Das Einsteigen war leicht. Die Fabrik stieß mit ihrer Hinterfront an eine kleine, nachts kaum belebte Gasse. Löschte man dort die einzige Gaslaterne, so konnte man in aller Ruhe über die nicht sehr hohe Mauer klettern, und man war auf dem Hof.
Bruhn löschte die Gaslaterne und stieg über.
Die Hunde, die auf den Nachtwächter warteten – es war noch nicht neun Uhr –, schlugen einmal an und kamen dann winselnd zu ihm: Sie kannten ihn gut aus den Nächten, da er regelmäßig übergestiegen war, um die Ablieferungen zu verderben.
Er gab ihnen etwas Brot, warf einen Blick auf die vierstöckige Front der Fabrik, die sich über ihm dunkel, in den sternenlosen Nachthimmel tauchend, aufbaute. Er stutzte: Im Lohnbüro brannte noch eine Lampe.
Einen Augenblick stand er und überlegte. Aber dann kam er darauf, dass man sicher vergessen hatte, das Licht auszumachen – wer sollte um diese Zeit noch auf dem Lohnbüro sein? Er holte die Nachschlüssel hervor, die er auch noch von damals besaß, schloss die Tür sachte auf, scheuchte die Hunde fort und schloss drinnen sofort wieder ab.
Wieder stand er einen Augenblick lauschend, dann zog er seine Schuhe aus, versteckte sie hinter einem Bretterstoß und ging langsam den Gang zu den Werkstätten. Es war ziemlich dunkel hier, und Bruhn wagte nicht, Licht anzumachen, der Wächter kam immer um neun herum und konnte den Lichtschimmer an irgendeinem Fenster entdecken. Aber er tastete sich an der Wand entlang, bekam richtig die Stiegenstufen nach oben unter die Füße und stieg langsam und vorsichtig empor.
Die Treppenstufen knarrten, aber das bedeutete nichts, in der Fabrik war so viel Holz verbaut, das sich in den Winternächten, wenn die Heizung ausging, knackend zusammenzog: Niemand konnte über Knarren und Knacken unruhig werden.
Bruhn stand an der Tür zum Fallennestersaal. Er holte den zweiten Schlüssel hervor, suchte mit dem Finger, fand das Schlüsselloch, stieß den Schlüssel ein und schloss. Die Zuhalte sprang zurück, Bruhn hörte sie knacken, er legte die Hand auf den Türgriff, er gab nach, aber die Tür ging nicht auf.
Er drückte noch einmal, und wieder ging die Tür nicht auf.
Einen Augenblick stand er überlegend da, dann fingen seine Hände an, die Tür abzutasten: Es musste etwas sein, was sie noch immer zuhielt.
Plötzlich hielt er inne. Ihm war der Gedanke gekommen, der andere, jener verfluchte andere hielt die Tür von innen zu. Er stand lautlos, er lauschte. Nichts, nur sein Herz ging langsam und wie träge, dazu das eilige feine Ticken der Taschenuhr.
Die Welle von Angst war vorüber: Wie konnte der zuhalten, da der Türgriff nachgab? Bruhn suchte von Neuem. Er wurde im Dunkeln nicht schlau, da war etwas wie ein ganz kleines Loch über der Klinke, während das eigentliche Schlüsselloch unter der Klinke saß – was war das? Er musste schnell einmal den Lichtschein seiner Taschenlampe darüber werfen.
Er tat es. Ja, es war, wie er gefürchtet hatte. Man war wohl der ewigen Schmierereien, des widerlichen Gestankes müde geworden, man hatte ein zweites Schloss, ein Sicherheitsschloss über der Klinke angebracht.
Er konnte nach Haus gehen, Kania kam nicht, Kania wusste das sicher, er erwischte ihn nicht, die Auseinandersetzung war wieder vertagt.
Eine grenzenlose, erbitterte Wut erfüllte ihn. Morgen würde es sicher wieder etwas Neues geben, eine andere Gemeinheit, von Kania erdacht, unter dem Beifall der ganzen Arbeiterschaft durchgeführt – und er hätte so schön heute mit dem Kerl abrechnen können! Hätten die nicht noch einen Tag mit ihrem dämlichen Yaleschloss warten können!
