– Die Verwechslung zweier gänzlich verschiedener Zustände: z.B. die Ruhe der Stärke, welche wesentlich Enthaltung der Reaktion ist (der Typus der Götter, welche nichts bewegt), – und die Ruhe der Erschöpfung, die Starrheit, bis zur Anästhesie. Alle philosophisch-asketischen Proceduren streben nach der zweiten, aber meinen in der That die erste … denn sie legen dem erreichten Zustande die Prädikate bei, wie als ob ein göttlicher Zustand erreicht sei.
*
48
Das gefährlichste Mißverständnis. – Es giebt einen Begriff, der anscheinend keine Verwechslung, keine Zweideutigkeit zuläßt: das ist der der Erschöpfung. Diese kann erworben sein; sie kann ererbt sein, – in jedem Falle verändert sie den Aspekt der Dinge, den Werth der Dinge …
Im Gegensatz zu Dem, der aus der Fülle, welche er darstellt und fühlt, unfreiwillig abgiebt an die Dinge, sie voller, mächtiger, zukunftsreicher sieht, – der jedenfalls schenken kann –, verkleinert und verhunzt der
(Nr. 49. folgt weiter unten. Re.)
*
50
Theorie der Erschöpfung. – Das Laster, die Geisteskranken (resp. die Artisten …), die Verbrecher, die Anarchisten – das sind nicht die unterdrückten Klassen, sondern der Auswurf der bisherigen Gesellschaft aller Klassen …
Mit der Einsicht, daß alle unsre Stände durchdrungen sind von diesen Elementen, haben wir begriffen, daß die moderne Gesellschaft keine »Gesellschaft«, kein »Körper« ist, sondern ein krankes Conglomerat von Tschandala’s, – eine Gesellschaft, die die Kraft nicht mehr hat, zu exkretiren.
Inwiefern durch das Zusammenleben seit Jahrhunderten die Krankhaftigkeit viel tiefer geht:
-------------------------- ------------------------ die moderne Tugend, als Krankheits-Formen. die moderne Geistigkeit, unsre Wissenschaft
*
51
Der Zustand der Corruption. – Die Zusammengehörigkeit aller Corruptions-Formen zu begreifen; und dabei nicht die christliche Corruption zu vergessen (Pascal als Typus); ebenso die socialistisch-kommunistische Corruption (eine Folge der christlichen; – naturwissenschaftlich ist die höchste Societäts-Conception der Socialisten die niedrigste in der Rangordnung der Societäten); die »Jenseits«-Corruption: wie als ob es außer der wirklichen Welt, der des Werdens, eine Welt des Seienden gäbe.
Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen, vernichten, Krieg führen, – man muß das christlich-nihilistische Werthmaaß überall noch herausziehn und es unter jeder Maske bekämpfen … z. B. aus der jetzigen Sociologie, aus der jetzigen Musik, aus dem jetzigen Pessimismus (– Alles Formen des christlichen Werthideals –).
Entweder Eins oder das Andere ist wahr: wahr, das heißt hier den Typus Mensch emporhebend …
Der Priester, der Seelsorger, als verwerfliche Daseinsformen. Die gesammte Erziehung bisher hülflos, haltlos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werthe behaftet –
*
52.
Nicht die Natur ist unmoralisch, wenn sie ohne Mitleid für die Degenerirten ist: das Wachsthum der physiologischen und moralischen Übel im menschlichen Geschlecht ist umgekehrt die Folge einer krankhaften und unnatürlichen Moral. Die Sensibilität der Mehrzahl der Menschen ist krankhaft und unnatürlich.
Woran hängt es, daß die Menschheit corrupt ist in moralischer und physiologischer Beziehung? – Der Leib geht zu Grunde, wenn ein Organ alterirt ist. Man kann nicht das Recht des Altruismus auf die Physiologie zurückführen, ebensowenig das Recht auf Hülfe, auf Gleichheit der Loose: das sind alles Prämien für die Degenerirten und Schlechtweggekommenen.
Es giebt keine Solidarität in einer Gesellschaft, wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente giebt: die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden, als sie selbst sind.
Erschöpfte Alles, was er sieht, – er verarmt den Werth: er ist schädlich …
Hierüber scheint kein Fehlgriff möglich: trotzdem enthält die Geschichte die schauerliche Thatsache, daß die Erschöpften immer verwechselt worden sind mit den Vollsten – und die Vollsten mit den Schädlichsten.
