Loe raamatut: «Oktobermeer», lehekülg 4

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6.

Kurz vor halb sieben klingelte der Wecker. Rolf stellte ihn ab, er wusste, dass Helena tiefer schlief als er selbst. Er überlegte, ob er sich hinüber zu ihrem Bett begeben sollte, war schon auf dem Weg dorthin, änderte aber dann doch seine Meinung, er glaubte, sie wolle nicht gestört werden. Rolf wusste, dass er hätte fragen können, tat es jedoch nicht. Sie sprachen über alles Mögliche, selten jedoch darüber, über das sparsame Liebesleben, über die immer länger werdenden Perioden der Enthaltsamkeit in der Zeit, in der sie zusammen waren.

Aber der Samstagabend war schön gewesen, einer der allerbesten seit langer Zeit.

Nach dem Mittagessen hatte Rolf eine Vorlesung, er müsste spätestens um elf von hier aufbrechen, am besten etwas eher. Er dachte schon über die bevorstehenden Arbeiten nach. Helenas mangelnde Lust, ihr Desinteresse oder was es nun war, kümmerten ihn eigentlich nicht besonders, zumindest nicht im Moment.

Als er auf die Toilette ging, stellte er eine Art Gleichnis auf: Es ist, als ob ich ihr am Esstisch etwas anböte und sie lehnte ab.

Genauso ist es wohl logisch, dass sie mich manchmal zu sich lässt und manchmal nicht.

Ein Butterbrot?

Nein? Vielleicht ein Glas Milch?

Nun ja, man kann ja nicht immer hungrig sein.

So ungefähr vielleicht. Warum sollte er traurig sein, sie hatte im Augenblick keinen besonderen Appetit, etwas anderes war es nicht.

Er setzte sich auf die Toilette, um nicht zu spritzen, und er hörte das schwache Plätschern des Strahls, und er sah ein, dass er wahrscheinlich wieder Argumente vorbrachte, die von dem Problem ablenkten. Aber wenn diese Überlegungen ihm guttaten, warum nicht.

Zum Frühstück tranken sie Tee und aßen ein paar Butterbrote, lasen die Zeitungen, die Rolf aus dem Briefkasten geholt hatte, unterhielten sich ein wenig über die Woche, die vor ihnen lag: über Helenas Unterrichtsstunden, über Rolfs Vorlesungen, seine Doktoranden, über das Projekt, das er für das Verteidigungsministerium übernommen hatte, es war nicht geheim, erforderte jedoch eine gewisse Diskretion.

»Du musst mir sagen, was ich den Leuten erzählen darf«, sagte Helena.

»Ich berechne den Luftwiderstand bei Beschleunigung.«

»Raketen oder Bomben?«

»Nun ja, es handelt sich meist um Theorien, mathematische Formeln, um Arbeit mit den neuen Computern, ich werde diesen Auftrag in der Technischen Hochschule durchführen.«

»Aber darf man es normalen Leuten erzählen?«

»Das glaube ich schon.«

»Wenn man möchte, darf man es, ist es so?«

»Das klingt so missbilligend.«

»Nein, es ist ja deine Arbeit.«

Sie widmeten sich wieder den Zeitungen. Rolf wusste, dass Helena seine Arbeit für das Verteidigungsministerium nicht gefiel, er hatte schon früher einen ähnlichen Auftrag übernommen. Er wusste auch, dass sie mit niemandem darüber reden würde, nicht wegen der Geheimhaltung, sondern weil sie sich schämte. Er war jedoch kein Waffenkonstrukteur. Er war Hochschullehrer, in erster Linie ein ziviler Forscher, der international mit seinen Arbeiten über Turbulenzphänomene bei Körpern in Extremgeschwindigkeiten eine gewisse Aufmerksamkeit erregt hatte. Man wusste, wer Rolf G. Andersson war; in der MIT in Boston, in Kalifornien, in vielen anderen Universitäten weltweit, an denen die Forschung Fortschritte gemacht hatte, kannte man ihn.

