich die wenigsten Menschen wie gute Samariter“, erwiderte Lord Eustace.

„Das stimmt. Sicher hängt das mit der Angst der meisten Menschen vor der Eisenbahn zusammen. Züge sind groß und laut und wirken ziemlich einschüchternd.“

„Ich will nachsehen, wann der nächste Zug nach London abfährt“, sagte Lord Eustace. „Ihr Gepäck ist sicher schon unterwegs?“

 

„Ich denke schon“, antwortete Bettina. „Ich muß aber unbedingt veranlassen, daß Mademoiselles Koffer zurückgeschickt werden.“

„Machen Sie sich deswegen vorerst keine Gedanken. Im Krankenhaus bekommt sie alles Nötige.“

Nach einem Blick auf die reglose alte Dame bückte er sich, um nach ihrem Handgelenk zu fassen. Bettina sah, daß er den Puls fühlte. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf das Ergebnis, da sie seine Befürchtung ahnte.

Nachdem er lange dagestanden und das schmale, blaugeäderte Gelenk, das von dem schwarzen Taft des Ärmels umschlossen war, festgehalten hatte, ließ er es behutsam los und sah Bettina ernst an.

„Es tut mir leid, es ist zu spät.“

„O nein!“

Mit einem leisen Aufschrei kniete Bettina neben Mademoiselle nieder, den Blick auf das Gesicht der alten Dame gerichtet, als erwarte sie, die Ärmste würde die Augen aufschlagen und Lord Eustace Lügen strafen.

„Sie kann nicht tot sein... unmöglich!“ rief Bettina verzweifelt.

Obwohl Mademoiselle Bouvais uralt wirkte und zudem niemals über viel Lebenskraft und Lebenswillen verfügt hatte, hielt Bettina es für angebracht, mehr Trauer zu zeigen, als sie tatsächlich empfand.

Ich sollte ein Gebet sprechen, sagte Bettina sich, doch war es ihr zu peinlich in Gesellschaft eines Mannes, den sie kaum kannte, auf dem Boden des Wartesaales niederzuknien.

Ruhe in Frieden, flüsterte sie insgeheim, während sie sich ein wenig unbeholfen aufrichtete.

„Sie können nichts mehr tun“, sagte Lord Eustace. „Sobald der Arzt wieder zur Stelle ist, werde ich mich erkundigen, wann der nächste Zug nach London abfährt.“

„Aber darf ich Mademoiselle einfach so zurücklassen? Wie steht es mit der Beerdigung? Sie war Katholikin.“

„Das dachte ich mir. Ich glaube, wir können alles getrost dem Arzt überlassen, der mir ein sehr vernünftiger Mensch zu sein scheint. Er soll in Dover eine große Praxis haben.“

Auf Bettinas unentschlossenen Blick hin, bat er sie: „Überlassen Sie alles mir. Sicher möchte Ihr Vater Sie möglichst rasch bei sich haben.“

„Er würde Verständnis dafür aufbringen, daß ich... in gewisser Weise für Mademoiselle Bouvais verantwortlich bin“, antwortete Bettina leise.

„Nun, eigentlich hätte Mademoiselle für Sie verantwortlich sein sollen.“

Als Bettina daraufhin ein kleiner Schauer überlief, forderte, er sie auf: „Kommen Sie doch näher ans Feuer. Ein Ereignis wie dieses ist immer ein Schock. Soll ich Ihnen eine Tasse Tee bringen lassen?“

„Nein, es geht schon wieder, vielen Dank. Sie waren bereits so überaus hilfsbereit und zuvorkommend, daß ich Sie nicht weiter behelligen möchte.“

„Ich freue mich, wenn ich helfen kann.“

Bettina ging nun näher ans Feuer heran und hielt die Hände an die Flammen.

