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274.
Wessen Wille zur Macht ist die Moral? – Das Gemeinsame in der Geschichte Europa’s seit Sokrates ist der Versuch, die moralischen Werthe zur Herrschaft über alle anderen Werthe zu bringen: sodaß sie nicht nur Führer und Richter des Lebens sein sollen, sondern auch 1) der Erkenntniß, 2) der Künste, 3) der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen. »Besserwerden« als einzige Aufgabe, alles Übrige dazu Mittel (oder Störung, Hemmung, Gefahr: folglich bis zur Vernichtung zu bekämpfen …). – Eine ähnliche Bewegung in China. Eine ähnliche Bewegung in Indien.
Was bedeutet dieser Wille zur Macht seitens der moralischen Werthe, der in den ungeheuren Entwicklungen sich bisher auf der Erde abgespielt hat?
Antwort: – drei Mächte sind hinter ihm versteckt: 1) der Instinkt der Heerde gegen die Starken und Unabhängigen; 2) der Instinkt der Leidenden und Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen: 3) der Instinkt der Mittelmäßigen gegen die Ausnahmen. – Ungeheurer Vortheil dieser Bewegung, wie viel Grausamkeit, Falschheit und Bornirtheit auch in ihr mitgeholfen hat (: denn die Geschichte vom Kampf der Moral mit den Grundinstinkten des Lebens ist selbst die größte Immoralität, die bisher auf Erden dagewesen ist …).
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275.
Es gelingt den Wenigsten, in Dem, worin wir leben, woran wir von Alters her gewöhnt sind, ein Problem zu sehn, – das Auge ist gerade dafür nicht eingestellt: dies scheint mir zumal in Betreff unserer Moral der Fall zu sein.
Das Problem »jeder Mensch als Objekt für Andere« ist Anlaß zu den höchsten Ehrverleihungen: für sich selbst – nein!
Das Problem »du sollst«: ein Hang, der sich nicht zu begründen weiß, ähnlich wie der Geschlechtstrieb, soll nicht unter die Verurtheilung der Triebe fallen: umgekehrt, er soll ihr Werthmesser und Richter sein!
Das Problem der »Gleichheit«, während wir Alle nach Auszeichnung dürsten: hier gerade sollen wir umgekehrt an uns genau die Anforderungen wie an Andere stellen. Das ist so abgeschmackt, sinnfällig verrückt: aber – es wird als heilig, als höheren Ranges empfunden, der Widerspruch gegen die Vernunft wird kaum gehört.
Aufopferung und Selbstlosigkeit als auszeichnend, der unbedingte Gehorsam gegen die Moral und der Glaube, vor ihr mit Jedermann gleichzustehn.
Die Vernachlässigung und Preisgebung von Wohl und Leben als auszeichnend, die vollkommne Verzichtleistung auf eigne Werthesetzung, das strenge Verlangen, von Jedermann auf dasselbe verzichtet zu sehen. »Der Werth der Handlungen ist bestimmt: jeder Einzelne ist dieser Werthung unterworfen.«
Wir sehn: eine Autorität redet – wer redet? – Man darf es dem menschlichen Stolze nachsehn, wenn er diese Autorität so hoch als möglich suchte, um sich so wenig als möglich unter ihr gedemüthigt zu finden. Also – Gott redet!
Man bedurfte Gottes, als einer unbedingten Sanktion, welche keine Instanz über sich hat, als eines kategorischen Imperators« –: oder, sofern man an die Autorität der Vernunft glaubt, man brauchte eine Einheits-Metaphysik, vermöge deren dies logisch war.
Gesetzt nun, der Glaube an Gott ist dahin: so stellt sich die Frage von Neuem: »wer redet?« – Meine Antwort, nicht aus der Metaphysik, sondern der Thier-Physiologie genommen: der Heerden-Instinkt redet. Er will Herr sein: daher sein »du sollst!« – er will den Einzelnen nur im Sinne des Ganzen, zum Besten des Ganzen gelten lassen, er haßt die Sich-Loslösenden, – er wendet den Haß aller Einzelnen gegen ihn.