Rolf jedoch konnte Helenas Aversion verstehen. Er würde niemals an der angewandten Waffenforschung teilnehmen, nie einen militärischen Auftrag annehmen, der mit der Herstellung effektiverer Waffen verbunden war. Die Arbeit für das Verteidigungsministerium betraf Grundlagenforschung, er benötigte ganz einfach die Mittel, und er konnte gleichzeitig seine Theorien entwickeln.

Er versuchte Helena das zu erklären. Vielleicht verstand sie ihn, er hoffte es.

Wenn jemand fragte, antwortete sie immer: mein Mann unterrichtet an der Technischen Hochschule, er ist Mathematiker, er beschäftigt sich mit den Winden, mit ihrer Geschwindigkeit, er versucht sie einzufangen, zu beschreiben.

Einmal hatte sie ihm ein paar Zeilen auf einer Postkarte geschrieben:

Du jagst den Wind,

umfängst ihn wie ein Kind,

fragst, warum die Lüfte sausen,

warum Sekunden und Minuten brausen,

durchs Universum und durchs Licht,

ein Wind ist alles, eine Ewigkeit ist nichts.

Damals waren sie ein Jahr verheiratet gewesen. Sie hatte sich auf einer Fortbildung in Göteborg befunden, er hatte gerade seinen Doktor gemacht, sie hatten sich das Reihenhaus auf Lidingö gekauft. Wie immer hatte sie ohne nachzudenken geschrieben; die Reime kamen einfach, sie hatte nichts geändert, es war so, wie es sich gerade ergab. Damals hatte sie seine Arbeit noch poetisch gefunden. Aber sie hatte immer noch Achtung vor seinem Wissen. Sie selbst hatte keine Probleme mit Worten, Zahlen jedoch fielen ihr schwer; so war es immer gewesen.

Ein Wind ist alles, eine Ewigkeit nichts, und jetzt arbeitete er für das Verteidigungsministerium, half auszurechnen, wie schnell eine Rakete auf ihr Ziel zusteuerte. Er sagte, das sei Grundlagenforschung. Sie wusste nicht genau, was sie glauben sollte.

Helena war keine Pazifistin, sie fand, dass Schweden eine gute Verteidigung brauche, sie wählte die Sozialdemokraten. Aber trotzdem.

Mitten am Tag zeigte sich die Sonne eine Weile. Rolf klappte die Sonnenblende an der Frontscheibe herunter, hielt die Hand über die Augen, blinzelte in die Sonne, bemerkte einen überfahrenen Dachs am Straßenrand und verminderte die Geschwindigkeit ein wenig.

Er hatte noch recht viel Zeit, er fuhr nicht gerne schnell, kam lieber zu spät, als die Straße entlangzurasen. Er dachte an Helena, an ihren flüchtigen Abschiedskuss, an ihre Hand auf seinem Arm, ihre Leichtigkeit, Eleganz, das helle schulterlange Haar, das er oft im Gegenlicht zu sehen meinte, wie einen Strahlenkranz um ihren Kopf. Sie hatten im Schatten vor der Veranda Abschied voneinander genommen, trotzdem erschien sie ihm jetzt sonnenbeschienen.

Als er an Älmsta vorbeifuhr, traten andere Bilder und Überlegungen in den Vordergrund, die Vorlesung, die Studenten, eine noch nicht abgeschlossene Berechnung, Zahlen, Kurven, die Ziegelwände der Technischen Hochschule, der Rasen vor dem Institutsgebäude.

Er parkte etwas zu nahe an einer Straßenkreuzung, aber es gab nirgendwo freie Plätze; er zögerte einen Augenblick, ließ den Wagen dann jedoch stehen. Im Allgemeinen ging es gut.

Im Flur vor dem Geschäftszimmer traf er eine Sekretärin, die ihm sagte, dass er Besuch habe, eine Englisch sprechende Dame, sie wartete vor seinem Dienstzimmer. Rolf nahm an, dass es eine der wenigen ausländischen Studentinnen sei. Er holte sich eine Tasse Kaffee; bis zu Beginn der Vorlesung hatte er noch zwanzig Minuten Zeit.