„Glauben Sie, daß das Arzthonorar und die Kosten für die Beerdigung sehr hoch sein werden?“ fragte sie beklommen. „Leider bin ich sehr knapp bei Kasse. Papa wird einen Scheck schicken, sobald ich in London ankomme.“

„Das werde ich dem Arzt sagen“, meinte darauf Lord Eustace. „Aber Sie sollten sich lieber setzen. Ich weiß, daß dies alles für Sie sehr aufregend war.“

„Wären Sie nicht zur Stelle gewesen, hätte ich mich noch viel mehr aufgeregt.“

Bettina folgte seinem Vorschlag und setzte sich, da sie das Gefühl hatte, ihre Beine wollten sie nicht länger tragen. Es war das erste Mal, daß sie eine Tote gesehen hatte, und das Wissen, wie rasch der Tod eintreten kann, flößte ihr Angst ein.

Eben noch hatte Mademoiselle wortreich und ausführlich über ihre Seekrankheit geklagt, hatte gejammert und gestöhnt, und im nächsten Moment war sie verstummt und tot!

Jetzt sah sie so klein und zart aus, daß man sich fragte, wie jemals ein Zögling ihr gehorcht, ja, wie sie überhaupt an der Schule Autorität hatte ausüben können.

Tot!

Ein schreckliches Wort! ging es Bettina durch den Sinn. Ein Wort, das etwas Endgültiges an sich hat. Im Moment fiel es ihr ungemein schwer, sich vorzustellen, daß Mademoiselle, die sehr fromm gewesen war, in den Himmel kommen würde.

„Ich hole Ihnen eine Tasse Tee“, unterbrach Lord Eustaces Stimme Bettinas Gedankengänge. Er verließ den Wartesaal, und Bettina, die in einem Stuhl vor dem Kamin saß, warf einen scheuen Blick auf die auf der Sitzbank liegende Tote.

Ich muß für sie beten, da sonst niemand ein Gebet für sie spricht, dachte sie.

Und sie fragte sich gleich darauf allen Ernstes, ob sie auf der Überfahrt Mademoiselle Bouvais gegenüber freundlich genug gewesen war. Die alte Dame war nicht unbedingt eine Frau gewesen, der man Aufmerksamkeit oder gar Liebe oder Zuneigung entgegengebracht hatte.

Mademoiselle Bouvais war bei ihren Zöglingen nicht beliebt gewesen. Vielleicht war es ihrer kleinen, gedrungenen Statur zuzuschreiben, daß sie sich als Tyrannin gebärdete und dazu neigte, alle zu bevormunden und sich dabei ständig und grundlos über alles Mögliche zu beklagen.

Arme Mademoiselle, dachte Bettina. Vielleicht war die alte Dame jetzt glücklicher als in ihrem langen und frustrierenden Leben als Lehrerin.

Bei allen anderen Lehrerinnen - dank Madame de Vesaries Sorgfalt bei der Auswahl ihrer Lehrkräfte meist bemerkenswerte Persönlichkeiten, die den Ruf des Instituts als eines der besten in ganz Frankreich begründeten - hatten die Mädchen eifersüchtig um ein ermutigendes Lächeln oder gar ein Lob gekämpft.

„In ganz Europa existiert keine Schule, die sich mit unserer messen könnte“, hatte Madame sich oft gerühmt.

Mademoiselle Bouvais hatte am Institut viele Jahre gelehrt, so daß sie über die Geschichte der Schule besser Bescheid wußte als Madame selbst. Sicher war dies einer der Gründe ihres Verbleibs an der Schule, denn sie war auch noch da, als sie schon zu alt war, um selbst noch zu unterrichten.

Bettina wußte, daß der Tod der alten Lehrerin für die Schule und Madame de Vesarie keine besondere Bedeutung hatte. Man würde den Zöglingen die traurige Nachricht nach dem gemeinsamen Morgengebet mitteilen, worauf alle noch ein Gebet für Mademoiselles Seele sprechen würden. Und alsbald würde sie ganz vergessen sein.

Es erschien Bettina sehr bedauerlich, daß ein langes Menschenleben mit einem einzigen Gebet und anschließendem raschen Vergessen abgetan sein sollte. Sie wünschte sich, weinen zu können oder wenigstens imstande zu sein, Mademoiselle aufrichtiger zu betrauern.

Dann aber regte sich ihr Widerspruchsgeist, und sie sagte sich: Wozu trauern? Ich mochte Mademoiselle nicht besonders, als sie noch am Leben war. Warum sollte ich jetzt so tun als ob, nur weil sie tot ist?