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276.
Die ganze Moral Europa’s hat den Nutzen den Heerde auf dem Grunde: die Trübsal aller höheren, seltneren Menschen liegt darin, daß Alles, was sie auszeichnet, ihnen mit dem Gefühl der Verkleinerung und Verunglimpfung zum Bewußtsein kommt. Die Stärken des jetzigen Menschen sind die Ursachen der pessimistischen Verdüsterung: die Mittelmäßigen sind, wie die Heerde ist, ohne viel Frage und Gewissen, – heiter. (Zur Verdüsterung der Starken: Pascal, Schopenhauer.)
Je gefährlicher eine Eigenschaft der Heerde scheint, um so gründlicher wird sie in die Acht gethan.
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277.
Moral der Wahrhaftigkeit in der Heerde. »Du sollst erkennbar sein, dein Inneres durch deutliche und constante Zeichen ausdrücken, – sonst bist du gefährlich: und wenn du böse bist, ist die Fähigkeit, dich zu verstellen, das Schlimmste für die Heerde. Wir verachten den Heimlichen, Unkennbaren. – Folglich mußt du dich selber für erkennbar halten, du darfst dir nicht verborgen sein, du darfst nicht an deinen Wechsel glauben,« Also: die Forderung der Wahrhaftigkeit setzt die Erkennbarkeit und die Beharrlichkeit der Person voraus. Thatsächlich ist es Sache der Erziehung, das Heerden-Mitglied zu einem bestimmten Glauben über das Wesen des Menschen zu bringen: sie macht erst diesen Glauben und fordert dann daraufhin »Wahrhaftigkeit«.
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278.
Innerhalb einer Heerde, jeder Gemeinde, also inter pares, hat die Überschätzung der Wahrhaftigkeit guten Sinn. Sich nicht betrügen lassen – und folglich, als persönliche Moral, selber nicht betrügen! eine gegenseitige Verpflichtung unter Gleichen! Nach außen hin verlangt die Gefahr und Vorsicht, daß man auf der Hut vor Betrug sei: als psychologische Vorbedingung dazu auch innen. Mißtrauen als Quelle der Wahrhaftigkeit.
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279.
Zur Kritik der Heerden-Tugenden. – Die inertia thätig 1) im Vertrauen, weil Mißtrauen Spannung, Beobachtung, Nachdenken nöthig macht; – 2) in der Verehrung, wo der Abstand der Macht groß ist und Unterwerfung nothwendig: um nicht zu fürchten, wird versucht zu lieben, hochzuschätzen und die Machtverschiedenheit als Werthverschiedenheit auszudeuten: sodaß das Verhältniß nicht mehr revoltirt; – 3) im Wahrheitssinn. Was ist wahr? Wo eine Erklärung gegeben ist, die uns das Minimum von geistiger Kraftanstrengung macht (überdies ist Lügen sehr anstrengend); – 4) in der Sympathie. Sich gleichsetzen, versuchen gleich zu empfinden, ein vorhandenes Gefühl anzunehmen, ist eine Erleichterung: es ist etwas Passives gegen das Aktivum gehalten, welches die eigensten Rechte des Werthurtheils sich wahrt und beständig bethätigt (Letzteres giebt keine Ruhe); – 5) in der Unparteilichkeit und Kühle des Urtheils: man scheut die Anstrengung des Affekts und stellt sich lieber abseits, »objektiv«; – 6) in der Rechtschaffenheit: man gehorcht lieber einem vorhandenen Gesetz, als daß man sich ein Gesetz schafft, als daß man sich und Anderen befiehlt: die Furcht vor dem Befehlen –: lieber sich unterwerfen, als reagiren; – 7) in der Toleranz: die Furcht vor dem Ausüben des Rechts, des Richtens.
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280.