Als er mit der Kaffeetasse in der Hand um die Ecke des Flurs bog, erhob sich die wartende Frau und wandte sich ihm zu. Sie trug ein graublaues Tweedkostüm und hochhackige Schuhe, sie lachte ihn an. Es war Sarah Graffmann aus Boston, er hatte sie fünf Jahre lang nicht gesehen.

Sie verströmte einen sehr angenehmen Duft, er erinnerte ihn an Walderdbeeren. Als sie Rolf einen Kuss auf die Wange gab, stellte sie sich auf die Zehenspitzen.

7.

Helena sprach über Harry Martinssons Gedichte, die Naturpoesie, das stumme Land mit den kleinen Graswörtern, Tauwörtern, den staubigen Wegen, die magische Begabung des armen Jungen, seine Fähigkeit, Käfer, Ameisen, die Schleier über dem Wasser zu sehen und zu lieben. Hatten sie es verstanden?

Ja, vielleicht hatte jemand verstanden. Sie lasen einige Gedichte, Abend im Inland, Der Regenwurm, Der Wacholderbusch. Maria Rask hatte es sicher verstanden, Ola Persson vielleicht.

Helena sagte sich, dass es gut sei, wenn es ihr gelänge, auch nur zwei der jungen Leute in der Klasse dazu zu bringen zu verstehen, zu fühlen, hauptsächlich zu fühlen. Auszudrücken, was man empfand, war schwieriger. Könnte sie denn selbst sagen, was sie von Harry Martinssons Kleeblumen, von Edith Södergrans Trauer, von Gunnar Björlings atemlosen kleinen Wörtern verstand? Nein, sie konnte darüber wohl sprechen, aber sie wusste, dass ihre eigenen Worte niemals die Empfindungen ausdrücken konnten. Dagegen merkte sie, wenn es ihr gelang, den Zuhörern etwas von dem Zauber der Poesie zu vermitteln, dass sie dann das plötzliche Aufleuchten im Gesicht eines Schülers erkennen konnte.

»Wie gut er schreibt, wie richtig, so seltsam einfach und doch wahr.«

Helena war derselben Meinung, ohne es auszudrücken, sie sahen einander an, und beide, Lehrerin und Schülerin, wussten, dass sie ähnlich empfanden. Das kam nicht oft vor; jetzt glaubte Helena, dass Maria Rask es verstand, es fühlte, ahnte. Sie sahen einander an und lächelten, und zwischen ihnen beiden entstand eine Verbundenheit: Sie waren Menschen, sie waren Schwestern der Grashalme, so besonders, so einfach und so wahr.

Die Stunde war bald zu Ende, alle im Klassenzimmer hatten mit Harry Martinsson im Gras gesessen, hatten die Hummeln sich für alles, was gewesen war, bedanken gehört, hatten den Duft von Sauerklee gespürt, Respekt vor dem schweigsamen Wacholderstrauch empfunden.

Helena war zufrieden; als sie nach dem Ende der Stunde noch eine Weile allein im Klassenzimmer saß, empfand sie immer noch ein leichtes Glücksgefühl. Und auch als sie nach Hause fuhr, spürte sie diese Stimmung noch ein wenig: Das Licht über den Buchten, der kalte gelbe Himmel im Westen, die Silhouetten der Kiefern an der Brücke, das dunkler werdende Meer.

Das jedoch war die große, mächtige Natur, nicht Harry Martinssons zartes Universum, die Sandkörner, die Samenkapseln, die Spuren des Vogels im Sande.

Helena sehnte sich danach zu schreiben, keine Gedichte, da hatte sie schon seit langem ihr Unvermögen erkannt. Sie konnte reimen, es fiel ihr leicht Worte zu finden, aber Poesie war etwas anderes, das wusste sie.

Wenn sie zuhause war, würde sie weiter in ihrem Tagebuch schreiben. Das machte sie zwar fast jeden Tag, heute aber hatte sie das starke Bedürfnis, etwas von dem niederzuschreiben, was ihr in letzter Zeit begegnet war. Sie machte sich darüber keine Gedanken im Voraus, was sie schreiben wollte, das ergab sich schon von selbst, sobald sie nur den Stift in der Hand hielt.