Er hielt inne. Wer sagte denn, dass das Schloss heute erst drangekommen war? Am Tage war es nicht zu sehen, da stand die Tür immer weit auf, damit die Karren mit dem Holz durchfahren konnten, das Schloss mochte schon länger daransitzen. Und Kania kam doch herein, das war ja Schwindel, dass der Wächter um halb sieben seine Bank revidiert und sauber gefunden hatte! Kania hatte Helfer – vielleicht gab der Wächter ihm selbst den Schlüssel? Bruhn hatte vor Kanias Bude am frühen Morgen aufgepasst, nein, Kania war so früh nicht in der Fabrik gewesen, um drei Viertel sieben erst kam er aus seiner Wohnung, es war gelogen, dass die Bank noch um halb sieben sauber gewesen war! Aber was half ihm das alles? Er konnte hier nicht stehen und auf Kania warten. Der Wächter fand ihn, Kania sah ihn schon von Weitem, Bruhn konnte sich auf eine offene Prügelei mit ihnen nicht einlassen, er musste Kania überfallen bei seinem Tun, er musste sich verstecken!
Eine Weile stand er da und dachte nach.
Nein, es war zu ungewiss, auf welchem Wege Kania bis hierher kam. Bruhn konnte sich weder unten im Gang noch auf der Bühne des Maschinenraums verstecken. Kania hatte drei Möglichkeiten, bis hierher zu kommen, es wäre unsinnig gewesen, sich auf eine festzulegen, wahrscheinlich saß er dann die ganze Nacht umsonst. Bruhn musste in den Saal kommen, wenn nicht durch die Tür, dann …
Er stieß den Schlüssel ins Schloss und schloss die Tür wieder ab. Dem Wächter brauchte nichts aufzufallen.
Es gab natürlich die Möglichkeit vom Dach her, aber Bruhn war kein guter Kletterer, sein schwerer kurzer Körper war während der Gefängniszeit steif geworden. Außerdem hätte man sich den Kletterweg erst einmal bei Tage ansehen müssen. Eine Wand von irgendeinem anstoßenden Raum durchzubrechen, jetzt in der Nacht, ohne das nötige Handwerkszeug und der Wächter wahrscheinlich schon im Haus – das ging auch nicht.
Bruhn wandte sich langsam zum Gehen. Es war nichts zu machen, er hatte nun eben immer Pech. Ach, wäre es schön gewesen, den Kania aus dem Hinterhalt anzufallen und ihn mal zu verwackeln, dass er drei Wochen krank lag und doch nie auf Bruhn mit den Fingern zeigen konnte!
Aber Pech ist Pech.
Er stieg die ersten Treppenstufen hinunter.
Und blieb stehen.
Er sah einen Lichtschein ganz unten, das konnte der Wächter sein, aber er hörte auch sprechen. Diesen Rückweg gab es also nicht mehr.
Ich kann, dachte er, durch die Leimküche in den Sägemehlraum, das Gebläse ist weit genug, ich rutsche durch in das Kesselhaus …
Er ging schon zurück, da hörte er deutlich eine Stimme.
Er ging wieder an die Treppe, er lauschte.
Ja, es war die Stimme, er hörte sie laut rufen: »Komm herr, Hunnndeblut, verdammtes! Weiß ich, du bis obben, habbe ich dich über Mauer gehen gesehen!«
Bruhn hatte nichts bei sich, nur die beiden Schlüssel, sie waren schön groß und stark, er fasste sie und schleuderte sie durch den Treppenschacht nach dem Lichtschein.
Er hörte jemanden aufschreien, nein, es war nicht Kanias Stimme, es war auch nicht des Wächters Stimme, die rau und tief war, es war eine helle dünne schreiende Stimme, die er kannte …
Es waren mehr da, eine Jagd …
»Zeigen Sie doch, Herr Kesser … Das ist nicht schlimm, ein Kratzer …«
Ein Gesicht kam in den Lichtkreis der Laterne, ach, es war der Lohntütenmann, dem schadete es auch nichts, mit dem hatte er genug Krakeel gehabt!
