»Zur Einleitung: Die düstere Einsamkeit und Öde der Campagna romana. Die Geduld im Ungewissen. »Mein Werk soll enthalten ein Gesammturtheil über unser Jahrhundert, über die ganze Modernität, über die erreichte ›Civilisation‹.
»Jedes Buch als eine Eroberung, Griff – tempo lento –, bis zum Ende dramatisch geschürzt, zuletzt Katastrophe und plötzliche Erlösung.«
Nicht ohne tiefe Bewegung kann man die nachfolgende ausführliche Niederschrift lesen, in welcher der Autor sich selbst eine Richtschnur aufstellt, nach welcher er dies Hauptwerk zu gestalten gedenkt. Er kleidet die Vorschriften zunächst in die Form eines allgemeinen Aphorismus und schreibt darüber: »Das vollkommene Buch.« Aber je weiter er in der Aufzeichnung dieser Vorschriften kommt, desto mehr sieht man: es ist sein eigenes Buch, das er meint, und zwar sein Hauptwerk, das in umfassendster Weise seine Philosophie darstellen soll. Er schreibt im Herbst 1887:
»Das vollkommene Buch. Zu erwägen:
1. Die Form, der Stil. – Ein idealer Monolog. Alles Gelehrtenhafte aufgesaugt in der Tiefe. – Alle Accente der tiefen Leidenschaft, Sorge, auch der Schwächen, Milderungen; Sonnenstellen, – das kurze Glück, die sublime Heiterkeit. – Überwindung der Demonstration; absolut persönlich. Kein ›ich‹… – Eine Art mémoires; die abstraktesten Dinge am leibhaftesten und blutigsten. – Die ganze Geschichte wie persönlich erlebt und erlitten (– so allein wird’s wahr). – Gleichsam ein Geistergespräch; eine Vorforderung, Herausforderung, Todtenbeschwörung. – Möglichst viel Sichtbares, Bestimmtes, Beispielsweises, aber Vorsicht vor Gegenwärtigem. – Vermeiden der Worte »vornehm« und überhaupt aller Worte, worin eine Selbst-in-Scenesetzung liegen könnte. – Nicht ›Beschreibung‹; alle Probleme in’s Gefühl übersetzt, bis zur Passion. –
2. Sammlung ausdrücklicher Worte. Vorzug für militärische Worte. Ersatzworte für die philosophischen Termini: womöglich deutsch und zur Formel ausgeprägt. – Sämmtliche Zustände der geistigsten Menschen darstellen; sodaß ihre Reihe im ganzen Werke umfaßt ist (– Zustände des Legislators, des Versuchers, des zur Opferung Gezwungenen, Zögernden –, der großen Verantwortlichkeit, des Leidens an der Unerkennbarkeit, des Leidens am Scheinen-müssen, des Leidens am Wehethun-müssen, der Wollust am Zerstören –).