Ehe sie hinunter zum Hof fuhr, hielt sie am Briefkasten an. Dort lagen drei Briefe, einer von ihnen war unfrankiert, ihr eigener Vorname war mit einem stumpfen Bleistift auf den Umschlag geschrieben. Jemand hatte ihn in den Briefkasten geworfen, nicht der Briefträger, jemand anderer.

Sie blieb im Wagen sitzen, riss den Umschlag auf, fand einen Bogen Papier, einige Sätze waren mit demselben stumpfen Bleistift darauf geschrieben: Hiermit will ich Dir danken. Du hast mir gegenüber große Güte und auch Mut bewiesen.

Die beiden Sätze waren mit dem Namen Michail Stein unterzeichnet.

Helena las den Brief ein zweites Mal, nahm an, dass der Mann, dem sie geholfen hatte, den Brief hier eingeworfen haben musste, als er auf den Bus wartete, er hatte dort wohl das Wochenende über gelegen, war liegen geblieben, da sie wie üblich am Montagmorgen nur die Zeitungen herausgenommen hatte, ohne nach der Post zu sehen; die Post kam ja auch erst gegen zwölf. So musste es gewesen sein.

Helena fuhr zum Hof hinunter, dachte: Er heißt also mit Nachnamen Stein, das klingt eigentlich nicht Russisch, aber er sagte, dass die Familie aus Finnland in die Sowjetunion gekommen sei, sie sprach Schwedisch, also ein alter finnlandschwedischer Name, Stein, er klingt auch nicht Finnlandschwedisch, aber es wird wohl wie Weiss oder Berg oder irgendein anderer kurzer internationaler Name sein, der überall in der Welt vorkommen kann.

Mi...cha...il Stein. Sie hoffte, dass er seinen Bekannten in Stockholm gefunden hatte; außerdem würde sie diesen Schuh holen, nicht gerade jetzt, aber er sollte dort nicht liegen bleiben, da der zweite Schuh ja vorhanden war.

Sie merkte, dass das unlogisch klang, die Schuhe würden niemals wieder ein Paar werden, weshalb sollte sie also den Strandschuh holen?

Trotzdem wusste sie, dass sie ihn holen würde. Jetzt, wo sie angefangen hatte darüber nachzudenken, konnte sie ihn nicht dort liegen lassen.

Sie ließ den Wagen direkt vor dem Haus stehen. Wenn sie sich allein im Vävargård befand, machte sie das immer; wenn Rolf da war, parkte sie ein Stück weiter weg. In dieser Woche jedoch würde er nicht kommen, vielleicht blieb er auch über das Wochenende in der Stadt. Sie meinte sich zu erinnern, dass er irgendein Seminar hatte. Oder war das erst übernächstes Wochenende? Sie wusste es nicht, würde fragen, wenn er anrief.

Es war halb fünf, die Dämmerung brach langsam an, bis zum Einbruch der Dunkelheit war es jedoch noch eine Weile hin; sie wartete mit dem Anzünden der Küchenlampe, setzte sich an den Tisch am Fenster, sah auf das Meer hinaus, nahm das Wasser auf der Seite des Felsens mit den Wacholderbüschen undeutlich wahr, dachte an das Dunkel der Nacht, empfand ein vages Gefühl von Gefahr oder vielleicht von Unsicherheit.

Dieses Gefühl dauerte ein paar Sekunden an, sie hatte noch nie zuvor so etwas empfunden und wunderte sich darüber. Bald jedoch fiel sie wieder in die beruhigende Betrachtung des Bildes zurück, das sich ihr draußen vor dem Küchenfenster bot: Wacholder, gerillte Steine, glänzende Granitplatten, Gras und Moos, dahinter der Himmel mit graulila Wolken, das schwindende Licht des Oktobertages.

8.

