Loe raamatut: «Verfassungsprozessrecht», lehekülg 9

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d) Entscheidung trotz Antragsrücknahme?

142

Mit der Rücknahme des Antrags[51], die auch nach der mündlichen Verhandlung noch möglich ist (BVerfGE 106, 210, 213), entfällt die Grundlage für eine Entscheidung des Gerichts (BVerfGE 85, 109, 113; 126, 1, 17). Das BVerfG behält sich jedoch vor, die Wirksamkeit der Rücknahme des Antrags zu prüfen und in der Sache zu entscheiden, wenn sich die Rücknahme als rechtsmissbräuchlich erweist (BVerfGE 98, 218, 242 f; implizit bekräftigt in BVerfGE 128, 224, 225 f).[52]

143

Beispiel:

Über eine Verfassungsbeschwerde gegen die Einführung der Rechtschreibreform hat das BVerfG entschieden, obwohl die Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde nach der mündlichen Verhandlung, aber noch vor Verkündung der Entscheidung zurückgenommen hatten. Der Grundsatz, dass ein Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde nachträglich zurücknehmen könne, komme „jedenfalls dann“ nicht zum Tragen, wenn das BVerfG die Verfassungsbeschwerde vor Erschöpfung des Rechtswegs im Hinblick darauf zur Entscheidung angenommen habe, dass die Beschwerde im Sinne des § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG von allgemeiner Bedeutung sei, wenn deswegen über sie mündlich verhandelt worden und die allgemeine Bedeutung auch in der Zeit bis zur Urteilsverkündung nicht entfallen sei (BVerfGE 98, 218, 242 f).

144

Diese Entscheidung, die in der Literatur sehr zwiespältig aufgenommen wurde[53], ist angesichts der Dispositionsmaxime (s.o. Rn 3 ff, 124) nicht unproblematisch[54]. Die richtige Sanktion für die missbräuchliche Rücknahme einer Verfassungsbeschwerde und die damit verbundene unnütze Inanspruchnahme der Kapazitäten des BVerfG dürfte die Verhängung einer Missbrauchsgebühr gem. § 34 Abs. 2 BVerfGG sein. In der Sache entscheiden darf das Gericht, wenn der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde zurücknimmt, nicht mehr.

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen › 2. Beschwerdefähigkeit

2. Beschwerdefähigkeit

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Gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG kann „jedermann“ Verfassungsbeschwerde erheben, dies aber nur mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt „in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein“. Beschwerdefähig[55] – fähig, Beschwerdeführer dieser Verfassungsbeschwerde zu sein – ist der Beschwerdeführer also nur dann, wenn er zwei Voraussetzungen erfüllt: er muss erstens die Verletzung eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts rügen und zweitens Träger dieses Rechts sein. Beschwerdefähig ist, wer Träger des konkreten Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts ist, dessen Verletzung er rügt (vgl BVerfGE 28, 314, 323; 115, 205, 227; 123, 267, 328 f)[56].

146

Beispiele:

Rügt der Beschwerdeführer die Verletzung einer Vorschrift, die nicht zu den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten zählt, ist er insoweit nicht beschwerdefähig. Rügt er die Verletzung eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts, das ihm nicht zusteht, ist er insoweit ebenfalls nicht beschwerdefähig.

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Nach vereinzelt vertretener anderer Auffassung kommt es nicht auf die konkret erhobene Verfassungsbeschwerde, sondern darauf an, ob der Beschwerdeführer überhaupt Träger von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten sein kann („prozessuale Grundrechtsfähigkeit“[57]). Ob der Beschwerdeführer Träger des Grundrechts sei, dessen Verletzung er rüge, sei „regelmäßig erst“ eine Frage der Beschwerdebefugnis[58]. Diese Auffassung überzeugt schon deshalb nicht, weil zu den im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügefähigen grundrechtsgleichen Rechten auch die sog. Verfahrensgrundrechte der Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG gehören, die nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl Rn 172) jedem Prozessbeteiligten – auch Behörden (BVerfGE 138, 64, 82 ff) – und damit buchstäblich „jedem“ zustehen können, „gleichgültig ob er eine natürliche oder juristische, eine inländische oder ausländische juristische Person ist“ (BVerfGE 64, 1, 11). Es macht daher keinen Sinn zu prüfen, ob der Antragsteller „überhaupt“ fähig ist, Verfassungsbeschwerdeführer zu sein. Damit lassen sich nämlich nur Personenmehrheiten ausscheiden, die überhaupt nicht rechtsfähig sind[59]. Und selbst solche Personenmehrheiten dürften für den Fall, dass ein Gericht sie doch als parteifähig ansehen sollte, Träger der Verfahrensgrundrechte sein. Eine Zulässigkeitsvoraussetzung aber, die (nahezu) jeder Beschwerdeführer erfüllt, ist wenig hilfreich[60]. Da die Vertreter dieser Ansicht ihren Obersatz oft nicht konsequent anwenden, kommen sie vielfach zu Ergebnissen, die mit der hier vertretenen Auffassung übereinstimmen[61].