Der Instinkt der Heerde schätzt die Mitte und das Mittlere als das Höchste und Werthvollste ab: die Stelle, auf der die Mehrzahl sich befindet; die Art und Weise, in der sie sich daselbst befindet. Damit ist er Gegner aller Rangordnung, der ein Aussteigen von Unten nach Oben zugleich als ein Hinabsteigen von der Überzahl zur kleinsten Zahl ansteht. Die Heerde empfindet die Ausnahme, sowohl das Unter-ihr wie das Über-ihr, als Etwas, das zu ihr sich gegnerisch und schädlich verhält. Ihr Kunstgriff in Hinsicht auf die Ausnahmen nach Oben, die Stärkeren, Mächtigeren, Weiseren, Fruchtbareren ist, sie zur Rolle der Hüter, Hirten, Wächter zu überreden – zu ihren ersten Dienern: damit hat sie eine Gefahr in einen Nutzen umgewandelt. In der Mitte hört die Furcht auf: hier ist man mit Nichts allein; hier ist wenig Raum für das Mißverständniß; hier giebt es Gleichheit; hier wird das eigne Sein nicht als Vorwurf empfunden, sondern als das rechte Sein; hier herrscht die Zufriedenheit. Das Mißtrauen gilt den Ausnahmen; Ausnahme sein gilt als Schuld.
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281.
Wenn wir uns, aus dem Instinkte der Gemeinschaft heraus, Vorschriften machen und gewisse Handlungen verbieten, so verbieten wir, wie es Vernunft hat, nicht eine Art zu »sein«, nicht eine »Gesinnung«, sondern nun eine gewisse Richtung und Nutzanwendung dieses »Seins«, dieser »Gesinnung«. Aber da kommt der Ideologe der Tugend, der Moralist, seines Wegs und sagt: »Gott siehet das Herz an! Was liegt daran, daß ihr euch bestimmter Handlungen enthaltet: ihr seid darum nicht besser!« Antwort: mein Herr Langohr und Tugendsam, wir wollen durchaus nicht besser sein, wir sind sehr zufrieden mit uns, wir wollen uns nur nicht unter einander Schaden thun, – und deshalb verbieten wir gewisse Handlungen in einer gewissen Rücksicht, nämlich auf uns, während wir dieselben Handlungen, vorausgesetzt, daß sie sich auf Gegner des Gemeinwesens – auf Sie zum Beispiel – beziehen, nicht genug zu ehren wissen. Wir erziehen unsere Kinder auf sie hin; wir züchten sie groß … Wären wir von jenem »gottwohlgefälligen« Radikalismus, den Ihr heiliger Aberwitz anempfiehlt, wären wir Mondkälber genug, mit jenen Handlungen ihre Quelle, das »Herz«, die »Gesinnung« zu verurtheilen, so hieße das unser Dasein verurtheilen und mit ihm seine oberste Voraussetzung – eine Gesinnung, ein Herz, eine Leidenschaft, die wir mit den höchsten Ehren ehren. Wir verhüten durch unsre Decrete, daß diese Gesinnung auf eine unzweckmäßige Weise ausbricht und sich Wege sucht, – wir sind klug, wenn wir uns solche Gesetze geben, wir sind damit auch sittlich… Argwöhnen Sie nicht, von ferne wenigstens, welche Opfer es uns kostet, wie viel Zähmung, Selbstüberwindung, Härte gegen uns dazu noth thut? Wir sind vehement in unsern Begierden, es giebt Augenblicke, wo wir uns auffressen möchten… Aber der »Gemeinsinn« wird über uns Herr: bemerken Sie doch, das ist beinahe eine Definition der Sittlichkeit.
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282.
Die Schwäche des Heerdenthieres erzeugt eine ganz ähnliche Moral wie die Schwäche des décadent: sie verstehen sich, sie verbünden sich (– die großen décadenceReligionen rechnen immer auf die Unterstützung durch die Heerde). An sich fehlt alles Krankhafte am Heerdenthier, es ist unschätzbar selbst; aber unfähig sich zu leiten, braucht es einen »Hirten«, – das verstehn die Priester… Der Staat ist nicht intim, nicht heimlich genug: die »Gewissensleitung« entgeht ihm. Worin das Heerdenthier krank gemacht wird durch den Priester? –
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283.