Unwillkürlich mußte sie daran denken, was ihr Vater vor langer Zeit einmal vor einer Beerdigung gesagt hatte: „Eine Fülle teurer Blumen am Grab, doch als sie noch lebte, hatte niemand auch nur ein welkes Gänseblümchen für sie übrig.“

Nichts könnte falscher sein, sagte sich daraufhin Bettina. Wir sollten mit den Menschen liebevoller umgehen und weniger Aufhebens um die Toten machen.

Sie dachte an die vielen Blumen in der Kirche, als ihre Mutter zu Grabe getragen worden war. Viele Kränze waren von Leuten gekommen, die ihre Mutter nicht gemocht hatte und die sie in ihrem Haus nie geduldet hätte.

Ich möchte wissen, warum diese Blumen geschickt wurden? hatte Bettina sich damals gefragt.

Diese Frage hätte ihre Mutter belustigt, da diese gewußt hatte - ohne es je auszusprechen -, daß die Spender der Blumen sich ihren Vater warmhalten wollten, da dieser zum engsten Kreis des Prince of Wales gehörte und viele einflußreiche und mächtige Freunde hatte.

Verknüpft mit der Erinnerung an die Beerdigung ihrer Mutter war der Gedanke, daß ihrem Vater damals fast das Herz gebrochen war, er sich aber von dem Schock glücklicherweise rasch erholt hatte.

„Das Leben geht weiter“, hatte er gesagt, während seine Tochter noch rotgeweinte Augen hatte.

Sie selbst litt unter dem Verlust so sehr, daß ihr immer die Tränen kamen, wenn sie an ihre Mutter dachte.

„Ja, ich weiß, Papa“, hatte sie sich als Antwort abgerungen, da sie wußte, daß er es erwartete.

„Als nächstes werde ich deiner Taufpatin Lady Buxton einen Besuch abstatten“, hatte ihr Vater erklärt. „Sie hatte stets großes Interesse an dir, und ich fürchte auch, daß sie im Augenblick die einzige ist, die uns helfen kann.“

„Auf welche Weise, Papa?“

„Da bin ich nicht sicher“, hatte ihr Vater erwidert. „Sicher bin ich nur, daß Sheila Buxton wissen wird, was zu tun ist.“

Lady Buxton hatte es tatsächlich gewußt, denn ehe Bettina wußte, wie ihr geschah, hatte man sie nach Frankreich geschickt, wo sie die nächsten drei Jahre in Madame de Vesaries Institut verbringen sollte.

In diesem Jahr war sie nun achtzehn geworden und hatte geglaubt, sie würde im April die Schule verlassen, um wie ihre gleichaltrigen Freundinnen in die Gesellschaft eingeführt zu werden.

Als sie ihrem Vater davon schrieb, mußte sie erfahren, daß Lady Buxton erkrankt war.

„Bleib, wo du bist“, hatte ihr Vater geantwortet. „Im Moment kann ich deine Taufpatin nicht behelligen, und ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß sie dich präsentiert, solange sie bettlägerig ist.“

Bettina war es nicht leichtgefallen, plötzlich als ältester Zögling dazustehen und Briefe von ihren Freundinnen zu bekommen, in denen diese begeistert Bälle, Theateraufführungen und Unterhaltungen beschrieben, die sie besuchten, während Bettina von einer eigenen Lehrerin Privatstunden erhielt, da sie auch für den Unterricht in der obersten Klasse zu fortgeschritten war.

Vor zwei Wochen hatte ihr Vater sie wissen lassen, daß ihre Taufpatin gestorben war und daß sie unverzüglich nach Hause kommen sollte. Es war für sie und auch für Madame de Vesarie eine große Überraschung.

„Bettina, eigentlich hatte ich angenommen, dein Vater würde dich das Jahr hier beenden lassen“, sagte Madame.

„Wenn du ihn wiedersehen wirst, könntest du ihn daran erinnern, daß er das Schulgeld, das immer im Voraus bezahlt wird, noch nicht überwiesen hat. Natürlich gibt es in deinem Fall Abzüge, er sollte aber nicht vergessen, daß das Schuljahr bereits am ersten September begonnen hat.“

„Ja, Madame.“

Ohne daß man es ihr ausdrücklich hätte sagen müssen, wußte Bettina sofort, warum man sie nach Hause beordert hatte. Ihre Taufpatin war für das Schulgeld aufgekommen, und mit ihrem Tod hatte auch ihre Großzügigkeit ein Ende gefunden. Nur aus diesem Grund mußte sie gehen.