Als Helena aufwachte, wusste sie: ein freier Vormittag, nach dem Mittagessen vier Unterrichtsstunden, wieder ein Gespräch über schwedische Poesie, Besprechung von Aufsätzen, Konferenz mit den Lehrerkollegen wegen einiger Ordnungsfragen, ein langer Nachmittag, Abendessen nicht vor halb acht. Vor allem jedoch freie, herrliche, faule Stunden vor dem Mittagessen, im Bett bleiben können und Zeitung lesen, ein Spaziergang zur Landzunge, vielleicht ein wenig Sanddornsaft pressen.

An diesem Morgen lag ein dünner Nebel über der Gegend. Helena konnte von der Küche aus bis hin zu den Wacholdersträuchern sehen, aber nicht weiter; sie konnte nur das Stück des Weges, das hinauf zum Briefkasten führte, erkennen, hinten gegen den Wald hin nahm der feuchtgraue Nebel überhand, hüllte Kiefern und Ebereschen in schwebende milchige Schleier ein, die morgendliche Begegnung der Landkälte mit dem noch nicht ganz winterkalten Wasser. Der Vävargård lag an der Strandgrenze des Oktobernebels. Bald würde die Kälte siegen, klare Morgen an der ganzen Küste schaffen oder graue Tage mit scharfem Nordostwind aus den ausgekühlten Weiten des Meeres. Bald, in einigen Wochen, aber noch war der Herbst am Meer mild.

Helena fühlte sich in dem Morgennebel rund um den Vävargård wohl; er dämpfte die Geräusche, ein einzelner Vogelschrei aus dem grauen Dunst, ein abgelegenes Motorengeräusch von irgendeinem Fischerboot aus der Gegend. Das hier war ihre Jahreszeit.

Sie trank den ersten Saft des Jahres von dem Sanddorngestrüpp auf der Landzunge. Sie benutzte eine Presse, die man nur auf Åland kaufen konnte, da die Åländer die Natur weit mehr nutzten als die Leute an der Küste Roslagens. Auf Åland ebenso wie in den Schären vor Åbo wird der Sanddornsaft geerntet, man kann ihn auf den Märkten kaufen, er gehört zu der alten Nutzwirtschaft, die immer noch existierte. Helena hatte das Sanddornpressen von einer finnischen Freundin gelernt.

Jetzt drückte sie die Presse um die Rispen, hörte, wie der Saft in die Flasche spritzte, bekam ein paar saure Tropfen ins Gesicht, presste noch eine halbe Stunde weiter, hörte auf, ehe die Flasche ganz voll war: der erste Saft des Jahres, vielleicht ein wenig zu sauer, das beste Aroma würde erst nach ein paar Frostnächten erreicht werden, in einem Monat etwa. Das hier war eine ziemlich frühe Kostprobe, eigentlich ein Naschen, aber Helena konnte nicht warten. Das große Gebüsch würde sicher Beeren für fünf Liter Saft hergeben. Dieses Jahr war nicht eines der besten, aber durchaus nicht schlecht nach dem trockenen Sommer.

Auf dem Rückweg nahm sie einen kleinen Schluck aus der Flasche. Ja, er war sauer wie eine Zitrone, erst in einem Monat würde der Saft die richtige Geschmacksmischung aus Moltbeeren, Passionsfrüchten und frischer Säure erreichen.

Helena hatte, als sie zur Landzunge ging, den Schuh gesehen. Jetzt blieb sie stehen und hob ihn auf. Der Schuh war fast trocken, die Schnürsenkel fehlten, die Ledersohle wies ein kleines Loch auf, der Absatz war hinten gleichmäßig abgelaufen. Sie versuchte, die Schuhgröße zu lesen, konnte jedoch die Zeichen auf der Innensohle nicht entziffern, vielleicht stand 44 dort. Rolf hatte Größe 45, er war genauso groß wie der andere Mann, aber er wog sicher mehr, er ging ein wenig schwerer.

Helena dachte an die Art, wie Michail ging. Als sie hinauf zum Bus gegangen waren, hatte er seine Schritte den ihren angepasst, sie hatte es bemerkt. Vermutlich machte er für gewöhnlich viele längere Schritte. Für gewöhnlich? Wann war das? Auf einer Straße in Leningrad, auf dem Schiffsdeck, auf irgendeinem Trottoir in Stockholm?

