Ich habe mich später oft gefragt, ob ich an diesem Abend wohl völlig betrunken gewesen bin. Natürlich bin ich das nicht gewesen, davon hätten sowohl Magda als auch ich etwas gemerkt, und doch habe ich an diesem Abend den ersten Rausch meines Lebens gehabt. Ich schwankte nicht, ich lallte nicht. Das hatten diese anderthalb Glas muffigen Rotweins selbst bei einem so nüchternen Menschen wie mir nicht bewirken können, aber doch hatte mir der Alkohol die ganze Welt verwandelt. Er spiegelte mir vor, dass es keine Entfremdung und keinen Streit zwischen Magda und mir gegeben hätte, er verwandelte meine geschäftlichen Sorgen in Erfolge, in solche Erfolge, dass ich sogar hundert Mark zu verschenken hatte, keine beträchtliche Summe gewiss, aber in meiner Lage war schließlich keine Summe ganz unbeträchtlich.
Als ich am nächsten Morgen erwacht war und alle Geschehnisse von dem vergessenen Fußabtreter bis zum verschenkten Hundertmarkschein an meinem geistigen Auge vorüberziehen ließ, da wurde mir erst klar, wie schmählich ich an Magda gehandelt hatte. Ich hatte sie nicht nur über meine geschäftliche Lage getäuscht, nein, ich hatte diese Täuschung auch noch durch ein Geldgeschenk untermauert, um sie noch glaubhafter zu machen, etwas, das juristisch wohl »Betrug« genannt werden würde. Aber das Juristische war ganz gleichgültig, das Menschliche allein war wichtig, und das Menschliche an dieser Sache war einfach furchtbar. Ich hatte zum ersten Mal in unserer Ehe Magda wissentlich betrogen – und warum? Warum in aller Welt?! Für gar nichts – ich hätte ja von all diesen Dingen wunderbar schweigen können, wie ich bisher von ihnen geschwiegen hatte. Niemand zwang mich zum Sprechen. Niemand? Doch ja, der Alkohol hatte mich dazu gebracht.
Als ich das erst einmal erkannt hatte, als ich in vollem Umfange erfasst hatte, welch Lügner der Alkohol ist und wie er dazu aus ehrlichen Menschen Lügner macht, schwor ich mir zu, nie wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken und auch auf das ab und zu bisher genossene Glas Bier zu verzichten.
Aber was sind Vorsätze, was sind Entwürfe? Ich hatte mir ja auch an diesem Morgen der Ernüchterung zugeschworen, wenigstens die gestern Abend zwischen Magda und mir aufgekommene wärmere Stimmung zu nützen und es nicht wieder zu einer Entfremdung oder gar zu einem Streit kommen zu lassen. Und doch vergingen nicht viele Tage, und wir stritten uns schon wieder. Es war eigentlich völlig unbegreiflich: Vierzehn Jahre unserer Ehe waren praktisch ohne jeden Streit vergangen, und jetzt im Fünfzehnten war es, dass wir nicht mehr ohne Streiten leben konnten. Manchmal schien es mir geradezu lächerlich, über was für Dinge alles wir miteinander in Streit gerieten. Es schien, als müssten wir uns zu bestimmten Zeiten streiten, ganz gleich warum. Auch das Streiten scheint wie ein Gift zu sein, an das man sich rasch gewöhnt und ohne das man bald nicht mehr leben kann. Zuerst bewahrten wir natürlich ängstlich die Form, wir suchten möglichst sachlich beim Streitgegenstand zu bleiben und alles persönlich Kränkende zu vermeiden.
Auch legte uns die Anwesenheit unseres kleinen Hausmädchens Else Hemmungen auf. Wir wussten, sie war neugierig und trug alles weiter, was sie erfuhr. Damals wäre es mir noch unaussprechbar schrecklich gewesen, wenn irgendjemand in der Stadt von meinen Sorgen und unseren Streitereien erfahren hätte. Nicht sehr viel später freilich war es mir vollkommen gleichgültig geworden, was die Menschen von mir dachten und sprachen, und, was das Schlimmere war, ich hatte auch alle Scham vor mir selbst verloren.