148

„Grundrechte“ im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG sind alle im I. Abschnitt des Grundgesetzes („Die Grundrechte“) gewährleisteten subjektiven Rechte[62]. Mag der Wortlaut des § 90 Abs. 1 BVerfGG auch für ein „materielles“ Grundrechtsverständnis offen sein und subjektiv-staatsgerichtete Rechte außerhalb des Grundrechtsabschnitts nicht von vornherein ausschließen, spricht die Entstehungsgeschichte der Vorschrift doch deutlich für ein formelles Grundrechtsverständnis[63]. Subjektive Rechte außerhalb des Grundrechtskatalogs sind nur rügefähig, soweit sie zu den „in den Art. 20 Abs. 4, Art. 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen Rechte[n]“ gehören, für die sich die Bezeichnung „grundrechtsgleiche Rechte“ etabliert hat. Diese Aufzählung macht nur Sinn, wenn sie als abschließende verstanden wird[64]: Die Verletzung von Rechten, die nicht zu den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten gehören, kann im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht gerügt werden[65]. In einem ersten Schritt ist daher zu ermitteln, ob der Beschwerdeführer Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte rügt, sodann, ob er Träger dieser Rechte ist.

a) Grundrechte
aa) Rügefähige Rechte

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Nicht alle Bestimmung des I. Abschnitts des GG sind „Grundrechte“. Der Abschnitt enthält auch organisationsrechtliche Normen wie beispielsweise Art. 7 Abs. 1 GG (staatliche Schulaufsicht) oder Art. 12a Abs. 1 GG (Wehrpflicht). Grundrechte sind nur die Bestimmungen dieses Abschnitts, die dem Einzelnen subjektive Rechte gegen die deutsche Staatsgewalt einräumen. Schon ausweislich des Wortlauts gilt dies etwa für Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, die ausdrücklich vom „Recht“ auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit bzw vom „Recht“ auf Leben und körperliche Unversehrtheit sprechen. Andere Grundrechte wie etwa Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG sind nicht vom Grundrechtsberechtigten („Jeder“), sondern vom Schutzbereich her formuliert („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“), ohne dass zweifelhaft wäre, dass auch sie Grundrechte gewährleisten. Rügt der Beschwerdeführer die Verletzung solcher Bestimmungen, bedarf es keiner weiteren Ausführungen zum Grundrechtscharakter.

150

Nach wie vor umstritten ist aber beispielsweise, ob aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 u. 2 GG ein grundrechtlicher Anspruch auf Nicht-Antastung, Achtung und Schutz der Würde des Menschen folgt oder ob es sich insoweit „nur“ um objektives Verfassungsrecht handelt[66]. Das BVerfG hat in dieser Streitfrage spätestens in seinem Hartz-IV-Urteil eindeutig Stellung bezogen: Darin hat es nicht nur ein spezielles Grundrecht auf materielle Existenzsicherung aus Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitet, sondern auch betont, dass diesem Grundrecht „neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen eigenständige Bedeutung“ zukomme (BVerfGE 125, 175, 222; bestätigt in BVerfGE 137, 34, 72; 142, 353, 369 f u. BVerfG, 1 BvL 7/16 vom 5.11.2019, Abs.-Nr 118 f). Art. 1 Abs. 1 GG wird – wie schon sehr früh in der Rechtsprechung des Gerichts (BVerfGE 1, 332, 343) – ausdrücklich als „Grundrecht“ bezeichnet[67], und es konnte kaum zweifelhaft sein, dass der Erste Senat, der hier in einem konkreten Normenkontrollverfahren zu entscheiden hatte, eine ausschließlich auf Art. 1 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde als zulässig ansehen würde, wie er es 2016 in seinem Beschluss zur Berücksichtigung des Einkommens von Familienangehörigen bei der Gewährung von Grundsicherung getan hat (BVerfGE 142, 353, 367 f).[68]