Der Haß gegen dir Leiblich- und Seelisch-Privilegirten: Aufstand der häßlichen, mißrathenen Seelen gegen die schönen, stolzen, wohlgemuthen. Ihr Mittel: Verdächtigung der Schönheit, des Stolzes, der Freude: »es giebt kein Verdienst«, »die Gefahr ist ungeheuer: man soll zittern und sich schlecht befinden«, »die Natürlichkeit ist böse; der Natur widerstreben ist das Rechte. Auch der ›Vernunft‹« (– das Widernatürliche als das Höhere.)
Wieder sind es die Priester, die diesen Zustand ausbeuten und das »Volk« für sich gewinnen. »Der Sünder«, an dem Gott mehr Freude hat als am »Gerechten«. Dies ist der Kampf gegen das »Heidentum« (der Gewissensbiß als Mittel, die seelische Harmonie zu zerstören).
Der Haß der Durchschnittlichen gegen die Ausnahmen, der Heerde gegen die Unabhängigen. (Die Sitte als eigentliche »Sittlichkeit«.) Wendung gegen den »Egoismus«: Werth hat allein das »dem Andern«. »Wir sind Alle gleich«, – gegen die Herrschsucht, gegen »Herrschen« überhaupt; – gegen das Vorrecht; – gegen Sektirer, Freigeister, Skeptiker; – gegen die Philosophie (als dem Werkzeug- und Ecken-Instinkt entgegen); bei Philosophen selbst »der kategorische Imperativ«, das Wesen des Moralischen »allgemein und überall«.
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284.
Die gelobten Zustande und Begierden: – friedlich, billig, mäßig, bescheiden, ehrfürchtig, rücksichtsvoll, tapfer, keusch, redlich, treu, gläubig, gerade, vertrauensvoll, hingebend, mitleidig, hülfreich, gewissenhaft, einfach, mild, gerecht, freigebig, nachsichtig, gehorsam, uneigennützig, neidlos, gütig, arbeitsam –
Zu unterscheiden: inwiefern solche Eigenschaften bedingt sind als Mittel zu einem bestimmten Willen und Zwecke (oft einem »bösen« Zwecke); oder als natürliche Folgen eines dominirenden Affektes (z. B. Geistigkeit): oder Ausdruck einer Nothlage, will sagen: als Existenzbedingung (z. B. Bürger, Sklave. Weib u. s. w.).
Summa: sie sind allesammt nicht um ihrer selber willen als »gut« empfunden, sondern bereits unter dem Maaßstab der »Gesellschaft«. »Heerde«. als Mittel zu deren Zwecken, als nothwendig für deren Aufrechterhaltung und Förderung, als Folge zugleich eines eigentlichen Heerdeninstinktes im Einzelnen: somit im Dienste eines Instinktes, der grundverschieden von diesen Tugendzuständen ist. Denn die Heerde ist nach Außen hin feindselig, selbstsüchtig, unbarmherzig, voller Herrschsucht, Mißtrauen u. s. w.
Im »Hirten« kommt der Antagonismus heraus: er muß die entgegengesetzten Eigenschaften der Heerde haben.
Todfeindschaft der Heerde gegen die Rangordnung: ihr Instinkt zu Gunsten der Gleichmacher (Christus). Gegen die starken Einzelnen ( les souverains) ist sie feindselig, unbillig, maaßlos, unbescheiden, frech, rücksichtslos, feig, verlogen, falsch, unbarmherzig, versteckt, neidisch, rachsüchtig.
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285.