Ich habe gesagt, dass Magda und ich uns an fast täglichen Streit gewöhnten. Freilich waren das eigentlich nur Quengeleien, kleine Sticheleien um ein Garnichts, etwas, das die zwischen uns immer wieder auftauchenden Spannungen ein wenig erleichterte. Auch das war eigentlich ein Wunder, aber kein schönes: Viele Jahre hatten Magda und ich eine ausgesprochen gute Ehe geführt. Wir hatten uns aus Liebe geheiratet, damals waren wir alle beide sehr kleine Angestellte gewesen, jeder mit einem Handköfferchen, so waren wir zusammengelaufen. Ach, die herrliche entbehrungsreiche Zeit unserer ersten Ehejahre – wenn ich heute daran zurückdenke! Magda war eine wahre Haushaltskünstlerin, manche Woche kamen wir mit zehn Mark aus, und es kam uns vor, als lebten wir dabei wie die Fürsten.
Dann kam die wagemutige, von immerwährender Anspannung erfüllte Zeit, da ich mich selbstständig machte, da ich mit Magdas Hilfe mein eigenes Geschäft aufbaute. Es glückte – o du lieber Himmel, wie uns damals alles glückte! Wir brauchten nur etwas anzufassen, unseren Fleiß und unseren Eifer einer Sache zuzuwenden, und schon gelang sie, blühte auf wie eine gut gepflegte Blume, trug uns Früchte … Kinder blieben uns versagt, sosehr wir uns nach ihnen auch sehnten. Magda hatte einmal einen Umschlag,1 von da an war es mit allen Aussichten auf Kinder vorbei. Aber wir liebten uns darum nicht weniger. Viele Jahre unserer Ehe waren wir immer wieder frisch verliebt ineinander. Ich habe nie eine andere Frau als Magda begehrt. Sie machte mich vollkommen glücklich, und mit mir ist es ihr wohl auch nicht anders gegangen.
Als dann das Geschäft lief, als es jenen Umfang erreicht hatte, der ihm durch die Größe unserer Stadt und unseres Landkreises gegeben war, einen Umfang, über den hinaus eine Erweiterung nur durch völlige Änderung all unserer Lebensumstände und durch Wegzug von unserer Vaterstadt möglich war, als also das brennende Interesse etwas zu erlahmen begann, kam als Ersatz der Erwerb des eigenen Grundstücks vor der Stadt, der Bau unserer Villa, die Anlage unseres Gartens, die Einrichtung, die uns nun für den Rest unseres Lebens begleiten sollte – alles Dinge, die uns wieder eng aneinanderbanden und uns die Abkühlung, die in unserer Ehebeziehung eingetreten war, nicht merklich werden ließen. Wenn wir uns nicht mehr so wie früher liebten, wenn wir nicht mehr so oft und heiß nacheinander begehrten, so empfanden wir das nicht als einen Verlust, sondern als etwas Selbstverständliches: Wir waren eben allgemach alte Eheleute geworden, was uns geschah, geschah allen, war etwas Natürliches. Und, wie gesagt, die Kameradschaft beim Planen, Bauen, Einrichten ersetzte uns das Verlorene vollkommen, aus Liebesleuten waren wir Kameraden geworden, wir entbehrten nichts.
Zu jener Zeit hatte sich Magda schon ganz von der tätigen Mithilfe in meinem Geschäft freigemacht, ein Schritt, den wir beide damals als selbstverständlich ansahen. Sie hatte jetzt eine größere eigene Haushaltung; der Garten und ein bisschen Federvieh erforderten auch Pflege, und der Umfang des Geschäftes gestattete ohne Weiteres die Einstellung einer neuen Hilfskraft.
Später sollte sich zeigen, wie verhängnisvoll sich das Ausscheiden Magdas aus meinem Betrieb auswirken sollte. Nicht nur, dass wir dadurch wiederum ein gut Teil unserer gemeinsamen Interessen verloren, auch stellte sich heraus, dass ihre Mithilfe eigentlich unersetzlich war. Sie war bei Weitem aktiver als ich, unternehmungslustiger, auch war sie viel geschickter als ich im Umgang mit den Menschen und vermochte sie auf eine leichte, scherzhafte Weise gerade dahin zu bekommen, wo sie die Leute haben wollte.