3. Das Werk auf eine Katastrophe hin bauen. – – –«
Ich füge noch einige Erläuterungen zu den hauptsächlich in den beiden ersten Büchern des »Willens zur Macht« behandelten Themen: Nihilismus, und Moral hinzu. Man weiß, wie irrthümlich die Stellung des Autors gerade zu diesen Materien verstanden worden ist. Vielleicht waren es besonders die Worte »Nihilismus«, »Immoralismus«, »Unmoralität« (»nihilistisch«, »unmoralisch«), die so falsch aufgefaßt wurden. Ich betone deshalb nochmals, daß Nihilismus und nihilistisch nichts mit einer politischen Partei zu thun hat, sondern als jener Zustand bezeichnet ist, der den Werth und Sinn des Lebens, sowie alle Ideale ablehnt. Ebensowenig haben die Worte Immoralismus, Unmoralität und unmoralisch das Geringste mit geschlechtlicher Unmäßigkeit und Verirrung zu thun, wie es gemeine, grobe und dumme Menschen aufgefaßt haben, weil diese Worte im gewöhnlichen Leben wohl in dieser Hinsicht gebraucht werden. Mein Bruder verstand unter Moral »ein System von Werthschätzungen, welches sich mit unsern Lebensbedingungen berührt.« Gegen dieses System unserer gegenwärtigen Werthschätzungen, die sich physiologisch und biologisch nicht rechtfertigen lassen und deshalb dem Sinn des Lebens widersprechen, wendet er sich mit den Worten »Immoralismus« und »Unmoralität«. Vielleicht wäre es besser gewesen, daß er dafür das Wort »Amoralismus« und »amoralisch« gebildet und gebraucht hätte, weil sicherlich viel Mißverständnisse dadurch vermieden worden wären. Im Übrigen möchte ich noch betonen, daß sich eine Kritik unserer gegenwärtigen Moralwerthe nur ein so hochstehender Philosoph wie Nietzsche gestatten darf, der in seiner ganzen Lebensführung so deutlich bewiesen hat, daß er nicht nur diese Werthe in vollkommenster Weise erfüllt, sondern darüber erhaben ist, und sich deshalb das Ziel noch höher stecken und noch strengere Anforderungen an sich stellen darf. Solche Ziele und Probleme sind nur für die Wenigsten: jedenfalls gehören dazu, wie er selbst schreibt: »reine Hände und nicht Schlammfinger.« –
Vor Allem muß ich immer wieder darauf aufmerksam machen, daß seine Philosophie auf Rangordnung gerichtet ist, nicht auf eine individualistische Moral, »der Sinn der Heerde soll in der Heerde herrschen, aber nicht über sie hinausgreifen«. Er sagt aber nicht nur, daß wir für das, was die Moral seit Jahrtausenden geleistet hat, voller Dankbarkeit sein sollen, sondern er fordert auch eine unbedingte Heilighaltung der bisherigen Moral. Wer sich darüber erheben will, muß die furchtbare Verantwortung dafür tragen und seine Berechtigung dazu durch ungewöhnliche Leistungen beweisen. Peter Gast schreibt darüber: » Nietzsche lehrt nur für Ausnahme-Menschen – und für die Vorfahren künftiger Ausnahme-Menschen. Mit dem Volke hat er Nichts zu thun; für’s Volk haben tausend »Denker« nachgerade genug gedacht – und für die Seltenen fast keiner. Indirekt freilich, durch solche Ausnahme-Menschen hindurch, wird auch der Geist Nietzsche’s in die Massen dringen und einst die Luft von all dem Verwöhnenden, Herunterbringenden, Lasterhaften unsrer Cultur säubern: Nietzsche ist eine sittliche Macht ersten Ranges! sittlicher als Alles, was sich heute sittlich nennt!«
Vielleicht hat man auch an den Worten »Heerde«, »Heerdenthier« und »Heerdenmoral« Anstoß genommen, er selbst fand Veranlassung, sich deshalb zu entschuldigen: »Ich habe eine Entdeckung gemacht, aber sie ist nicht erquicklich: sie geht wider unsern Stolz. Wie frei wir nämlich uns auch schätzen mögen, wir freien Geister – denn hier reden wir »unter uns« – es giebt auch in uns ein Gefühl, welches immer noch beleidigt wird, wenn Einer den Menschen zu den Thieren rechnet: deshalb ist es beinahe eine Schuld und bedarf der Entschuldigung, daß ich beständig in Bezug auf uns von ›Heerde‹ und von ›Heerden-Instinkten‹ reden muß«. Allerdings hält er es nicht für nöthig, eine Erklärung dafür zu geben, warum er diese Termini gewählt hat und so reichlich gebraucht; ich glaube nur deshalb, weil er selbst (wenn er es auch schalkhaft behauptet) keinen Anstoß an diesen Worten genommen hat, da wir in einem religiösen Kreis aufgewachsen sind und dort »Heerde« und »Hirt« ohne jede herabwürdigende Nebenbedeutung gebraucht wird.