Als Helena zurück in die Küche kam, mischte sie sich einen Trank aus Sanddorn, Vanillezucker und einer ausgepressten Apfelsine. Sie trank langsam, war überzeugt, dass dieses Getränk das Gesündeste war, was die Natur zu bieten hatte. Und sie erinnerte sich daran, dass sie im letzten Herbst, als sie das erste Glas getrunken hatte, dasselbe Gefühl gehabt hatte.

Der Nebel hatte sich gelichtet. Nachdem Helena zu Mittag gegessen hatte, ging sie hinaus auf den Hof vor dem Haus, sie wollte noch einen letzten kurzen Spaziergang machen, ehe es Zeit wurde, in die Schule zu fahren. Sie trug ihre Stiefel, die alte Segeljacke mit dem Loch im Ärmel, sie würde sie mit Leder flicken, sie fühlte sich darin wohl, sie warf nicht gerne Kleidungsstücke fort.

Der Himmel über dem Meer war leicht grau; als sie auf den Felsen hinauf kletterte, konnte sie am Horizont ein Schiff erkennen.

Sie ging hinauf in den Wald, zuerst folgte sie dem Pfad, dann ging sie oben am Moor hinein, vorbei an der trockenen alten Föhre mit dem Eulennest, das von einem Säger übernommen worden war, ging weiter über den Kiefernhügel, die Senke an dem kleinen Bach hinunter, folgte dem Lauf ein Stück, sah, dass er fast völlig ausgetrocknet war. Sie dachte an die Forellen, die manchmal hier heraufschwammen, jedoch war das nach diesem regenarmen Sommer wohl kaum der Fall.

Dann vermeinte sie Rauchgeruch wahrzunehmen. Sie blieb stehen und lauschte eine Weile, so als ob man den Rauch hätte hören können, ging weiter den Bach entlang, hielt jedoch einen Abstand von etwa zwanzig Metern zum Bachbett. Sie näherte sich der Lichtung, auf der die Bäckstuga lag.

Sie ging nicht ganz bis dorthin, blieb am Waldrand stehen, betrachtete die niedrigen Hauswände, sah Rauch aus dem Schornstein kommen, dünne, blaue Rauchkringel.

Helena stand hinter einem Baum verborgen, lauschte, hielt den Atem an, sah nach vorn, wechselte den Baum, versuchte, ein wenig näher heranzukommen, sah jetzt das Fenster in der Wand, stand still, betrachtete das Fensterglas.

Sie fühlte sich beobachtet, konnte jedoch nicht ausmachen, von wo aus, es war nur ein leichtes Unbehagen: Irgendjemand beobachtet mich, ich spähe nach irgendetwas aus, werde stattdessen jedoch von jemandem beobachtet, der nicht zu sehen ist.

Und dann kurz darauf ganz in der Nähe ein leichtes Husten.

Helena wandte sich ganz langsam um, so als ob eine schnelle Bewegung gefährlich werden könnte; provozierend für ein sich duckendes Raubtier hinter ihrem Rücken.

Michail Stein stand zehn Meter von ihr entfernt an einer Tanne weiter oben im Wald, teilweise verborgen von dem Baumstamm. Jetzt trat er vor, hob grüßend die Hand. Helena hob ebenfalls die Hand. Sie gingen aufeinander zu, ohne etwas zu sagen, blieben fünf Meter voneinander entfernt stehen.

Jetzt lächelte Helena; sie war immer noch ein wenig beunruhigt, der Mann, der dort stand, befand sich in einer anderen Lage als das erste Mal, da sie einander getroffen hatten. Damals hatte sie ihm geholfen, jetzt hatte sie ihn überrascht, entlarvt, sie wusste nicht, wie er reagieren würde. Das ängstigte sie«

»Du bist noch da«, sagte sie.

Er nickte, kam etwas näher, sagte nichts. Helena betrachtete sein Gesicht und fand, dass er müde aussah«

»Du bist zurückgekommen, oder bist du gar nicht nach Stockholm gefahren?«

»Ich bin hier«, sagte er«

»Ja«, sagte Helena, und sie wusste nicht richtig, was sie fragen sollte«

»Die Hütte«, sagte sie und zeigte darauf.