151

Ausschließlich (!) eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG geprüft (und verneint) hatte das Gericht zuvor nur in einer den postmortalen Würdeschutz betreffenden Kammerentscheidung (BVerfG-K NJW 2001, 594 ff; vgl auch BVerfG-K NJW 2001, 5957 ff). Im Luftsicherheitsgesetz-Urteil hatte der Erste Senat zwar die Verfassungsbeschwerden auch insoweit als „zulässig“ bezeichnet, als sie auf eine Verletzung der Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG gestützt waren, in der Begründetheit aber Art. 1 Abs. 1 GG nur „in Verbindung mit“ dem vorrangig geprüften Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) herangezogen (BVerfGE 115, 118, 136 u. 152 f). „In Verbindung mit“ anderen Grundrechten geprüft (s. etwa BVerfGE 101, 361, 379 ff – „Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG“) oder als Grundrecht bezeichnet (s. etwa BVerfGE 102, 370, 393 – „die Menschenwürde und andere Grundrechte“) hatte das BVerfG die Menschenwürde auch in der Vergangenheit schon vielfach. – Dass nur natürliche Personen eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG geltend machen können, nicht jedoch Vereinigungen, betont das Gericht in BVerfGE 149, 160, 190 unter Bezugnahme auf BVerfGE 95, 220, 242.

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Keine Grundrechte vermitteln beispielsweise die in Art. 14 Abs. 2 GG geregelte Sozialbindung des Eigentums (BVerfGE 80, 137, 150) und die Sozialisierungsbestimmungen des Art. 15 GG. Die Regelungen des Art. 16 Abs. 1 S. 1, Art. 16 Abs. 2 S. 1 und Art. 16a Abs. 1 GG hingegen sind Grundrechte, deren Verletzung im Verfassungsbeschwerdeverfahren gerügt werden kann. Das in Art. 17 GG geregelte Petitionsrecht zählt ebenfalls zu den rügefähigen Grundrechten (BVerfGE 2, 225, 229), nicht hingegen Art. 17a GG (BVerfGE 44, 197, 205) und Art. 18 GG. Die Regelungen der Art. 19 Abs. 1 und 2 GG dienen dem Schutz anderer Grundrechte, sind aber nicht isoliert rügefähig. Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG dient nicht nur dem Schutz der Grundrechte, sondern aller subjektiven Rechte und ist ein verfassungsbeschwerdefähiges Grundrecht (BVerfGE 96, 27, 39).

bb) Grundrechtsträgerschaft

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Das Grundgesetz verpflichtet alle Staatsgewalt auf Achtung und Schutz der unantastbaren Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 S. 1 u. 2 GG), bekennt sich darum zu den Menschenrechten (Art. 1 Abs. 2 GG) und bindet, um die Menschenrechte für die Rechtspraxis handhabbar zu machen, alle Staatsgewalt an die „nachfolgenden Grundrechte“ als „unmittelbar geltendes Recht“, dh als subjektive Rechte (Art. 1 Abs. 3 GG). Träger der Grundrechte sind angesichts dieses Zusammenhangs – Formulierungen wie „jeder“ (zB Art. 2 Abs. 1 GG) oder „alle Menschen“ (Art. 3 Abs. 1 GG) verdeutlichen dies – grundsätzlich alle Menschen, ausnahmsweise nur Deutsche (zB Art. 12 Abs. 1 GG) und darüber hinaus juristische Personen, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind (Art. 19 Abs. 3 GG).