»Nichts, nur ein Kratzer«, sagte der Wächter zu dem immer noch Klagenden. »Dann müssen Sie nicht mitkommen, denken Sie, das Aas lässt sich sooo fangen?!«
Plötzlich war das Treppenhaus hell, jemand, natürlich Kania, hatte die Lampen eingeschaltet, und gerade noch sah Bruhn: Er war schon in Gefahr; lautlos, mit langen Sätzen, auch in Strümpfen, sprang Kania die Treppe hinauf.
Bruhn lief, er lief aus dem Licht ins Dunkel, das machte alles schwerer, er kam in die Leimküche, es war sehr dunkel, die Luke würde schwer aufgehen.
Er hörte den anderen an der Tür zum Fallensaal rütteln, an der er eben noch gestanden hatte – wo war der Ring an der Luke? Hier in der Ecke musste es sein, seine Hände tasteten, dabei sah er gegen die Tür, die offengeblieben war, die sich, vom Lichtschein des Treppenhauses erhellt, deutlich in der schwarzen Wand abzeichnete.
Er hatte den Ring noch nicht gefunden, mit dem er die Luke anheben musste, da sah er einen Schatten in der Tür. Der andere schnaufte, horchte, Bruhn hielt sich geduckt, seine Hand tastete, kriegte einen eisernen Leimtopf zu fassen, er richtete seinen Blick zur Decke …
Richtig, das Licht ging an, Kania brüllte freudig: »Bist du da, komm, Emil, ich dich totschlagen, Verbrecher, verdammtes!«, da klirrte es, es war wieder dunkel, die Splitter fielen, Bruhn hatte die Glühbirne zerschmissen …
Und leise war er weggeglitten, stand jetzt in der anderen Ecke hinter dem Leimofen, sah auf den Gegner, der fluchend in der Türöffnung stand …
Dann war es ganz still … Er sah auf die Gestalt, die Gestalt stand reglos, lauschte wohl …
Kania sagte: »Komm doch herr, Emil! Hast du Schiss? Brauchst nicht Schiss habben, ich dich gleich schlag tott, ich habb Tottschlägger, geht schnell, tutt sich nich weh.«
Und schwang wirklich einen Knüppel in der Hand.
Bruhn hatte lautlos auf dem Leimofen vor sich gesucht, hatte gefunden, und mit einem Schwung warf er einen eisernen Leimtopf gegen die Gestalt.
Kania stieß einen fürchterlichen Fluch aus, halb Schmerzbrüllen, Bruhn hatte getroffen. Kania war fort, er hörte ihn auf dem Flur rufen: »Kommt doch her mit Taschenlampe, Schweine, soll ich kaputtgehen im Dunkeln?!«
Die Stufen knarrten.
Es war die höchste Zeit. Er fasste den Ring zur Luke, stemmte sie hoch, unten war alles schwarz, er ließ sich fallen in die Schwärze, und mit einem Donnergetöse schlug die schwere eichene Luke wieder über ihm zu.
Er war weich gefallen, auf Sägemehl. Ungewiss wie weit ab, hörte er über sich rufen oder reden. Er musste eilig weiter, er kroch über das Sägemehl.
Die Tür zu versuchen, war unsinnig, sicher war sie verschlossen, er musste die Gebläseöffnung finden.
Er glaubte sich zu erinnern, sie musste in der anderen Ecke sein, er fand sie, das Gebläse war sehr eng, aber vielleicht ging es. Er riss sich die Jacke vom Leib, die Hosen ab, streckte die Arme vor und stieg, mit den Beinen zuerst, ein. Dann fing er langsam an sich zurückzuschieben, wobei er mit aller Gewalt sich durch den engen Blechschlauch pressen musste.