Ich lehre: die Heerde sucht einen Typus aufrecht zu erhalten und wehrt sich nach beiden Seiten, ebenso gegen die davon Entartenden (Verbrecher u. s. w.), als gegen die darüber Emporragenden. Die Tendenz der Heerde ist auf Stillstand und Erhaltung gerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr.
Die angenehmen Gefühle, die der Gute, Wohlwollende, Gerechte uns einflößt (im Gegensatz zu der Spannung, Furcht, welche der große, neue Mensch hervorbringt) sind unsere persönlichen Sicherheits-, Gleichheits-Gefühle: das Heerdenthier verherrlicht dabei die Heerdennatur und empfindet sich selber dann wohl. Dies Urtheil des Wohlbehagens maskirt sich mit schönen Worten – so entsteht »Moral«. – Man beobachte aber den Haß der Heerde gegen den Wahrhaftigen. –
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286.
Daß man sich nicht über sich selbst vergreift! Wenn man in sich den moralischen Imperativ so hört, wie der Altruismus ihn versteht, so gehört man zur Heerde. Hat man das umgekehrte Gefühl, fühlt man in seinen uneigennützigen und selbstlosen Handlungen seine Gefahr, seine Abirrung, so gehört man nicht zur Heerde.
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287.
Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet: nicht auf eine individualistische Moral. Der Sinn der Heerde soll in der Heerde herrschen, – aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Heerde bedürfen einer grundverschiedenen Werthung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die »Raubthiere« u. s. w.
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288.
Moral als Versuch, den menschlichen Stolz herzustellen. – Die Theorie vom »freien Willen« ist antireligiös. Sie will dem Menschen ein Anrecht schaffen, sich für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen: sie ist eine Form des wachsenden Stolzgefühls.
Der Mensch fühlt seine Macht, sein »Glück«, wie man sagt: es muß »Wille« sein vor diesem Zustand, – sonst gehört er ihm nicht an. Die Tugend ist der Versuch, ein Faktum von Wollen und Gewollt-haben als nothwendiges Antecedens vor jedes hohe und starke Glücksgefühl zu setzen: – wenn regelmäßig der Wille zu gewissen Handlungen im Bewußtsein vorhanden ist, so darf ein Machtgefühl als dessen Wirkung ausgelegt werden. – Das ist eine bloße Optik der Psychologie: immer unter der falschen Voraussetzung, daß uns Nichts zugehört, was wir nicht als gewollt im Bewußtsein haben. Die ganze Verantwortlichkeitslehre hängt an dieser naiven Psychologie, daß nur der Wille Ursache ist und daß man wissen muß, gewollt zu haben, um sich als Ursache glauben zu dürfen.
– Kommt die Gegenbewegung: die der Moralphilosophen, immer noch unter dem gleichen Vorurtheil, daß man nur für Etwas verantwortlich ist, das man gewollt hat. Der Werth des Menschen als moralischer Werth angesetzt: folglich muß seine Moralität eine causa prima sein; folglich muß ein Princip im Menschen sein, ein »freier Wille« als causa prima. – Hier ist immer der Hintergedanke: wenn der Mensch nicht causa prima, ist als Wille, so ist er unverantwortlich, – folglich gehört er gar nicht vor das moralische Forum, – die Tugend oder das Laster wären automatisch und machinal …
In summa: damit der Mensch vor sich Achtung haben kann, muß er fähig sein, auch böse zu werden.
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289.
Die Schauspielerei als Folge der Moral des »freien Willens«. – Es ist ein Schritt in der Entwicklung des Machtgefühls selbst, seine hohen Zustände (seine Vollkommenheit) selber auch verursacht zu haben, – folglich, schloß man sofort, gewollt zu haben …
(Kritik: Alles vollkommne Thun ist gerade unbewußt und nicht mehr gewollt; das Bewußtsein drückt einen unvollkommnen und oft krankhaften Personalzustand aus. Die persönliche Vollkommenheit als bedingt durch Willen, als Bewußtheit, als Vernunft mit Dialektik, ist eine Caricatur, eine Art von Selbstwiderspruch … Der Grad von Bewußtheit macht ja die Vollkommenheit unmöglich … Form der Schauspielerei.)