Solange Bettina zurückdenken konnte, hatten ihre Eltern finanzielle Schwierigkeiten gehabt, was ihren Vater nicht daran hinderte, regen Umgang mit seinen reichen Freunden zu pflegen und deren Neigungen, seien sie auch noch so kostspielig, zu teilen.

Er jagte und nahm an Rennen teil, kurz, er tat alles, was im Kreis des ,Marlborough House Set‘, das sich um den Prince und die Princess of Wales scharte, als standesgemäßes Vergnügen galt.

Bettinas Herz wurde schwer bei dem Gedanken, daß es nach Lady Buxtons Tod sehr fraglich war, ob die nötigen Mittel für ein neues Ballkleid vorhanden waren - vorausgesetzt, sie bekäme überhaupt eine Einladung zu einem Ball.

Sie war in Gedanken so weit weg, daß sie erschrak, als Lord Eustace den Wartesaal wieder betrat. Er befand sich in Begleitung eines Bediensteten, der auf einem Tablett eine Teekanne und Schinkensandwiches brachte.

Das Tablett wurde auf einem Stuhl neben Bettina abgestellt, und nachdem der Bedienstete sich bei Lord Eustace für das offenbar reichliche Trinkgeld überschwenglich bedankt hatte, entfernte er sich wieder.

„Sie werden sich sofort besser fühlen, wenn Sie sich ein wenig gestärkt haben“, sagte Lord Eustace.

„Sie sind sehr liebenswürdig.“

„Der nächste Zug geht in einer halben Stunde“, sagte er. „Ich habe für Sie einen Platz im Damenabteil reservieren lassen. Sie werden darin auch einen Proviantkorb vorfinden.“

Bettina bedankte sich abermals und goß Tee ein.

Lord Eustace hatte recht. Sie fühlte sich sofort besser, so viel besser, daß sie nach einem der Schinkensandwiches griff und hineinbiß. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie hungrig sie war.

An Bord hatte niemand einen Bissen essen wollen, und sie war zu schüchtern gewesen, um allein zu Tisch zu gehen. Das Sandwich mundete so vortrefflich, daß sie, nachdem sie das erste verzehrt hatte, sofort zum zweiten griff.

Sie hatte es noch nicht aufgegessen, als der Arzt wiederkam. Bettina stand hastig auf.

„Bleiben Sie sitzen“, bat sie Lord Eustace, „und überlassen Sie alles mir.“

 

Er zog den Arzt in eine Ecke des Raumes und sprach so leise mit ihm, daß Bettina nichts verstehen konnte. Sie konnte nicht einfach so dasitzen und essen und trinken, denn plötzlich wurde ihr wieder deutlich die Gegenwart der toten Mademoiselle bewußt.

Männer mit einer Tragbahre kamen herein, hoben die Tote auf die Bahre und deckten sie mit einer Decke zu.

Bettina hatte das Gefühl, der Toten irgendwie Lebwohl sagen zu müssen, doch die Männer trugen sie hinaus, unpersönlich und ungerührt, und die Tür schloß sich wieder hinter ihnen.

Der Arzt sprach noch immer mit Lord Eustace. Bettina fiel erst jetzt auf, daß sie Mademoiselles Papiere in Händen hielten, die sie deren Tasche entnommen hatten.

Nachdem die beiden ihr Gespräch beendet hatten, kam der Arzt auf Bettina zu.