Er war noch nicht weit ab vom Eingang, zwei oder drei Meter, da wurde der hell, die waren jetzt auch im Sägemehlraum. Er hörte sie aufgeregt reden, aber er verstand nichts, die Luft war so schlecht in dem engen Schlauch, es ging so mühsam zurück, sein Kopf schien zu dröhnen, es wurde ihm rot vor den Augen.
Sicher suchten sie ihn unter dem Sägemehl. Es würde eine Weile dauern, bis sie begriffen hatten, da war er nicht, und auf das Gebläse gerieten. Er schob sich zurück, beharrlich, Zentimeter um Zentimeter. Bis sie es gemerkt hatten, wo er steckte, musste er bis zum Knick des Gebläses gekommen sein, das senkrecht in das Kesselhaus im Erdgeschoss abfiel, da würde er glatt durchrutschen, fallen und konnte weg, bis sie über die Treppen unten waren …
Der runde Lichtkreis verdunkelte sich, etwas hatte sich davorgeschoben, nun hörte er eine Stimme: »Gebt die Lampe, vielleicht ist er hier.«
Der Lichtschein blendete ihn unsäglich, eine triumphierende Stimme schrie: »Da ist er! Da ist er! Gib Pistole, dass ich ihm schießen kann ins Gesicht, in dämliche Fresse! Gib Pistole, Wächter!«
Einen Augenblick war er wie gelähmt von unsinniger Angst, dann schob er sich mit einem Ruck zurück, dass die Muskeln und Knochen knackten, wieder, wieder …
Der Eingang zum Gebläse war einen Augenblick frei, sicher stritten sie sich um die Pistole …
Die dürfen doch nicht so ohne Weiteres schießen, dachte er. Ich leiste ja keinen Widerstand …
Und schob sich zurück, schob sich zurück …
Da war der Lichtschein wieder, er konnte nichts sehen, die Lampe blendete direkt in sein Gesicht. Kam denn der Knick noch immer nicht? O Gott, er knallt mir einfach ins Gesicht …
Seine Beine hatten jeden Halt verloren, baumelten. Er gab sich noch einen fürchterlichen Stoß, rutschte, es war, als sei alle Luft weg, die Lunge riss in der Brust, er fiel, er fiel, er konnte nichts mehr denken, es war vorbei … vorbei …
Dann kam er wieder zu sich, in einem Haufen Sägemehl neben der großen Kreissäge. Er sah um sich, lauschte: still. Er stand taumelnd auf, ihn fror in der dünnen Unterkleidung, er zitterte. Er lauschte wieder, nichts. Vielleicht war er nur eine Sekunde ohnmächtig gewesen? Nein, nichts.
Dann fiel ihm ein, dass sie ihn sicher im Kesselhaus suchten. Auch er hatte gedacht, er käme ins Kesselhaus, aber das war natürlich Unsinn, jetzt sah er es ein, die Luftsaugvorrichtung war sicher kein so weiter Schacht, er war glatt in den Maschinensaal gefallen. Dunkel war es, aber er tastete weiter, stieß gegen die Tür, natürlich war die Tür zu. Er Ochse, dass er die Schlüssel fortgeworfen hatte, vielleicht hätte einer gepasst. Sicher kamen sie nun gleich, sicher schlugen sie ihn tot.
Was sollte er tun? Er war ganz verwirrt, der Sturz in den Schacht hatte seinen Kopf schlimmer mitgenommen, als er geglaubt, er konnte sich kaum bewegen.
Erst jetzt fielen ihm die Fenster ein. Er war ja hier im Parterre, drei Etagen war er hinabgestürzt, die Fenster gingen auf den Hof, er musste oben nur durch die Lüftungsklappe steigen.
Mühsam humpelte er zum Fenster. Es war nicht zu begreifen, dass sie noch immer nicht kamen. Sie sollten ihn ruhig festnehmen, er war so müde. Bei Vater Philipp gab’s schöne Betten, es war alles gleich, und die Hauptsache war, dass der Mensch auf seinem Arsch liegen konnte.