Ich war das vorsichtige Element in unserer Gemeinschaft, die Bremse gewissermaßen, die eine zu gewagte Fahrt hemmte und sicherte. Im Geschäftsverkehr selbst hatte ich die Neigung, mich möglichst zurückzuhalten, mich niemandem aufzudrängen und nie um etwas zu bitten. Es war demnach unvermeidlich, dass nach Magdas Ausscheiden die Geschäfte erst einmal im alten Gleis weitergingen, dass wenig Neues dazukam und dass dann allmählich, ganz langsam, Jahr um Jahr, ihr Umfang zurückging.
Über alle diese Dinge bin ich mir freilich erst viel später klar geworden, zu spät, als es schon nichts mehr zu retten gab. Damals, als Magda ausschied, war ich eher etwas erleichtert: Ein Mann, der seine Firma allein vertritt, genießt bei den Menschen ein größeres Ansehen als der, dem die Frau in alles hineinreden kann.
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Erst, als unsere Streitereien begannen, merkte ich, wie fremd Magda und ich uns in den Jahren geworden waren, da sie ihre Hauswirtschaft besorgte und ich den Geschäften vorstand. Die ersten Male empfand ich wohl noch etwas wie Scham über unser Sichgehenlassen, und wenn ich merkte, dass ich Magda verletzt hatte, dass sie gar mit verweinten Augen umherging, schmerzte mich das fast so sehr wie sie selbst, und ich gelobte mir Besserung. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, und ich fürchte beinahe, er gewöhnt sich am raschesten, in einem Zustand von Erniedrigung zu leben.
Es kam der Tag, da ich beim Anblick von Magdas verweinten Augen mir nicht mehr Besserung gelobte, sondern mit einer von erschrockenem Staunen untermischten Befriedigung mir sagte: ›Diesmal habe ich es dir aber ordentlich gegeben! Immer gewinnst du mit deiner raschen Zunge doch nicht die Oberhand über mich!‹ Ich fand es schrecklich, dass ich so empfand, und doch fand ich es richtig, es befriedigte mich, so zu empfinden, so paradox dies auch klingen mag. Von da an war es nur ein kleiner Schritt bis dahin, wo ich sie bewusst zu verletzen suchte.
In jenem äußerst kritischen Zeitpunkt unserer Beziehungen waren die Lebensmittellieferungen für die Gefängnisverwaltung wie alle drei Jahre neu ausgeschrieben. Wir haben in unserem Ort – gerade nicht zum Entzücken seiner Einwohner – das Zentralgefängnis der Provinz liegen, das ständig etwa fünfzehnhundert Häftlinge in seinen Mauern birgt. Seit neun Jahren hatten wir diese Lieferungen schon, Magda hatte sich seinerzeit sehr darum bemüht, sie zu erhalten. Bei den beiden späteren Vergebungen hatte sie immer nur einen kurzen Höflichkeitsbesuch bei dem entscheidenden Oberinspektor der Verwaltung gemacht, und der Zuschlag war uns ohne Weiteres zugefallen.
Ich sah diese Lieferung für einen so selbstverständlichen Teil meines Geschäftes an, dass ich auch diesmal kein weiteres Aufheben von der Sache machte: Ich ließ das alte Angebot, dessen Preisgestaltung sich nun schon seit neun Jahren bewährt hatte, abschreiben und einreichen. Ich überlegte auch einen Besuch bei dem entscheidenden Oberinspektor, aber alles lief ja in seinen eingelaufenen Bahnen; ich wollte nicht aufdringlich erscheinen, ich wusste, der Mann war mit Arbeit überlastet – kurz, ich hatte mindestens zehn gute Gründe, den Besuch zu unterlassen.
Danach traf es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als mich ein Schreiben der Gefängnisverwaltung mit wenigen dürren Worten dahin unterrichtete, dass mein Angebot abgelehnt und dass die Lieferungen einer anderen Firma zugeschlagen worden seien. Mein erster Gedanke war der: dass nur Magda nichts davon erfährt! Dann nahm ich meinen Hut und eilte zu dem Oberinspektor, jetzt den Besuch zu machen, der drei Wochen früher sinnvoll gewesen wäre.