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Wann das Menschsein und damit die Fähigkeit, Grundrechtsträger zu sein, beginnt, ist umstritten[69]. Die beiden Abtreibungsentscheidungen des BVerfG sind in abstrakten Normenkontrollverfahren ergangen. Die Rede vom „eigenen Lebensrecht“ des nasciturus, der sich im Mutterleib nicht zum Menschen, sondern „als Mensch“ entwickle (BVerfGE 88, 203, 252) lässt daher nicht den Schluss zu, das Gericht sehe den nasciturus als verfassungsbeschwerdefähigen Grundrechtsträger an[70]. In der ersten Abtreibungsentscheidung hat das BVerfG vielmehr ausdrücklich betont, dass diese Frage nicht entschieden werden müsse (BVerfGE 39, 1, 41). Wenn aber in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz von dem Recht auf Leben „als Freiheitsrecht“ die Rede ist, welches die biologisch-physische Existenz jedes Menschen „vom Zeitpunkt ihres Entstehens an“ schütze (BVerfGE 115, 118, 139), dürfte dies darauf hindeuten, dass das Gericht den nasciturus in der Tat als Berechtigten, als Grundrechtsträger und nicht nur als objektiv Begünstigten zumindest des Lebensgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) ansieht.

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Offen ist allerdings nach wie vor, wie der „Zeitpunkt“ des Entstehens der biologisch-physischen Existenz des Menschen zu bestimmen ist. Die Aussagen in den beiden Abtreibungsentscheidungen beziehen sich nur auf die Zeit der Schwangerschaft, die mit dem Abschluss der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter, der sog. Nidation beginnt (BVerfGE 88, 203, 251 f; BVerfGE 39, 1, 37). Das Gericht hat freilich in der zweiten Abtreibungsentscheidung angedeutet, dass „Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie“ es nahelegten, dass menschliches Leben „bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle“ entstehe[71]. Ungeachtet aller Unklarheiten, die sich um Begriff und Bedeutung der „Würde“ des Menschen noch immer ranken[72], dürfte dies der richtige Ansatz sein: Jeder Mensch, der „da“ ist, hat Würde und ist deshalb Grundrechtsträger. Die geschichtliche Existenz, das Dasein eines Menschen aber beginnt spätestens mit der sog. „Verschmelzung“ von Ei und Samenzelle, wenn nicht bereits mit dem Abschluss der zweiten Reifeteilung, also schon vor Vereinigung der Vorkerne[73].

156

Dass das Ungeborene noch nicht von allen Grundrechten Gebrauch machen bzw von dem Schutz, den sie bieten, profitieren kann, spielt ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass es definitiv nicht in der Lage ist, seine Grundrechte ohne fremde Hilfe wirksam durchzusetzen. Ersteres ist eine Frage des sachlichen Schutzbereichs der einzelnen Grundrechte, Letzteres eine Frage der Prozessfähigkeit, die sich bei Minderjährigen und Geschäftsunfähigen ebenfalls stellt (dazu unten Rn 176 ff). Selbst wenn man den Embryo vor Nidation noch nicht als lebenden Menschen im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ansehen wollte[74], kann dieser doch zumindest von dem Schutz des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit, das die körperliche Existenz und tatsächliche Versehrbarkeit eines Menschen und sonst nichts voraussetzt, profitieren.

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Wann das Menschsein und damit auch die Fähigkeit, Träger von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten zu sein, endet, ist ebenfalls ungeklärt. Nach herkömmlicher Auffassung enden Grundrechts- und Beschwerdefähigkeit mit dem Tod eines Menschen[75]. Deshalb wird die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, die jemand mit der Behauptung erhebt, ein Toter sei durch einen bestimmten Akt der öffentlichen Gewalt noch zu Lebzeiten bzw nach seinem Tod in Grundrechten verletzt worden, häufig verneint[76]. Zulässig sollen solche Verfassungsbeschwerden nur ganz ausnahmsweise sein, dann nämlich, wenn derjenige, der sie erhoben hat (etwa: ein Angehöriger), selbst auch in seinen Grundrechten verletzt wurde[77] oder wenn gravierende Persönlichkeitsrechtsverletzungen das Ansehen des Verstorbenen postmortal beeinträchtigen[78]. Problematisch ist in solchen Fällen die Beschwerdefähigkeit des Toten, aber auch die Vertretungsbefugnis dessen, der die Verfassungsbeschwerde für den Toten erhoben hat.

158

Verstirbt ein Verfassungsbeschwerdeführer während des laufenden Verfahrens, ist nicht die Beschwerdefähigkeit, sondern das Rechtsschutzbedürfnis für diese Verfassungsbeschwerde fraglich, uU auch, ob Angehörige befugt sind, die Verfassungsbeschwerde zur Verteidigung eigener Rechte weiterzuführen (dazu und zur Rechtsprechung des BVerfG in solchen Fällen näher Rn 344 f)[79]. Entscheidend für die Beurteilung der Beschwerdefähigkeit ist der Zeitpunkt der Einreichung der Verfassungsbeschwerde.