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290.
Die Moral-Hypothese zum Zweck der Rechtfertigung Gottes hieß: das Böse muß freiwillig sein (bloß damit an die Freiwilligkeit des Guten geglaubt werden kann) und andrerseits: in allem Übel und Leiden liegt ein Heilszweck.
Der Begriff »Schuld« als nicht bis auf die letzten Gründe des Daseins zurückreichend, und der Begriff »Strafe« als eine erzieherische Wohlthat, folglich als Akt eines guten Gottes.
Absolute Herrschaft der Moral-Werthung über alle andern: man zweifelte nicht daran, daß Gott nicht böse sein könne und nichts Schädliches thun könne, d. h. man dachte sich bei »Vollkommenheit« bloß eine moralische Vollkommenheit.
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291.
Daß der Werth einer Handlung von Dem abhängen soll, was ihr im Bewußtsein vorausgieng – wie falsch ist das! – Und man hat die Moralität danach bemessen, selbst die Criminalität …
Der Werth einer Handlung muß nach ihren Folgen bemessen werden – sagen die Utilitarier –: sie nach ihrer Herkunft zu messen, implicirt eine Unmöglichkeit, nämlich diese zu wissen.
Aber weiß man die Folgen? Fünf Schritt weit vielleicht. Wer kann sagen, was eine Handlung anregt, aufregt, wider sich erregt? Als Stimulans? Als Zündfunke Vielleicht für einen Explosivstoff? … Die Utilitarier sind naiv … Und zuletzt müßten wir erst wissen, was nützlich ist: auch hier geht ihr Blick nur fünf Schritt weit … Sie haben keinen Begriff von der großen Ökonomie, die des Übels nicht zu entrathen weiß.
Man weiß die Herkunft nicht, man weiß die Folgen nicht: – hat folglich eine Handlung überhaupt einen Werth?
Bleibt die Handlung selbst: ihre Begleiterscheinungen im Bewußtsein, das Ja und das Nein, das ihrer Ausführung folgt: liegt der Werth einer Handlung in den subjektiven Begleiterscheinungen? (– das hieße den Werth der Musik nach dem Vergnügen oder Mißvergnügen abmessen, das sie uns macht … das sie ihrem Componisten macht …). Sichtlich begleiten sie Werthgefühle, ein Macht-, ein Zwang-, ein Ohnmachtgefühl z. B., die Freiheit, die Leichtigkeit, – anders gefragt: könnte man den Werth einer Handlung auf physiologische Werthe reduciren: ob sie ein Ausdruck des vollständigen oder gehemmten Lebens ist? – Es mag sein, daß sich ihr biologischer Werth darin ausdrückt …
Wenn also die Handlung weder nach ihrer Herkunft, noch nach ihren Folgen, noch nach ihren Begleiterscheinungen abwerthbar ist, so ist ihr Werth x, unbekannt …
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292.
Es ist eine Entnatürlichung der Moral, daß man die Handlung abtrennt vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die »Sünde« wendet; daß man glaubt, es gebe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind.
Wiederherstellung der »Natur«: eine Handlung an sich ist vollkommen leer an Werth: es kommt Alles darauf an, wer sie thut. Ein und dasselbe »Verbrechen« kann im einen Fall das höchste Vorrecht, im andern das Brandmal sein. Thatsächlich ist es die Selbstsucht der Urtheilenden, welche eine Handlung, resp. ihren Thäter, auslegt im Verhältniß zum eigenen Nutzen oder Schaden (– oder im Verhältniß zur Ähnlichkeit oder Nichtverwandtschaft mit sich).
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293.