Ich wurde höflich, aber kühl aufgenommen. Der Oberinspektor bedauerte, dass die alte Geschäftsverbindung nun unterbrochen sei. Er habe aber gar nicht anders handeln können, da ein Teil der von mir genannten Preise längst überholt gewesen sei, mal nach der höheren, mal nach der niedrigeren Seite hin. Im Ganzen gleiche es sich wohl etwa aus, aber mein Angebot habe nun eben auf die maßgebenden Herren – ich möge seine Offenheit verzeihen – einfach einen schlechten Eindruck gemacht, als sei es meiner Firma ganz gleichgültig, ob sie den Zuschlag erhalte oder nicht. Ich erfuhr weiter, dass eine ganz junge, mit allen Mitteln aufstrebende Firma, die mir schon einige Male Ärger bereitet hatte, auch dieses Mal wieder als Sieger aus dem Rennen hervorgegangen war. Zum Schluss drückte der Oberinspektor noch in aller Höflichkeit die Hoffnung aus, in drei Jahren wieder mit meiner Firma in die alte Verbindung treten zu können, und ich war entlassen.
Ich wusste, ich hatte mir in dem Gefängnisbüro nichts von meiner Bestürzung, ja meiner Verzweiflung über diesen Fehlschlag anmerken lassen; ich hatte meine Erkundigung halb mit Höflichkeit, halb mit Neugier nach dem Namen des glücklichen Gewinners frisiert. Als ich aber wieder draußen vor den schweren Eisentoren des Gefängnisses stand, als der letzte Riegel rasselnd hinter mir zugeschoben war, sah ich in den hellen Sonnenschein dieses wunderbaren Frühlingstages wie jemand, der soeben aus einem schweren Traum erwacht ist und noch nicht weiß, ob er nun wirklich wach ist oder ob er noch immer unter dem Albdruck des Traumes seufzt. Ich seufzte noch unter ihm, umsonst hatte das eiserne Gittertor mich zur Freiheit entlassen, ich blieb gefangen in meinen Sorgen und Misserfolgen.
Es war mir jetzt unmöglich, in die Stadt und auf mein Kontor zu gehen, vor allem aber musste ich mich erst sammeln, ehe ich vor Magda trat – ich ging fort von der Stadt und den Menschen, ich ging in die Felder und Wiesen hinaus, immer weiter fort, als könnte ich mir und meinen Sorgen entlaufen. Ich habe aber an diesem Tage nichts von dem frischen Smaragdgrün der jungen Saaten gesehen, nicht habe ich das eilige Glucksen der Bäche und die Trommelwirbel der Lerchen in der blaugoldenen Luft gehört: Ich war grenzenlos allein mit mir und meinem Missgeschick. Mein Herz war so übervoll davon, dass nichts anderes mehr hineinkonnte.
Ich war mir ganz klar darüber, dass dies für mein Geschäft nicht mehr ein kleiner Fehlschlag war, der mit einem achselzuckenden Bedauern hingenommen werden konnte: Die Lieferung der Nahrungsmittel für fünfzehnhundert Menschen war selbst bei bescheidenem Nutzen ein so wesentlicher Teil meines Umsatzes, dass es nicht ohne einschneidende Veränderungen meines ganzen Betriebes hingenommen werden konnte. An einen Ersatz für diesen Ausfall war bei dem Mangel ähnlicher Gelegenheiten in unserer bescheidenen Provinzstadt nicht zu denken. Äußerste Tatkraft hätte die Zahl der Einzelgeschäfte um einige Dutzend steigern können, aber ganz abgesehen davon, dass dies noch lange keinen Ersatz für den Ausfall bedeutete, fühlte ich mich gerade jetzt zu dieser äußersten Tatkraft ganz unfähig. Aus irgendwelchen Gründen war ich schon seit fast einem Jahr unfrisch. Immer mehr neigte ich dazu, den Dingen ihren Lauf zu lassen und mich nicht zu sehr zu erregen. Ich war ruhebedürftig – warum, weiß ich nicht. Vielleicht wurde ich früh alt.
Es war mir klar, dass ich mindestens zwei Angestellte würde entlassen müssen, aber auch das berührte mich nicht einmal so sehr, obwohl ich wusste, wie sehr darüber geschwätzt werden würde. Nicht das Geschäft bekümmerte mich im Augenblick, sondern Magda. Immer wieder war mein Hauptgedanke, meine Hauptsorge: dass bloß Magda nichts davon erfährt! Wohl sagte ich mir, dass ich auf die Dauer die Entlassung von zwei Angestellten und den Verlust der Lieferungen überhaupt nicht vor ihr verbergen konnte. Aber ich log mir vor, dass alles darauf ankomme, dass sie nicht gerade jetzt davon erführe, dass ich in einigen Wochen vielleicht doch den einen oder anderen Ersatz gefunden haben könnte.