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Es dürfte indes für die Beschwerdefähigkeit nicht darauf ankommen, ob der Beschwerdeführer bei Einreichung der Verfassungsbeschwerde noch lebt oder nicht. Die einzige Voraussetzung für den Würdeschutz des Art. 1 Abs. 1 GG und damit auch für das „Habenkönnen“ von Grundrechten ist nicht das Leben (missverständlich insoweit BVerfGE 88, 203, 251 f), sondern die geschichtliche Existenz, das „Dasein“ eines Menschen (BVerfG aaO). Auch Verstorbene können noch in einer Weise präsent sein[80], die es rechtfertigt, von ihrer geschichtlichen Existenz, ihren Grundrechten, ihren grundrechtlich geschützten Rechtsgütern zu sprechen, den grundrechtseingreifenden oder grundrechtsschutzversäumenden Staat nicht mit dem Tod des Betreffenden aus der Rechtfertigungspflicht zu entlassen. Auch verstorbene Menschen sind Grundrechtssubjekte[81] und daher fähig, Verfassungsbeschwerdeführer zu sein. Es ist keine Frage der Beschwerdefähigkeit, sondern des Rechtsschutzbedürfnisses, ob das BVerfG in jedem Fall zur Durchsetzung der Grundrechte von Verstorbenen tätig werden muss.

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Hinweis:

Der EGMR bejaht in ständiger Rechtsprechung die Zulässigkeit der Individualbeschwerden von Angehörigen, die eine Verletzung des Rechts auf Leben des Verstorbenen rügen, weil er diese als indirekt Betroffene ansieht (s. etwa EGMR [Große Kammer] NJW 2001, 1991). Geht es um mögliche Verletzungen des Rechts auf Leben, wird man das Rechtschutzbedürfnis schon wegen des Gewichts des betroffenen Grundrechtsguts, aber auch angesichts der (auch) objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde kaum verneinen können und auch nicht davon abhängig machen dürfen, ob indirekt betroffene Angehörige da sind.

161

Einige grundrechtliche Schutzgüter können auch noch nach dem Tod des Betreffenden verletzt werden. Das BVerfG hat schon in der Mephisto-Entscheidung festgehalten, dass zwar nicht das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, wohl aber der aus der Menschenwürde folgende allgemeine Achtungsanspruch auch nach dem Tod verletzt werden könne (BVerfGE 30, 173, 194). Konsequenterweise hat die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG auf eine von der Witwe Willy Brandts erhobene Verfassungsbeschwerde hin untersucht, ob die Würde des Verstorbenen durch die von der Witwe angegriffenen zivilgerichtlichen Urteile verletzt worden war (NJW 2001, 594 ff). Eine Bestätigung dieser Judikatur zu Art. 1 Abs. 1 GG durch eine Senatsentscheidung steht noch aus. Die Ablehnung jeglicher postmortaler Relevanz des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der Mephisto-Entscheidung (BVerfGE aaO, bestätigt in BVerfG-K NJW 2001, 2957, 2958) wird in der Literatur mit Recht kritisiert[82]. Wenn etwa „die Ablehnung der Organentnahme durch den noch Lebenden nach dessen Tod respektiert wird, wird weniger seiner Menschenwürde, als vielmehr seiner Entscheidungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 und – sofern die Entscheidung glaubens- oder gewissensgeleitet ist – Art. 4 Abs. 1 und 2 Rechnung getragen“[83]. Welche zeitlichen Grenzen der postmortale Würde- und Grundrechtsschutz hat, ist noch nicht geklärt. Nach Auffassung des BVerfG schwinden Schutzbedürfnis und Schutzverpflichtung bezogen auf die Würde des Menschen in dem Maße, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen verblasst (BVerfGE 30, 173, 196). Allgemeingültige zeitliche Grenzen verbieten sich daher; es kommt – wie so oft – auf den Einzelfall an[84].