Dieser Satz gefiel ihm. Der Mensch muss auf seinem Arsch lang liegen, dachte er, ging aber weiter zum Fenster, zog die Lüftungsklappe auf und sah hoch. Es waren drei Meter bis dahin, unten waren die Fenster kleine Drahtglasscheiben in festen Eisenrahmen, oben musste er durch.
Er war so müde, er müsste sich an einem Transmissionsriemen hochhangeln, besser wäre es eigentlich, sie kämen.
Er fasste den Riemen und fing an, sich mit den Händen an ihm hochzuziehen. Seine Arme schmerzten unsinnig, es war, als hätte er in ihnen nicht mehr die geringste Kraft. Aber das Schlimmste waren seine Beine, er wollte sich mit ihnen gegen die Wand stemmen, um seinen Armen das Gewicht des Körpers zu erleichtern, aber sie verweigerten den Dienst. Trotzdem kam er langsam, Hand um Hand, höher, er war schon nahe daran, den Rand der Lüftungsklappe zu fassen, als der Riemen auf seiner Scheibe zu rutschen anfing und Bruhn abstürzte.
Er schlug mit dem Körper gegen die Kante eines Sägetischs und verlor ein zweites Mal die Besinnung.
Als er die Augen wieder aufschlug, stand Kania vor ihm. Im Maschinensaal war es hell, Kania stand vor ihm, sah ihn mit seinen kleinen, schwarzen, funkelnden Augen an, wippte mit einem Gummiknüppel und sagte nichts.
Bruhn sagte auch nichts, er blieb liegen, er war eisesstarr und todmüde. Seine blauen Lippen bewegten sich, es wurde aber nur etwas wie ein kümmerliches Lächeln daraus. Er fürchtete sich nicht mehr.
»Marsch! Los, Schwein!« schrie Kania plötzlich und stieß Bruhn mit dem Fuß in die Seite.
Bruhn rollte träge dem Druck nachgebend etwas weiter und schloss wieder die Augen.
»Willst du auf, Verrbrecherr!« schrie Kania und riss Bruhn am Rockkragen.
Sobald er ihn wieder losließ, fiel Bruhn wieder zusammen.
»Soll dich traggen, möchtste?« schrie Kania und schlug Bruhn den Gummiknüppel mit aller Wucht über den Kopf. Bruhn hob den Kopf etwas an, sein Körper straffte sich, als wollte er aufstehen, dann sank er mit einem kleinen leisen Seufzer in sich zusammen, seine Augen verdrehten sich, aus ihren Winkeln traf ein blauer Blick Kania …
»Verstell dich, Schwein!« schrie der und schlug noch einmal zu.
Bruhn lag da, die feste, breite, verarbeitete Hand hatte sich geöffnet, die fleißigen Finger hingen schlaff.
Kania sah verständnislos auf ihn. Dann überkam ihn eine Ahnung, sein Mund zuckte, er beugte sich zu dem Liegenden und rief leise, mit einem Blick zur offenen Tür: »Emil! Emil!«
Der antwortete nicht mehr.
Der Mörder sah scheu zur Tür, nein, sie kamen noch nicht, er konnte noch fort. Er sprang hin, lauschte auf den Gang, knipste das Licht aus – und machte es wieder an.
Er ging schnell in den Raum, er sah nicht nach der stillen Gestalt des Schläfers auf dem Fußboden, er lief zu den Hobelmaschinen, raffte Späne zusammen, Holzabfälle, warf sie an einen Bretterstoß, nahm Streichhölzer … eine kleine blaue Flamme züngelte auf, er blies …
Dann lief er schon. Er vergaß das Licht auszulöschen, warf die Tür ins Schloss, lief weiter, den Gang hinunter nach dem Hof, lief auf den Hof …
Der Wächter kam mit dem Lohnbuchhalter aus dem Maschinenhaus.
»Na, hast du ihn gefunden?«
»Nichts«, sagte Kania.
»Er muss durch irgendein Fenster sein. Oder ist er bei den Brettern versteckt?«
»Wir müssen ihn kriegen!«
»Schwein, verfluchtes!« sagte Kania mühsam.