Er nickte, trat einen Schritt auf Helena zu, sie wich zur Seite, er ging weiter auf die Hütte zu, blieb wieder stehen«

»Wohnst du hier«, fragte sie«

»Ja«, antwortete er«

»Die Bäckstuga«, sagte Helena, »sie wird so genannt, sie steht oft leer, obwohl sie manchmal vermietet wird, die Eigentümerin ist eine ältere Frau, eine pensionierte Lehrerin, glaube ich.«

Jetzt sprach sie viel zu schnell, nervös. Er hörte zu, so als ob er mehr über die Hütte und deren Eigentümerin erfahren wollte. Und jetzt war der müde Zug in seinem Gesicht einer angespannten Aufmerksamkeit gewichen, er runzelte die Stirn, die Fältchen um die Augen traten hervor. Helena erkannte den Gesichtsausdruck wieder«

»Komm«, sagte sie und ging auf die Hütte zu.

Jetzt lächelte er zum ersten Mal«

»Michail«, sagte Helena mit Betonung auf der letzten Silbe«

»Ja«, sagte er und nickte.

Er hatte sie eingeholt, machte lange Schritte über die kleine Wiese vor der Hütte, blieb an der Türe stehen, legte die Hand auf die Türklinke. Helena hatte den Eindruck, dass er zeigen wollte, dass die Hütte sein Platz war, dass er sie willkommen heißen wollte, jetzt war sie diejenige, die zu Gast war.

Im Küchenherd brannte ein schwaches Feuer. Auf dem Fußboden lagen ein kleiner Haufen gespaltenes Holz, ein Bund Birkenrinde, Streichhölzer. In einem Eimer war Wasser. In der Küche war es kühl, aber nicht feucht, man merkte, dass Michail Feuer gemacht hatte, vielleicht einen Tag lang oder zwei. Auf dem Tisch stand ein benutzter Teller«

»Du hast etwas zu essen gefunden?«, fragte Helena«

»Ja, in einem Schrank, auch Brot von der Art, die ihr habt … das trockene Brot.«

Helena nahm an, dass Michail Konserven und Knäckebrot gefunden hatte. Sie bemerkte eine Schranktür, öffnete sie, entdeckte die Speisekammer: Mehrere Dosen Erbsensuppe, Klopse, Fleischbällchen, eine fest schließende Blechdose, in der das Brot verwahrt wurde. Vielleicht hatte die alte Frau, der das Haus gehörte, die Lebensmittel vergessen, oder es handelte sich um ihre Vorräte«

»Das reicht nicht sehr lange«, sagte Helena«

»Es gibt auch Kartoffeln, in der Erde hier in der Nähe.«

»Ja, und dann?«

Er antwortete nicht, sah sie an und lächelte. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihm in die Augen geschaut hatte. Jetzt war es ähnlich. Sie konnte seinem Blick begegnen, ohne unangenehm berührt zu werden. Sie befanden sich in einem Haus, in dem sie nichts zu suchen hatten. Michail war eingebrochen, hatte Lebensmittel gestohlen, Helena war mitschuldig, sie kannte die Eigentümerin, aber nichts von alledem kümmerte sie im Augenblick.

Michail streckte seine Hand aus. Sie nahm sie, sein Griff war leicht, er versuchte nicht, Helenas Hand zu drücken, nicht, sie an sich zu ziehen. Es war eine Begrüßung, eine warme, verlässliche Hand, die ihr wohl wollte.

Er war der Ausgestoßene, aber er verlangte nichts, er wollte ihr Bestes, so empfand sie es. Lange standen sie so da, hielten sich an den Händen, sahen sich an, ohne etwas zu sagen. Michail lächelte sein schiefes und ein wenig trauriges Lächeln. Helena versuchte ebenfalls zu lächeln, aber sie sah ernst aus, und sie empfand eine merkwürdige Ruhe und eine stille Freude, die für sie neu und ganz unerwartet war.

Dann trennten sie sich, ohne etwas über ein Wiedersehen zu sagen.

Tasuta katkend on lõppenud.

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