162

Träger einiger Grundrechte sind nur Deutsche. Wer seine Verfassungsbeschwerde auf eines dieser Grundrechte, zB die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1, 2 GG) stützt, muss die Voraussetzungen des Art. 116 GG erfüllen[85]. Europarechtlich ist es nicht geboten, die Deutschengrundrechte auf EU-Ausländer zu erstrecken oder diesen einen qualitativ gleichwertigen Grundrechtsschutz über Art. 2 Abs. 1 GG einzuräumen[86]. Ausländer – auch EU-Ausländer – genießen hinsichtlich der durch die Deutschengrundrechte geschützten Freiheiten nur den tendenziell schwächeren Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit. Eine Auslegung ihres Antrags kann ergeben, dass sie dieses Grundrecht und nicht das irrtümlich gerügte Deutschengrundrecht als verletzt ansehen. Die Falschbezeichnung schadet in diesem Fall nicht (s.o. Rn 127); die Fähigkeit des Ausländers, Träger des der Sache nach gerügten Art. 2 Abs. 1 GG zu sein, begründet seine Beschwerdefähigkeit.

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Für inländische juristische Personen gelten die Grundrechte des Grundrechtsabschnitts gem. Art. 19 Abs. 3 GG, „soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind“. Dass Menschen Grundrechtsträger sind, verstand sich für die Väter und Mütter des Grundgesetzes von selbst (vgl Art. 1 Abs. 2 GG). Menschen sind geborene, juristische Personen „gekorene“ Grundrechtsträger[87] nach Maßgabe der Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 3 GG, die hier nur skizziert werden können[88]:

164

Um eine juristische Person handelt es sich bereits dann, wenn eine Personenmehrheit oder Organisation als solche entscheidungsfähig ist, was eine gewisse Konsistenz und eine geordnete Binnenstruktur voraussetzt. Ob sie nach einfachem Recht Träger von Rechten und Pflichten sein kann, ist unerheblich (BVerfGE 135, 90, 107 f), da der grundrechtsgebundene Staat ansonsten durch Vorenthaltung der Rechtsfähigkeit über den Umfang seiner grundrechtlichen Bindungen (teilweise) disponieren könnte[89]. Ein Vereinsverbot steht daher einer dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerde des verbotenen Vereins nicht entgegen (vgl BVerfGE 149, 160, 189, dort als Frage der Prozessfähigkeit abgehandelt). Ist eine Personenmehrheit oder Organisation nach einfachem Recht fähig, Trägerin von Rechten und Pflichten zu sein, ist sie auf jeden Fall auch fähig, Trägerin von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten zu sein. Inländisch ist die juristische Person, wenn der tatsächliche Mittelpunkt ihrer Aktivitäten im durch S. 2 der Präambel des GG umschriebenen Bundesgebiet oder – so jedenfalls BVerfGE 129, 78, 94 ff – in einem Mitgliedsstaat der EU liegt. Ihrem Wesen nach anwendbar sind die Grundrechte, deren Wesen bzw „Sinnmitte der Schutz der privaten natürlichen Person gegen hoheitliche Übergriffe“ ist (BVerfGE 61, 82, 101; zuvor bereits BVerfGE 21, 362, 329) nur auf juristischen Personen, die nicht grundrechtsverpflichtet sind (Art. 1 Abs. 3 GG, vgl daher auch Rn 218 f). Ist eine juristische Person durch den Bund oder eines der Länder gegründet und in ihrer Organisation und Aufgabenstellung durch staatliches Recht ausgestaltet, ist sie dem grundrechtsverpflichteten Staat zuzurechnen und nicht grundrechtsberechtigt, es sei denn, ihre Tätigkeit ist ausnahmsweise grundrechtlich geschützt (zur Beurteilung juristischer Personen, die von ausländischen Staaten gehalten werden, BVerfGE 143, 246, 314 ff)[90]. Die öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Organisationsform als solche ist dabei nicht das entscheidende Kriterium: „Maßgebend ist vielmehr, ob und inwieweit in der Rechtsstellung als juristische Person des öffentlichen Rechts eine Sach- und Rechtslage Ausdruck findet, welche nach dem ‚Wesen‘ der Grundrechte deren Anwendung auf juristische Personen entgegensteht. Diese Frage wird sich nicht in einer generellen Formel beantworten lassen. Es kommt namentlich auf die Funktion an, in der eine juristische Person des öffentlichen Rechts von dem beanstandeten Akt der öffentlichen Gewalt betroffen wird. Besteht diese Funktion in der Wahrnehmung gesetzlich zugewiesener und geregelter öffentlicher Aufgaben, so ist die juristische Person zumindest insoweit nicht grundrechtsfähig.“ (BVerfGE 68, 193, 207 f).