Auch sonst werden seine Worte, die oft eine ganz neue Bedeutung haben, vielfach mißverstanden, z. B. »Bosheit« und »böse«. Bei beiden Worten hat man früher etwas wie »tückisch« und »schlecht« empfunden, während er darunter etwas Hartes, Strenges, aber auch Übermüthiges – jedenfalls aber eine Gesinnung der Höhe begreift. Deshalb schreibt er an Brandes: »Viele Worte haben sich bei mir mit andern Salzen inkrustirt und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern.«
Über die persönliche Stellung meines Bruders zum Christenthum werde ich in der Einleitung zum X. Band, der den »Antichrist« enthält, noch einiges Aufklärende hinzufügen.
Leider waren wir durch die Raumverhältnisse genöthigt, den »Willen zur Macht« zu theilen, noch dazu etwas ungünstig, indem die kleinere Hälfte des dritten Buches in den X. Band kommen mußte. Aber die Bände IX und X gehören mit ihrem Inhalt so innig zu einander und müssen durchaus zusammen gelesen werden, sodaß es schließlich gleich ist, wo die Theilung stattfindet.
Weimar, August 1906.
Elisabeth Förster-Nietzsche.
(Der Plan, der unsrer Anordnung zu Grunde gelegt wurde, lautet in Nietzsche’s Niederschrift:)
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Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe.
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Erstes Buch.
Der europäische Nihilismus.
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Zweites Buch.
Kritik der bisherigen höchsten Werthe.
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Drittes Buch.
Princip einer neuen Werthsetzung.
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Viertes Buch.
Zucht und Züchtung.
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entworfen den 17. März 1887, Nizza.
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1.
Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt cynisch und mit Unschuld.
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2.
Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der an’s Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.
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3.
– Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt Nichts bisher gethan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vortheil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europa’s, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat.
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4.
Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe« – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Princip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werthe selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werthe und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser »Werthe« war… Wir haben, irgendwann, neue Werthe nöthig…
1. Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? – Ausgangspunkt: es ist ein Irrthum, auf »sociale Nothstände« oder »physiologische Entartungen« oder gar auf Corruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Noth, seelische, leibliche, intellektuelle Noth ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d. h. die radikale Ablehnung von Werth, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen. Diese Nöthe erlauben immer noch ganz verschiedene Ausdeutungen. Sondern: in einer ganz bestimmten Ausdeutung, in der christlich-moralischen, steckt der Nihilismus.
2. Der Untergang des Christenthums – an seiner Moral (die unablösbar ist –), welche sich gegen den christlichen Gott wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christenthum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung. Rückschlag von »Gott ist die Wahrheit« in den fanatischen Glauben »Alles ist falsch«. Buddhismus der That…)
3. Skepsis an der Moral ist das Entscheidende, Der Untergang der moralischen Weltauslegung, die keine Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus. »Alles hat keinen Sinn« (die Undurchführbarkeit einer Weltauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist – erweckt das Mißtrauen, ob nicht alle Weltauslegungen falsch sind – ). Buddhistischer Zug, Sehnsucht in’s Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht eine grundmoralische Entwicklung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrthum combinirt, der Irrthum also als Strafe – eine moralische Wertschätzung). Die philosophischen Versuche, den »moralischen Gott« zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volksthümlichen Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter. Antagonismus von »wahr« und »schön« und »gut« –
4. Gegen die »Sinnlosigkeit« einerseits, gegen die moralischen Werthurtheile andrerseits: inwiefern alle Wissenschaft und Philosophie bisher unter moralischen Urtheilen stand? und ob man nicht die Feindschaft der Wissenschaft mit in den Kauf bekommt? Oder die Antiwissenschaftlichkeit? Kritik des Spinozismus. Die christlichen Werthurtheile überall in den socialistischen und positivistischen Systemen rückständig. Es fehlt eine Kritik der christlichen Moral.