Er stand mit dem Rücken zum Maschinensaal, er beobachtete die Gesichter der beiden.
»Ich geh noch mal mit den Hunden die ganze Fabrik durch«, sagte der Wächter.
»Oooh, Gott«, schrie der Lohnbuchhalter plötzlich. »Da!!!«
Hinter den Scheiben des Maschinensaales erhob sich eine ungeheure Flamme, stieg höher, höher, sie hörten es prasseln …
»Hat err angesteckt!« schrie Kania. »Seht, Lüftungsklappe ist auf!«
»Hat er doch getan, was er gedroht hat«, sagte der Lohnbuchhalter.
»Was quasselt ihr«, schrie der Wächter. »Lauft zum Feuermelder. – Telefonieren Sie nach der Polizei. – Mensch, Kania, lauf ins Kesselhaus, mach die Klappe zum Elevator zu, das Feuer schlägt sonst durch das ganze Haus!«
»Zu spät!« sagte der Kania. »Da sieh!«
Im dritten Stock war es plötzlich taghell, sie hörten ein Brüllen, ein Fauchen, hinter der Hofmauer wurden schreiende Stimmen laut …
»Kapott! Alles kapott!« sagte Kania. »Is sich Fabrrik hin. Kann ich wieder stempeln gehen, Schwein, verdammtes!«
»Heißen …?!«
»Kufalt.«
»Vorname auch!«
»Willi Kufalt.«
»Wilhelm! Mitkommen!«
Es ist der alte Ton, so klingt die alte Melodei.
Kufalt geht vor dem Wachtmeister her, in einer Zelle lärmt ein Stromer und bettelt um Schnaps: »Eenen lütten Köm! Blot en Lütten!!«
Dann klirrt die Eisenpforte, sie gehen über den Hof, im Rathaus laufen viele Menschen, alle sehen Kufalt neugierig oder betreten an.
Es ist beinahe Mittag des nächsten Tages, aber Kufalt, der ja den Rummel kennt, ist erstaunt, dass er schon wieder zur Vernehmung kommt. Oder wird daraus doch noch eine zweite Gegenüberstellung?
Er ist jetzt ruhig, von einer bösen, gehässigen Ruhe.
Die können machen mit mir, was sie wollen. Nachzuweisen ist mir nichts, sie müssen mich laufen lassen. Und dann …! Und dann …!
Herr Brödchen sitzt im Zimmer bei seinem Chef, dem großen, kräftigen Polizeioffizier, der sich hinter seinem Schreibtisch aufgebaut hat und irgendwelche Akten liest. Er tut so, als hörte er gar nicht hin nach der Vernehmung, die sein Untergebener mit Kufalt anstellt, aber Kufalt kapiert, nachdem er einen Seitenblick aufgefangen hat, dass der eben nur so tut.
»Setzen Sie sich, Herr Kufalt«, sagt Brödchen merkwürdig friedlich.
Kufalt sagt guten Tag und setzt sich.
Brödchen legt den Kopf auf eine Seite und schaut Kufalt prüfend an. »Haben Sie sich die Sache nun überlegt, Herr Kufalt?« fragt er.
»Ich hab nichts zu überlegen«, sagt Kufalt. »Sie haben mich widerrechtlich eingesperrt: Die Frau hat mich nicht gekannt.«
»Wohl hat die Frau Zwietusch Sie gekannt«, widerspricht der andere. »Nur das künstliche Licht hat sie verwirrt.«
»Ich bin nie in der Wohnung gewesen«, sagt Kufalt.
»Sie sind doch in der Wohnung gewesen!«
»Das muss einem erst bewiesen werden!«
»Frau Zwietusch wird es beschwören.«
»Die? – ›Habe ich grün gesagt, Herr Kommissar, war er nicht größer?‹ – Sie haben ja selbst nicht daran geglaubt.«
»Warum lügen Sie eigentlich so nutzlos, Herr Kufalt? Sie waren ja in der Wohnung.«
»Ich war nicht in der Wohnung!«
»Und was ist dies?«
Kufalt sieht und erstarrt. Sieht und erstarrt.