Der Arme an Leben, der Schwache, verarmt noch das Leben: der Reiche an Leben, der Starke, bereichert es. Der Erste ist dessen Parasit: der Zweite ein Hinzu-Schenkender … Wie ist eine Verwechslung möglich? …
Wenn der Erschöpfte mit der Gebärde der höchsten Aktivität und Energie auftrat (wenn die Entartung einen Exceß der geistigen oder nervösen Entladung bedingte), dann verwechselte man ihn mit dem Reichen … Er erregte Furcht … Der Cultus des Narren ist immer auch der Cultus des An-Leben-Reichen, des Mächtigen. Der Fanatiker, der Besessene, der religiöse Epileptiker, alle Exzentrischen sind als höchste Typen der Macht empfunden worden: als göttlich.
Diese Art Stärke, die Furcht erregt, galt vor Allem als göttlich: von hier nahm die Autorität ihren Ausgangspunkt, hier interpretirte, hörte, suchte man Weisheit … Hieraus entwickelte sich, überall beinahe, ein Wille zur »Vergöttlichung«, d. h. zur typischen Entartung von Geist, Leib und Nerven: ein Versuch, den Weg zu dieser höheren Art Sein zu finden. Sich krank, sich toll machen, die Symptome der Zerrüttung provociren – das hieß stärker, übermenschlicher, furchtbarer, weiser werden. Man glaubte damit so reich an Macht zu werden, daß man abgeben konnte. Überall, wo angebetet worden ist, suchte man Einen, der abgeben kann.
Hier war irreführend die Erfahrung des Rausches, Dieser vermehrt im höchsten Grade das Gefühl der Macht, folglich, naiv beurtheilt, die Macht. Auf der höchsten Stufe der Macht mußte der Berauschteste stehn, der Ekstatische. (– Es giebt zwei Ausgangspunkte des Rausches: die übergroße Fülle des Lebens und einen Zustand von krankhafter Ernährung des Gehirns.)
*
49.
Erworbene, nicht ererbte Erschöpfung: 1) unzureichende Ernährung, oft aus Unwissenheit über Ernährung, z. B. bei Gelehrten; 2) die erotische Präcocität: der Fluch vornehmlich der französischen Jugend, der Pariser voran: welche aus den Lyceen bereits verhunzt und beschmutzt in die Welt tritt – und nicht wieder von der Kette verächtlicher Neigungen loskommt, gegen sich selbst ironisch und schnöde – Galeerensklaven, mit aller Verfeinerung (– übrigens in den häufigsten Fällen bereits Symptom der Rassen- und Familien- décadence, wie alle Hyper-Reizbarkeit; insgleichen als Contagium des Milieu’s –: auch bestimmbar zu sein durch die Umgebung, gehört zur décadence –); 3) der Alkoholismus, nicht der Instinkt, sondern die Gewöhnung, die stupide Nachahmung, die feige oder eitle Anpassung an ein herrschendes régime: – Welche Wohlthat ist ein Jude unter Deutschen! Wie viel Stumpfheit, wie flächsern der Kopf, wie blau das Auge; der Mangel an esprit in Gesicht, Wort, Haltung; das faule Sich-strecken, das deutsche Erholungs-Bedürfnis;, das nicht aus Überarbeitung, sondern aus der widrigen Reizung und Überreizung durch Alkoholika herkommt …
*
53.
Es giebt eine tiefe und vollkommen unbewußte Wirkung der décadence selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsere ganze Sociologie ist der Beweis für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur das Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Urtheils nimmt.
Das niedersinkende Leben im jetzigen Europa formulirt in ihnen seine Gesellschafts-Ideale: sie sehen alle zum Verwechseln dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich …
Der Heerdeninstinkt sodann – eine jetzt souverän gewordene Macht – ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt einer aristokratischen Societät: und es kommt auf den Werth der Einheiten an, was die Summe zu bedeuten hat … Unsre ganze Sociologie kennt gar keinen andern Instinkt als den der Heerde, d. h. der summirten Nullen, – wo jede Null »gleiche Rechte« hat, wo es tugendhaft ist, Null zu sein …
Die Werthung, mit der heute die verschiedenen Formen der Societät beurtheilt werden, ist ganz und gar Eins mit jener, welche dem Frieden einen höheren Werth zuertheilt als dem Krieg: aber dies Urtheil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der décadence des Lebens … Das Leben ist eine Folge des Kriegs, die Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg … Herr Herbert Spencer ist als Biologe ein décadent, – er ist es auch als Moralist (er steht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!!!).
*
54.
Ich habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung den Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein führt.
Ich lehre das Nein zu Allem, was schwach macht, – was erschöpft.
Ich lehre das Ja zu Allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft rechtfertigt.
Man hat weder das Eine noch das Andre bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt. Dies Alles sind Werthe der Erschöpften.
Ein langes Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wieweit die Urtheile Erschöpfter in die Welt der Werthe eingedrungen seien.
Mein Ergebniß war so überraschend wie möglich, selbst für mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich fand alle obersten Werthurtheile, alle, die Herr geworden sind über die Menschheit, mindestens zahm gewordene Menschheit, zurückführbar auf die Urtheile Erschöpfter.