„Als Adresse ist Madame de Vesaries Institut angegeben“, sagte er. „Sollen wir das Institut direkt benachrichtigen?“

„Ja, bitte“, gab Bettina zur Antwort. „Falls sie Angehörige und ein Zuhause hat, so ist mir davon nichts bekannt.“

„Hm, ich verstehe. Nun, Miss Charlwood, seien Sie versichert, daß alles Nötige unternommen wird. Ich ließ bereits vom Krankenhaus aus einen Priester verständigen. Er war darauf vorbereitet, die Sterbesakramente zu erteilen und wird jetzt für eine Beerdigung auf einem katholischen Friedhof sorgen.“

„Haben Sie vielen Dank. Sie haben sich sehr um Mademoiselle bemüht.“

„Es tut mir unendlich leid, daß wir ihr nicht helfen konnten.“

Der Arzt drückte Bettina stumm die Hand, eine Geste, die ihr ins Gedächtnis rief, daß sie ihn auf sein Honorar ansprechen sollte, doch da fiel ihr ein, daß Lord Eustace versprochen hatte, sich um alles zu kümmern.

Papa muß es ihm zurückzahlen, sagte sie sich.

Sehr wahrscheinlich kannte Lord Eustace ihren Vater, der seinerseits fast alle Mitglieder der Aristokratie kannte.

Nachdem der Arzt gegangen war, setzte Lord Eustace sich ans Feuer.

„Ich sollte Ihnen die Adresse meines Vaters geben,“ sagte Bettina. „Vielleicht kennen Sie ihn auch. Mein Vater ist Sir Charles Charlwood, ein Freund des Prince of Wales.“

Zu ihrer Verwunderung schien Lord Eustace daraufhin zu erstarren.

„Ich habe von Ihrem Vater gehört, doch verkehre ich nicht in seinen Kreisen.“

„Nein?“

Bettina war überrascht.

„Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen .., ich mißbillige den Lebenswandel des Prinzen und seiner sogenannten Freunde.“

Wie um seine Ungehörigkeit wiedergutzumachen, beeilte er sich hinzuzusetzen: „Bitte, glauben Sie nicht, daß ich auch Ihren Vater, den ich nicht persönlich kenne, ablehne. Doch das Leben des Prinzen gibt Anlaß zu viel Klatsch und Tratsch, ein Umstand, der angesichts des Elends und der Not in unserem Land höchst verwerflich ist.“

„In Frankreich ist Seine Königliche Hoheit Gegenstand uneingeschränkter Bewunderung“, gab Bettina zu bedenken. „Er erfreut sich dort großer Beliebtheit.“

„Ja, man weiß, daß Seine Königliche Hoheit in Paris einen sehr guten Eindruck hinterließ“, mußte Lord Eustace zugeben. „Dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Extravaganz und die seiner Freunde ebenso wie die rauschenden Feste, die diese veranstalten, in krassem Widerspruch zur sozialen Situation der unteren Klassen stehen.“

„Ist es ... so schlimm?“

„Ja, Miss Charlwood. Ich persönlich bin zutiefst betroffen über die Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit derer, denen diese Probleme, die einem in jeder größeren Stadt Englands begegnen, am Herzen liegen sollten.“

Sein aufrichtiger Ton veranlaßte Bettina zu der Äußerung: „Man spürt, daß Sie den Armen helfen wollen.“

„Ja, das will ich, aber leicht ist es nicht. Ich kann Ihnen versichern, Miss Charlwood, daß man es nicht nur mit Gleichgültigkeit, sondern auch mit der selbstsüchtigen Ignoranz jener zu tun hat, deren Pflicht es wäre, besser informiert zu sein.“

„Die Armen können sich glücklich schätzen, daß Sie sich ihrer Sache annehmen“, antwortete Bettina mit einem Lächeln.

„Eines Tages möchte ich Ihnen zeigen, was ich unternehme, um den vom Glück weniger begünstigten Mitgliedern unserer Gesellschaft zu helfen. Leider ist es nur ein winziger Tropfen auf den heißen Stein.“

Lord Eustace brachte das alles mit großer Eindringlichkeit vor, so daß Bettina ihn mit neu erwachtem Interesse musterte. Der tragische Tod von Mademoiselle Bouvais hatte ihr kaum Zeit gelassen, sich den Mann näher anzusehen, der so freundlich um sie bemüht gewesen war.

Jetzt erst nahm sie bewußt wahr, daß er zwar gut aussah, sein scharfgeschnittenes Gesicht mit der hohen, intelligenten Stirn aber zu ernst, um nicht zu sagen grimmig wirkte.