Der Begriff »verwerfliche Handlung« macht uns Schwierigkeit. Nichts von Alledem, was überhaupt geschieht, kann an sich verwerflich sein: denn man dürfte es nicht weghaben wollen: denn Jegliches ist so mit Allem verbunden, daß irgend Etwas ausschließen wollen Alles ausschließen heißt. Eine verwerfliche Handlung heißt: eine verworfene Welt überhaupt … Und selbst dann noch: in einer verworfenen Welt würde auch das Verwerfen verwerflich sein … Und die Consequenz einer Denkweise, welche Alles verwirft, wäre eine Praxis, die Alles bejaht … Wenn das Werden ein großer Ring ist, so ist Jegliches gleich werth, ewig, nothwendig. – In allen Correlationen von Ja und Nein, von Vorziehen und Abweisen, Lieben und Hassen drückt sich nur eine Perspektive, ein Interesse bestimmter Typen des Lebens aus: an sich redet Alles, was ist, das Ja.
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294.
Kritik der subjektiven Werthgefühle. – Das Gewissen. Ehemals schloß man: das Gewissen verwirft diese Handlung; folglich ist diese Handlung verwerflich. Thatsächlich verwirft das Gewissen eine Handlung, weil dieselbe lange verworfen worden ist. Es spricht bloß nach: es schafft keine Werthe. Das, was ehedem dazu bestimmte, gewisse Handlungen zu verwerfen, war nicht das Gewissen: sondern die Einsicht (oder das Vorurtheil) hinsichtlich ihrer Folgen … Die Zustimmung des Gewissens, das Wohlgefühl des »Friedens mit sich« ist von gleichem Range wie die Lust eines Künstlers an seinem Werke, – sie beweist gar Nichts … Die Selbstzufriedenheit ist so wenig ein Werthmaaß für Das, worauf sie sich bezieht, als ihr Mangel ein Gegenargument gegen den Werth einer Sache. Wir wissen bei Weitem nicht genug, um den Werth unsrer Handlungen messen zu können: es fehlt uns zu Alledem die Möglichkeit, objektiv dazu zu stehn: auch wenn wir eine Handlung verwerfen, sind wir nicht Richter, sondern Partei … Die edlen Wallungen, als Begleiter von Handlungen, beweisen Nichts für deren Werth: ein Künstler kann mit dem allerhöchsten Pathos des Zustandes eine Armseligkeit zur Welt bringen. Eher sollte man sagen, daß diese Wallungen verführerisch seien: sie locken unsern Blick, unsre Kraft ab von der Kritik, von der Vorsicht, von dem Verdacht, daß wir eine Dummheit machen… sie machen uns dumm –
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295.
Wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden: darin ist unsre längste Übung, unsre Meisterschaft vielleicht, unser Raffinement in jedem Fall; wir haben die natürlichen Hänge mit dem bösen Gewissen verschwistert.
Ein umgekehrter Versuch wäre möglich: die unnatürlichen Hänge, ich meine die Neigungen zum Jenseitigen, Sinnwidrigen, Denkwidrigen, Naturwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesammt Welt-Verleumdungs-Ideale waren, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.
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296.
Die großen Verbrechen in der Psychologie:
1. daß alle Unlust, alles Unglück mit dem Unrecht (der Schuld) gefälscht worden ist (man hat dem Schmerz die Unschuld genommen); 2. daß alle starken Lustgefühle (Übermuth, Wollust, Triumph, Stolz, Verwegenheit, Erkenntniß, Selbstgewißheit und Glück an sich) als sündlich, als Verführung, als verdächtig gebrandmarkt worden sind; 3. daß die Schwächegefühle, die innerlichsten Feigheiten, der Mangel an Muth zu sich selbst mit heiligenden Namen belegt und als wünschenswerth im höchsten Sinne gelehrt worden sind; 4. daß alles Große am Menschen umgedeutet worden ist als Entselbstung, als Sich-opfern für etwas Anderes, für Andere; daß selbst am Erkennenden, selbst am Künstler die Entpersönlichung als die Ursache seines höchsten Erkennens und Könnens vorgespiegelt worden ist; 5. daß die Liebe gefälscht worden ist als Hingebung (und Altruismus), während sie ein Hinzunehmen ist oder ein Abgeben infolge eines Überreichthums von Persönlichkeit. Nur die ganzesten Personen können lieben; die Entpersönlichten, die »Objektiven« sind die schlechtesten Liebhaber (– man frage die Weibchen!). Das gilt auch von der Liebe zu Gott, oder zum »Vaterland«: man muß fest auf sich selber sitzen. (Der Egoismus als die Ver- Ichlichung, der Altruismus als die Ver- Änderung). 6. Das Leben als Strafe, das Glück als Versuchung; die Leidenschaften als teuflisch, das Vertrauen zu sich als gottlos.