Das ist eine Abonnementsquittung des »Boten« für Frau Emma Zwietusch, Töpferstraße 97, auf den Monat Januar, »eine Mark und 25 Pfg. erhalten – Kufalt«.
Sieht und erstarrt.
Und sogleich kommt eine Erinnerung in ihm hoch aus dem Zimmer, eine Erinnerung von gestern Abend, als die dicke Frau weinerlich zu ihm sagte: »Und Sie haben mir noch zugeredet, ich sollte mich um mein Essen kümmern, Sie könnten warten …«
So oder ähnlich.
Damals regte es sich in ihm, er war auf der Spur, dann kam der Maurer dazwischen, und er vergaß es wieder … Also doch dagewesen, verschwitzt unter den Hunderten von Gesichtern der letzten Wochen …
Sein Kopf senkt sich auf die Brust, er sieht keinen an. Erschossen wie Robert Blum, denkt er.
Die lassen ihm Zeit.
Erst nach einer langen Weile fragt Herr Brödchen ganz friedfertig: »Nun, Herr Kufalt …?«
Kufalt reißt sich zusammen. Also schön, er ist reingeschlittert. Er wird nicht so schnell rauskommen, wie er gedacht hat. Er muss sich damit abfinden. Vorbestrafte kommen eben leicht wieder rein, so oder so.
Wird er also gestehen, wird er ein piekfeines Geständnis machen.
Wenn er das jetzt vor der Polizei schon macht, kommt er vielleicht billiger weg. Was kann die Geschichte kosten …? Es ist einfacher Diebstahl, aber er ist vorbestraft – ein Jahr? Anderthalb Jahre? Wie schön, dass er keine Bewährungsfrist nachzubrummen hat, es ist doch eben immer ein Trost da …
Es schwirrt nur so durch seinen Kopf, da kann man schon mal die beiden von der Polente vergessen. Dann fühlt er wieder ihre Blicke und hört Brödchen schon ungeduldiger fragen: »Also bitte, Herr Kufalt?!«
(Warum sagt er eigentlich noch immer Herr zu mir?!)
»Na schön.« Kufalt gibt sich einen Ruck. »Ja, ich bin in der Wohnung gewesen.«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Hab gedacht, ich käme so durch.«
»Sie haben gedacht, wir ließen Sie laufen und Sie könnten türmen?«
»Auch.«
»Was noch?«
»Hab gedacht, ich könnte die Olle verwirren.«
»So – und Sie haben also die dreihundert Mark genommen?«
»Ja. Selbstredend.«
»Sie haben sie genommen?!! Gestohlen …?«
»Natürlich.«
Zu seiner Verwunderung merkt Kufalt, dass Brödchen keineswegs mit ihm zufrieden ist. Nein, Herr Brödchen starrt ihn nachdenklich an und kaut mit den Zähnen an der Unterlippe herum.
Auch der Polizeioffizier hat mit Blättern aufgehört und sieht sich seinen geständigen Verbrecher an.
»Hab’s geklaut«, hat Kufalt das Bedürfnis, seine Aussage zu ergänzen. »Ich brauchte Geld, wollte heiraten.«
»Sie haben doch aber sehr viel Geld verdient?«
»Das war eben nicht genug.«
Es wird still.
Nun sehen sich Chef und Untergebener an. Kufalt wieder betrachtet die beiden. Etwas ist nicht im Lote, soviel ist klar. Nun neigt der Polizeichef seinen Kopf zum Kriminalassistenten und flüstert dem was zu.
Brödchen sieht Kufalt wieder nachdenklich an und nickt langsam mit dem Kopf.