5. Die nihilistischen Consequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (nebst ihren Versuchen in’s Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betriebe folgt endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Antiwissenschaftlichkeit. Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum in’s x.
6. Die nihilistischen Konsequenzen der politischen und volkswirthschaftlichen Denkweise, wo alle »Principien « nachgerade zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit, Unaufrichtigkeit u.s.w. Der Nationalismus. Der Anarchismus u. s. w. Strafe. Es fehlt der erlösende Stand und Mensch, die Rechtfertiger –
7. Die nihilistischen Consequenzen der Historie und der »praktischen Historiker«, d. h. der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absolute Unoriginalität ihrer Stellung in der modernen Welt. Ihre Verdüsterung. Goethe’s angebliches Olympierthum.
8. Die Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus: Romantik (Wagner’s Nibelungen-Schluß).
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2.
Was bedeutet Nihilismus? – Daß die obersten Werthe sich entwerthen. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das »Wozu?«
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3.
Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, handelt; hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das »göttlich«, das leibhafte Moral wäre.
Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«: somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral.
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4.
Welche Vortheile bot die christliche Moral-Hypothese?
1) sie verlieh dem Menschen einen absoluten Werth, im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens;
2) sie diente den Advokaten Gottes, insofern sie der Welt trotz Leid und Übel den Charakter der Vollkommenheit ließ, – eingerechnet jene »Freiheit« –: das Übel erschien voller Sinn;
3) sie setzte ein Wissen um absolute Werthe beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntniß;
4) sie verhütete, daß der Mensch sich als Mensch verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein Erhaltungsmittel.
In summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus.
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5.
Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessirte Betrachtung – und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzuthun, gerade als Stimulans. Wir constatiren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Werth zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus – Das, was wir erkennen, nicht zu schätzen und Das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen – ergiebt einen Auflösungsproceß.
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6.
Dies ist die Antinomie:
Sofern wir an die Moral glauben, verurtheilen wir das Dasein.
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7.
Die obersten Werthe, in deren Dienst der Mensch leben sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten, – diese socialen Werthe hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie Commando’s Gottes wären, als »Realität«, als »wahre« Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über dem Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werthe klar wird, scheint uns das All damit entwerthet, »sinnlos« geworden, – aber das ist nur ein Zwischenzustand.
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8.
Die nihilistische Consequenz (der Glaube an die Werthlosigkeit) als Folge der moralischen Wertschätzung: – das Egoistische ist uns verleidet (selbst nach der Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen); – das Nothwendige ist uns verleidet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines liberum arbitrium und einer »intelligiblen Freiheit«). Wir sehen, daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werthe gelegt haben, nicht erreichen – damit hat die andere Sphäre, in der wir leben, noch keineswegs an Werth gewonnen: im Gegentheil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren haben. »Umsonst bisher!«
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9.
Der Pessimismus als Vorform des Nihilismus.
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10.
A. Der Pessimismus als Stärke – worin? in der Energie seiner Logik, als Anarchismus und Nihilismus, als Analytik.
B. Der Pessimismus als Niedergang – worin? als Verzärtlichung, als kosmopolitische Anfühlerei, als »tout comprendre« und Historismus.
– Die kritische Spannung: die Extreme kommen zum Vorschein und Übergewicht.
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11.
Die Logik des Pessimismus bis zum letzten Nihilismus: was treibt da? – Begriff der Werthlosigkeit, Sinnlosigkeit: inwiefern moralische Werthungen hinter allen sonstigen hohen Werthen stecken.
– Resultat: die moralischen Werthurtheile sind Verurtheilungen, Verneinungen; Moral ist die Abkehr vom Willen zum Dasein…
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12.
Hinfall der kosmologischen Werthe.
A.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen »Sinn« in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: sodaß der Sucher endlich den Muth verliert. Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des »Umsonst«, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen… Jener Sinn könnte gewesen sein: die »Erfüllung« eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen Nichts-Zustand – ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Proceß selbst erreicht werden soll: – und nun begreift man, daß mit dem Werden Nichts erzielt, Nichts erreicht wird… Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze »Entwicklung« betreffen (– der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens).
Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisirung, selbst eine Organisirung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: sodaß in der Gesammtvorstellung einer höchsten Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (– ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit Allem zu versöhnen…). Eine Art Einheit, irgend eine Form des »Monismus«: und in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit… »Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen«… aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Werth verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich werthvolles Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes concipirt, um an seinen Werth glauben zu können.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden Nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der Einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Werthes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt giebt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will …
– Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Werthlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit« der Gesammtcharakter des Daseins interpretirt werben darf. Es wird Nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch …, man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden … Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«, mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt werthlos aus …
B.
Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns werthlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, – versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwerthet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerthen.
– Resultat: Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.
– Schluß-Resultat: Alle Werthe, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwerthet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – alle diese Werthe sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projicirt in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivetät des Menschen: sich selbst als Sinn und Werthmaaß der Dinge anzusetzen.
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13.
Der Nihilismus stellt einen pathologischen Zwischenzustand dar (– pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß auf gar keinen Sinn –): sei es, daß die produktiven Kräfte noch nicht stark genug sind, – sei es, daß die décadence noch zögert und ihre Hülfsmittel noch nicht erfunden hat.
Voraussetzung dieser Hypothese: – Daß es keine Wahrheit giebt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein »Ding an sich« giebt. – Dies ist selbst nur Nihilismus, und zwar der extremste. Er legt den Werth der Dinge gerade dahinein, daß diesen Werthen keine Realität entspricht und entsprach, sondern daß sie nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der Werth-Ansetzer sind, eine Simplifikation zum Zweck des Lebens.
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14.
Die Werthe und deren Veränderung stehen im Verhältniß zu dem Macht-Wachsthum des Werthsetzenden.
Das Maaß von Unglauben, von zugelassener »Freiheit des Geistes« als Ausdruck des Machtwachsthums.
»Nihilismus« als Ideal der höchsten Mächtigkeit des Geistes, des überreichsten Lebens, theils zerstörerisch, theils ironisch.
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15.
Was ist ein Glaube? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein Für-wahr-halten.
Die extremste Form des Nihilismus wäre die Einsicht: daß jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten nothwendig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht giebt. Also: ein perspektivischer Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend nöthig haben).
– Daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die Nothwendigkeit der Lüge eingestehen können, ohne zu Grunde zu gehn.
Insofern könnte Nihilismus, als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein.
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16.
Wenn wir »Enttäuschte« sind, so sind wir es nicht in Hinsicht auf das Leben: sondern, daß uns über die »Wünschbarkeiten« aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir sehen mit einem spöttischen Ingrimm Dem zu, was »Ideal« heißt: wir verachten uns nur darum, nicht zu jeder Stunde jene absurde Regung niederhalten zu können, welche »Idealismus« heißt. Die Verwöhnung ist stärker, als der Ingrimm des Enttäuschten.
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17.
Inwiefern der Schopenhauer’sche Nihilismus immer noch die Folge des gleichen Ideals ist, welches den christlichen Theismus geschaffen hat. – Der Grad von Sicherheit in Betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werthe, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon wie von einer absoluten Gewißheit *a priori ausgiengen:* »Gott« an der Spitze als gegebene Wahrheit. »Gott gleich zu werden«, »in Gott aufzugehn« – das waren Jahrtausende lang die naivsten und überzeugendsten Wünschbarkeiten (– aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für Esel).
Man hat verlernt, jener Ansetzung von Idealen auch die Personen-Realität zuzugestehen; man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? – Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die wirkliche »Realität«, das »Ding an sich«, im Verhältniß zu dem alles Andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist, daß, weil unsre Erscheinungswelt so ersichtlich nicht der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht »wahr« ist – und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nöthig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als »bösen, blinden Willen«: dergestalt konnte er dann »das Erscheinende« sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf, – er schlich sich durch …