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Beispiele:

Die Religionsgemeinschaften, die in ihrer selbstgewählten bzw historisch gewachsenen Rechtsgestalt und Organisationsform Bestandschutz genießen (Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 5 S. 1 WRV) bzw auf das Angebot, sich als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu verfassen, aus freien Stücken eingegangen sind (Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV), sind vollumfänglich grundrechtsberechtigt (BVerfGE 102, 370, 387). Grundrechtsverpflichtet sollen sie aber nach hM sein, soweit sie das ihnen gem. Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 6 WRV zustehende Steuererhebungsrecht ausüben (BVerfG-K NVwZ 2002, 1496, 1497 mwN). Daraus folgt jedoch nicht, dass sie insoweit nicht grundrechtsberechtigt wären[91]. Auch die Ausübung des Besteuerungsrechts durch die Kirchen ist Grundrechtsausübung; Beeinträchtigungen durch die öffentliche Gewalt können, soweit sie sich zB als Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) darstellen, von der Kirche mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Bei der Ausübung des Besteuerungsrechts haben die Kirchen die Grundrechte der Steuerpflichtigen in ihrem ureigensten Interesse zu „beachten“ (so BVerfG ebd., auch in der dort zitierten BVerfGE 30, 415, 422 ist nicht von einer Grundrechts„bindung“ der Kirchen, sondern nur von einer Ausübung des Hoheitsrechts „in Einklang mit der grundgesetzlichen Ordnung, vor allem mit den Grundrechten“, die Rede), weil der Staat, der Grundrechte der Steuerpflichtigen nicht verletzen darf, ihnen ansonsten seine Mitwirkung bei der Besteuerung versagen muss. – Grundrechtsberechtigt sind nach hM auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, obwohl sie vom Staat gegründet und durch staatliches Recht ausgestaltet sind, weil ihre Tätigkeit ausnahmsweise dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 2 S. 2 GG zuzuordnen ist (s. dazu BVerfGE 107, 299, 309 ff: auch Art. 10 GG und – soweit es um den Schutz dieser Grundrechte geht – Art. 19 Abs. 4 GG stehen Rundfunkanstalten zu). Diese Ausnahme gilt freilich nur in Rechtsbeziehungen zum grundrechtsverpflichteten Staat. Hinsichtlich der Vergabe von Sendezeiten an politische Parteien unterliegen die Rundfunkanstalten grundrechtlichen Bindungen (BVerfGE 7, 99, 103 f). – Die Grundrechtsfähigkeit der Deutschen Telekom AG hat das BVerfG ebenfalls bejaht. Sie entfalle nicht deswegen, weil der Bund an dieser Anteile halte, da ein beherrschender Einfluss des Bundes auf die Unternehmensführung ausgeschlossen sei (BVerfGE 115, 205, 227). – Die Überschreitung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung kann eine Behörde nicht im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügen, da sie nicht Trägerin des Art. 2 Abs. 1 GG und anderer materieller Grundrechte ist, die (vgl BVerfGE 132, 99, 127; 138, 64, 84 ff) eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Auslegung und Anwendung der Gesetze zugunsten der Einzelnen gewährleistet (BVerfGE 138, 64, 84).

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Einzelne Grundrechte sind ihrem Wesen nach nur auf natürliche Personen (zB Art. 6 Abs. 1 GG), die Deutschengrundrechte, um Wertungswidersprüche zu vermeiden, nur auf mehrheitlich von Deutschen beherrschte juristische Personen anwendbar (diese Frage offen lassend BVerfG-K NJW 2002, 1485). Eine generelle analoge Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG auf ausländische juristische Personen[92] lehnt das BVerfG mit Recht ab (BVerfGE 21, 207, 209). Sie sind, soweit sie ihre Verfassungsbeschwerde auf die Verletzung von Grundrechten stützen, nicht beschwerdefähig. Etwas anderes gilt nur für EU-ausländische juristische Personen, welche vom BVerfG mittlerweile wie inländische juristische Personen behandelt werden („vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes“, BVerfGE 129, 78, LS 1, 91 u. 94–100)[93].