»Herr Kufalt«, sagt er. »Sie wissen also bestimmt, Sie haben das Geld gestohlen?«
»Aber natürlich!«
»Und was haben Sie sonst noch ausgefressen …?!!«
Die Frage fährt auf Kufalt zu, messerscharf. Sein Herz krampft sich einen Augenblick zusammen, dann sagt er mit einem dummen Lächeln: »Aber gar nichts, Herr Sekretär, das war mein erster Versuch.«
»Doch! Leugnen Sie nicht! Wir haben uns erkundigt. Sie – haben …«
Brödchen neigt sich vor und starrt Kufalt durchdringend an.
Vieles jagt durch Kufalts Hirn: Haben sie Batzke gekitscht? – Erkundigt, seit wann sagt denn Polente erkundigt …? Bluff ist es, Maske muss man haben, ich starr wieder, Ochsenkopf – Ossenkopp met Hürn, mecklenburgisches Wappen …
Wirklich, er starrt wacker wieder zurück.
Und richtig: Herr Brödchen kann seinen so tüchtig mit »Sie – haben« begonnenen Satz nicht beenden.
»Wenn Sie auf längere Polizeihaft Wert legen, Kufalt«, sagt er stattdessen.
»Was machen mir schon ein paar Nächte im Kittchen aus?« fragt Kufalt böse zurück.
Herr Brödchen geht darüber hin, kapiert sichtlich nichts von Kufalts Wut.
»Aus welcher Schublade haben Sie denn das Geld genommen?«
»Aus der Kommodenschublade!«
»Aus der ersten, zweiten oder dritten?«
»Aus der obersten – nein, ich weiß es nicht mehr genau, ich war ziemlich aufgeregt.«
»Wo lag es denn da?«
»Ich glaube, unter Wäsche.«
»Wie sind Sie denn darauf gekommen? Hat Ihnen jemand erzählt, dass da Geld drin lag?«
»I wo. Hab’s eben mal versucht, weil sie so lange am Herd blieb.«
»Soso.« Herr Brödchen reibt nachdenklich seine schlecht rasierten Backen. »Soso. Und das Protokoll können wir dementsprechend aufsetzen?«
»Ja.«
»Und Sie unterschreiben?«
»Ja.«
»Und gehen dafür ins Kittchen?«
»Ja.«
»Ich taxiere so ein bis zwei Jahre.«
»Habe ich auch gedacht, Herr Assistent«, sagt Kufalt frech und schaut Brödchen gemacht demütig an. Er ist sich klargeworden, die bluffen nur, das Protokoll wird nie geschrieben.
»Schmeißen Sie den Kerl raus, Brödchen!« sagt der Offizier plötzlich. »Ich kann ihn nicht mehr riechen, das verlogene Aas.«
»Jawohl, Herr Major.«
Brödchen steht stramm, auch Kufalt ist aufgefahren bei dem Ausbruch.
Brödchen fragt halblaut: »Und die andere Sache?«
»Rausschmeißen! Rausschmeißen! Sie sehen doch! So was henkt sich immer von alleine, warum sollen wir uns damit quälen?! Du kommst uns schon, Bürschchen!« schreit der Offizier Kufalt direkt ins Gesicht und schüttelt die Faust gegen ihn.
»Guten Tag«, sagt Kufalt höflich, als er von Brödchen geführt aus dem Büro geht.
»Was ist denn bloß los, Herr Assistent?« fragt er draußen. »Warum ist denn der so wütend? Habe ich das Geld nicht geklaut?«
»Hauen Sie bloß ab, Mensch. Lassen Sie sich drüben Ihre Sachen geben, und verduften Sie. Ich klingele gleich rüber.«
»Aber habe ich Ihnen was vermasselt? Ich versteh nichts, sagen Sie mir bloß …«
»Komm du mir einmal richtig in die Finger, Jungchen, dann sollst du was erleben …!«
Kufalt sieht in das gelbe, wutzitternde Gesicht.
Habe ich fein auf Touren gebracht, denkt er.
»Was macht mir schon eine Nacht im Kittchen aus, Herr Assistent«, sagt er, und diesmal kapiert Herr Brödchen.
»Hören Sie mal!« ruft er.
Aber Kufalt ist schon auf dem Wege zu Vater Philipp, sich seine Sachen geben zu lassen.