Unter den heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt, Schwäche lehrt, Schwäche inficirt … ich fand, daß der »gute Mensch« eine Selbstbejahungsform der décadence ist.
Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie die oberste, die einzige und das Fundament aller Tugenden sei: eben jenes Mitleiden erkannte ich als gefährlicher, als irgend ein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich kreuzen – das hieß bisher Tugend par excellence…
Man soll das Verhängnis; in Ehren halten; das Verhängnis;, das zum Schwachen sagt »geh zu Grunde!«…
Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängniß widerstrebte, – daß man die Menschheit verdarb und verfaulen machte… Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich führen…
Die Rasse ist verdorben – nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels…
Die Tugend ist unser großes Mißverständniß.
Problem: wie kamen die Erschöpften dazu, die Gesetze der Werthe zu machen? Anders gefragt: wie kamen Die zur Macht, die die Letzten sind?… Wie kam der Instinkt des Thieres Mensch auf den Kopf zu stehn?…
*
55.
Extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-nothwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen »Sinn« im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation gieng zu Grunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob Alles umsonst sei.
*
Daß dies »Umsonst!« der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zur Frage: »sind nicht alle ›Werthe‹ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näherkommt?« Die Dauer, mit einem »Umsonst«, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen.
*
Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein; so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale in’s Nichts: »die ewige Wiederkehr«.
Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig!
Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.
*
Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn »Alles vollkommen, göttlich, ewig« zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die »ewige Wiederkunft«. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-Stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott »jenseits von Gut und Böse« zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Processe weg und bejahen wir trotzdem den Proceß? – Das wäre der Fall, wenn Etwas innerhalb jenes Processes in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.
*
Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zu Grunde liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphirend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, werthvoll, mit Lust empfindet.
*
Nun hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung in’s Nichts bei solchen Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen vergewaltthätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewaltthätigen, die »Herren« überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, das heißt zunächst ermuthigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten hassen und verachten gelehrt was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: ihren Willen zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Werthung ansehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem Willen zur Moral nur dieser »Wille zur Macht« verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor Jenem habe.
*
Vielmehr umgekehrt! Es giebt Nichts am Leben, was Werth hat, außer dem Grade der Macht – gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus, indem sie Jedem einen unendlichen Werth, einen metaphysischen Werth beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demuth u. s. w. Gesetzt, daß der Glaube an diese Moral zu Grunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben – und zu Grunde gehn.
*
Das Zu-Grunde-gehen präsentirt sich als ein Sich-zu-Grunde-richten, als ein instinktives Auslesen Dessen, was zerstören muß. Symptome dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor Allem die instinktive Nöthigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (– gleichsam sich seine Henker selbst züchtend), der Wille zur Zerstörung als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens in’s Nichts.
*
Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, »sich zu ergeben«, – daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Princips stellen und auch ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-thun, nachdem alles Dasein seinen »Sinn« verloren hat.
*
Die »Noth« ist nicht etwa größer geworden: im Gegentheil! »Gott, Moral, Ergebung« waren Heilmittel, auf furchtbar tiefen Stufen des Elends: der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen auf. Schon daß die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Cultur voraus; diese wieder ein relatives Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer Meinungen bis zur hoffnungslosesten Skepsis gegen Philosophie gebracht, kennzeichnet ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte Voraussetzungen haben (wie die Lehre Buddha’s solche hatte, zum Beispiel Begriff der Causalität u. s. w.).
Was heißt jetzt »schlechtweggekommen«? Vor Allem physiologisch: nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern Alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüthen ist bei der Einsicht, daß Alles seit Ewigkeiten da war – auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. – Der Werth einer solchen Krisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich an einander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist – auch unter ihnen die schwächeren, unsichreren an’s Licht bringend und so zu einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundheit, den Anstoß giebt: Befehlende als Befehlende erkennend. Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.
*
Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, Die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, Die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehn, sondern lieben, Die, welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Werthes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten – Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren.
Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?
*
56.
Perioden des europäischen Nihilismus
Die Periode der Unklarheit, der Tentativen aller Art, das Alte zu conserviren und das Neue nicht fahren zu lassen.
Die Periode der Klarheit: man begreift, daß Altes und Neues Grundgegensätze sind: die alten Werthe aus dem niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben geboren –, daß alle alten Ideale lebensfeindliche Ideale sind (aus der décadence geboren und die décadence bestimmend, wie sehr auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral). Wir verstehen das Alte und sind lange nicht stark genug zu einem Neuen.
Die Periode der drei großen Affekte: der Verachtung, des Mitleids, der Zerstörung.
Die Periode der Katastrophe: die Heraufkunft einer Lehre, welche die Menschen aussiebt … welche die Schwachen zu Entschlüssen treibt und ebenso die Starken –