Diese ganze Psychologie ist eine Psychologie der Verhinderung, eine Art Vermauerung aus Furcht; einmal will sich die große Menge (die Schlechtweggekommenen und Mittelmäßigen) damit wehren gegen die Stärkeren (– und sie in der Entwicklung zerstören…), andrerseits alle die Triebe, mit denen sie selbst am besten gedeiht, heiligen und allein in Ehren gehalten wissen. Vergleiche die jüdische Priesterschaft.
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297.
Die Überreste der Natur-Entwerthung durch Moral-Transscendenz: Werth der Entselbstung, Cultus des Altruismus; Glaube an eine Vergeltung innerhalb des Spiels der Folgen; Glaube an die »Güte«, an das »Genie« selbst, wie als ob das Eine wie das Andere Folgen der Entselbstung wären; die Fortdauer der kirchlichen Sanktion des bürgerlichen Lebens; absolutes Mißverstehen-wollen der Historie (als Erziehungswerk zur Moralisirung) oder Pessimismus im Anblick der Historie (– letzterer so gut eine Folge der Naturentwerthung wie jene Pseudo-Rechtfertigung, jenes Nicht-Sehen-wollen Dessen, was der Pessimist sieht –.
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298.
»Die Moral um der Moral willen« – eine wichtige Stufe in ihrer Entnaturalisirung: sie erscheint selbst als letzter Werth. In dieser Phase hat sie die Religion mit sich durchdrungen: im Judenthum z.B. Und ebenso giebt es eine Phase, wo sie die Religion wieder von sich abtrennt und wo ihr kein Gott »moralisch« genug ist: dann zieht sie das unpersönliche Ideal vor… Das ist jetzt der Fall.
»Die Kunst um der Kunst willen« – das ist ein gleichgefährliches Princip: damit bringt man einen falschen Gegensatz in die Dinge, – es läuft auf eine Realitäts-Verleumdung (»Idealisirung« in’s Häßliche) hinaus. Wenn man ein Ideal ablöst vom Wirklichen, so stößt man das Wirkliche hinab, man verarmt es, man verleumdet es. »Das Schöne um des Schönen willen«, »das Wahre um des Wahren willen«, »das Gute um des Guten willen« – das sind drei Formen des bösen Blicks für das Wirkliche.
– Kunst, Erkenntniß, Moral sind Mittel: statt die Absicht auf Steigerung des Lebens in ihnen zu erkennen, hat man sie zu einem Gegensatz des Lebens in Bezug gebracht, zu »Gott«, – gleichsam als Offenbarungen einer höheren Welt, die durch diese hie und da hindurchblickt …
»Schön und häßlich«, »wahr und falsch«, »gut und böse« –diese Scheidungen und Antagonismen verrathen Daseins- und Steigerungsbedingungen, nicht vom Menschen überhaupt, sondern von irgendwelchen festen und dauerhaften Complexen, welche ihre Widersacher von sich abtrennen. Der Krieg, der damit geschaffen wird, ist das Wesentliche daran: als Mittel der Absonderung, die die Isolation verstärkt …
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299.
Moralistischer Naturalismus: Rückführung des scheinbar emancipirten, übernatürlichen Moralwerthes auf seine »Natur«: d. h. auf die natürliche Immoralität, auf die natürliche »Nützlichkeit« u. s. w.