Seine dezente Eleganz erweckte den Eindruck von beabsichtigter Unauffälligkeit, wenngleich ein Blick genügte, um festzustellen, daß seine Kleidung von einem erstklassigen Schneider stammte.

,Ein Mensch, der den Bedrängten stets hilfreich zur Seite steht, dachte Bettina, ,und deshalb hat er auch mir geholfen.

Lord Eustace warf einen Blick auf die Uhr.

„Unser Zug müßte jeden Augenblick eintreffen“, sagte er. „Warten Sie hier. Ich werde einen Träger suchen, der feststellt, wo sich unsere Plätze befinden.“

Als er den Wartesaal durchschritt, sah Bettina, daß er breitschultrig und stattlich, wenn auch nicht sehr hochgewachsen war.

Ein sehr ungewöhnlicher Mensch, dachte sie. So ganz anders als die anderen Männer, die ich kenne.

Sie dachte an die Freunde ihres Vaters, die sie jovial und gut gelaunt in Erinnerung hatte, mit der unvermeidlichen Zigarre zwischen den Lippen und dem ebenso unvermeidlichen Glas in der Hand. Rückblickend mußte sie sich eingestehen, daß deren Gehabe und deren Vergnügungssucht leichtfertig, wenn nicht gar frivol waren. Sie waren ebenso ganz anders als dieser ernsthafte junge Mann, dem das Schicksal der Armen so zu Herzen ging.

Ich hatte großes Glück, daß ich ihn ausgerechnet in diesem Moment traf, sagte sie sich mit einem leisen Seufzer. Ich wünschte, wir könnten im Zug nebeneinandersitzen und das Gespräch fortsetzen.

Ein Windstoß fegte durch die Park Lane und erfaßte den Zylinder des Gentleman, der vor Alveston House seinem Viersitzer entstieg.

Nur mit Mühe den Zylinder festhaltend, trat er durch die mächtige Tür und wurde in der Halle von einem livrierten Diener empfangen.

„Ein stürmischer Tag, Mylord“, bemerkte der Butler, der ihm aus dem Mantel half.

„Und kalt dazu“, brummte Lord Milthorpe, „aber damit muß man im Oktober schon rechnen.“

„Ganz recht, Mylord“, gab der Butler respektvoll zurück.

Er ging voraus und führte den Gast einen langen, mit Marmorfliesen ausgelegten Flur entlang, an dessen Ende er die hohen Türflügel aus Mahagoniholz öffnete und ankündigte: „Lord Milthorpe, Euer Gnaden!“

Der Herzog, der am anderen Ende des Raumes vor dem Kamin saß, blickte lächelnd auf.

„George, du hast dich verspätet“, rief er statt einer Begrüßung.

„Charles und ich fragten uns schon, was dir zugestoßen sein könnte.“

„Der Prinz hielt mich auf“, antwortete Lord Milthorpe.

Er ließ sich in einem bequemen Armsessel neben den anderen beiden Herren nieder und nahm von einem Diener ein Glas Sherry entgegen.

„Dachte ich es mir doch“, sagte der Herzog. „Wie geht es Seiner Königlichen Hoheit?“

„Der Prinz ist äußerst schlecht gelaunt und deprimiert“, lautete Lord Milthorpes Antwort.,

„Was ist denn nun schon wieder passiert?“ wollte Sir Charles Charlwood wissen. „Laß mich raten: Vermutlich hat ihm die Königin wieder einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es ist doch immer wieder dasselbe bei dem guten alten Bertie.“

„Erraten!“ rief Lord Milthorpe aus.

„In diesem Fall wirklich eine echte Schikane“, äußerte der Duke of Alveston lakonisch.

„Varien, ich finde es einfach beschämend, ach, was heißt hier beschämend, es ist ein Skandal“, ereiferte sich Lord Milthorpe, „daß wir bei der Eröffnung des Suezkanals nur durch unseren Botschafter in Konstantinopel vertreten werden sollen.“

„Allmächtiger!“ rief Sir Charles. „Der Prinz war überzeugt, er würde an den Feierlichkeiten teilnehmen können. Da der Khedive von Ägypten ihm und der Prinzessin beim letzten Besuch einen überwältigenden Empfang bereitet hatte, freute er sich schon sehr auf die nächste Ägyptenreise.“