Dann hatte ich wieder einen hellen Augenblick. Ich blieb stehen, stieß mit dem Fuß energisch gegen einen Stein im Staube des Weges und sagte zu mir: ›Da Magda doch davon erfahren wird, ist es besser, sie erfährt es durch mich als durch anderer Leute Mund, und es ist wiederum besser, sie erfährt es heute als irgendwann. Mit jedem Tag, den du dies aufschiebst, wird das Geständnis schwerer. Schließlich habe ich kein Verbrechen begangen, sondern nur eine Nachlässigkeit.‹ Wieder stieß ich mit dem Fuß gegen den Stein: ›Ich werde Magda einfach bitten, mir wieder im Geschäft zu helfen. Das versöhnt sie mit meinem Misserfolg und bringt mir und dem Betrieb nur Nutzen. Ich bin wirklich nicht sehr frisch und kann eine Hilfskraft gut gebrauchen …‹
Aber diese hellen Augenblicke gingen schnell vorüber. Ich hatte stets so viel auf die Achtung der Leute und vor allem auf die Magdas gegeben. Ich hatte stets peinlich darauf gesehen, dass ich als der Chef respektiert wurde. Ich konnte es auch jetzt, gerade jetzt, nicht übers Herz bringen, von dieser Würde ein Jota abzulassen und mich gerade vor Magda zu demütigen. Nein, ich war entschlossen, die Lage selbst zu meistern, komme, was wolle. Ich mochte mir auch nicht von einer Frau helfen lassen, mit der ich mich fast täglich zankte. Es war klar vorauszusehen, dass sich diese Zänkereien bis ins Kontor fortsetzen würden – sie würde dort auf ihrem Willen beharren, ich würde widersprechen, sie würde mir meine Misserfolge vorwerfen – o nein, unmöglich!
Wieder stampfte ich mit dem Fuß auf, aber diesmal in den Staub des Weges. Ich sah hoch. Ich hatte keine Ahnung, wohin mich meine Füße getragen hatten, so sehr war ich in meine Sorgen versponnen gewesen. Ich stand in einem Dorf, nicht übermäßig weit von meiner Vaterstadt entfernt, einem Dorf, das wegen einiger reizender Birkenwäldchen und eines Sees ein beliebter Frühlingsausflugsort meiner Mitbürger ist. Aber an diesem Wochentagvormittag gab es hier noch keine Ausflügler, dafür ist man bei uns daheim zu fleißig. Ich stand gerade vor dem Gasthof, und ich spürte, dass ich Durst hatte.
Ich trat in die niedrige, weite, aber dunkle Schankstube ein. Ich hatte sie immer nur erfüllt von vielen Städtern gesehen, die frühlingshaft hellen Kleider der Frauen hatten den Raum heller gemacht und ihm trotz seiner Niedrigkeit etwas Beschwingtes gegeben. Denn wenn die Städter hier waren, hatten die Fenster offengestanden, auf den Tischen lagen dann bunte Decken, und überall gab es in hohen Vasen helle Sträuße von Birken. Jetzt war der Raum dunkel, auf den Tischen lag gelblich-bräunliches Wachstuch, es roch stickig, denn die Fenster waren fest verschlossen.
Hinter der Theke stand ein junges Mädchen, dessen Haar schlecht zurechtgemacht und dessen Schürze schmutzig war, es flüsterte eifrig mit einem jungen Kerl, der nach seiner kalkbespritzten weißen Kleidung ein Maurer zu sein schien.
Mein erster Impuls war der, umzukehren. Aber mein Durst und mehr noch das Gefühl, sofort wieder meinen Sorgen ausgeliefert zu sein, ließen mich stattdessen an die Theke treten. »Geben Sie mir was zu trinken, irgendwas, das den Durst löscht«, sagte ich.
Ohne aufzusehen, ließ das Mädchen Bier in ein Glas laufen, ich sah zu, wie der Schaum über den Rand troff. Das Mädchen schloss den Bierhahn, wartete einen Augenblick, bis der Schaum sich gesetzt hatte, und ließ noch einen Schuss Bier nachlaufen. Dann schob es mir, wiederum ohne ein Wort, das Glas über den stumpfen Zink zu. Es machte sich wieder an sein Flüstern mit dem Maurerburschen, bisher hatte es mich noch nicht mit einem Blick angesehen.
Ich hob das Glas zum Munde und trank es bedächtig, Schluck für Schluck, ohne einmal abzusetzen, leer. Es schmeckte frisch, prickelnd und leicht bitter, und indem es meinen Mund passierte, schien es in ihm etwas von einer Helle und Leichtigkeit zu hinterlassen, die vorher nicht in ihm gewesen war.
›Geben Sie mir noch einmal von dem‹, wollte ich sagen, besann mich aber anders. Ich hatte vor dem jungen Menschen ein helles, kurzes, gedrungenes Glas stehen sehen, das man bei uns eine »Stange« nennt und in dem gewöhnlich Korn ausgeschenkt wird. »Ich möchte auch solch eine Stange«, sagte ich plötzlich. Wie ich, der ich mein Lebtag keinen Schnaps getrunken, der ich immer eine tiefe Abneigung gegen den Geruch von Schnaps gehabt habe, dazu kam, weiß ich nicht zu sagen. In jenen Tagen änderten sich alle Gewohnheiten meines Lebens, geheimnisvollen Einflüssen war ich ausgeliefert, und genommen war mir die Kraft, ihnen zu widerstehen.
Zum ersten Male sah mich jetzt das Mädchen an. Langsam hob es die etwas körnigen Lider und blickte mich mit hellen, wissenden Augen an. »Mit Schnaps?«, fragte es.
»Mit Schnaps«, sagte ich. Das Mädchen griff nach einer Flasche, und ich überlegte mir, ob mich je in meinem Leben ein weibliches Wesen schon einmal so schamlos wissend angeschaut hätte. Dieser Blick schien bis auf den Grund meines Mannestums dringen zu wollen, als möchte er erfahren, was ich als Mann gelte; ich empfand ihn wie etwas Körperliches, etwas schmerzlich süß Beleidigendes, als sei ich nackt ausgezogen worden von diesen Augen.
Das Glas war gefüllt, es wurde zu mir über den Zink geschoben, die Lider hatten sich wieder gesenkt, das Mädchen wandte sich an den Burschen; mein Urteil war gesprochen. Ich hob das Glas, zögerte – und schüttete den Inhalt in einem plötzlichen Entschluss in die Mundhöhle. Es brannte atemraubend, dann verschluckte ich mich, zwang die Flüssigkeit aber doch die Kehle hinunter. Ich fühlte sie brennend und beizend hinunterrinnen – und in meinem Magen entstand ein plötzliches Gefühl von Wärme, einer wohltuenden, heiteren Wärme.
Dann musste ich mich am ganzen Leibe schütteln. Der Maurer sagte halblaut: »Die sich so schütteln, das sind die Schlimmsten«, und das Mädchen lachte kurz. Ich legte eine Mark auf den Zink und verließ ohne ein weiteres Wort die Gaststätte.
Der Frühlingstag empfing mich mit sonniger Wärme und leichtem, seidenfeinem Wind, aber als ein Verwandelter kehrte ich in ihn zurück. Aus der Wärme in meinem Magen war eine Helligkeit in meinen Kopf emporgestiegen, mein Herz pochte frei und stark. Jetzt sah ich das Smaragdgrün der jungen Saaten, jetzt hörte ich die Lerchenwirbel im Blau. Meine Sorgen waren von mir abgefallen. ›Es wird sich alles schon einmal regeln‹, sagte ich mir heiter und schlug den Weg heimwärts ein. ›Warum sich jetzt schon drum plagen?‹ Ehe ich in die Stadt kam, kehrte ich noch in zwei weiteren Gasthäusern ein und trank in jedem noch solch ein Stängchen, um die rasch verfliegende Wirkung wiederzuholen und zu verstärken. Mit einem leichten, aber nicht unangenehmen Benommenheitsgefühl langte ich zu Hause gerade zur rechten Zeit für das Mittagessen an.