1 Sommergetreide <<<
2 Dampf, dichter Dunst <<<
Ich hatte in meinem Geschäftsleben manches Mal mit dem Amtsgericht zu tun gehabt und kannte die Lokalitäten dort also ziemlich genau. Aber dort, wohin mich der Wachtmeister Schulze jetzt führte, war ich nie zuvor gewesen. Es ging durch das ganze Gerichtsgebäude durch (es ist mit dem Landgericht zusammengebaut) auf einen ziemlich engen inneren Hof, der auf einer Seite von einer hohen Steinmauer abgeschlossen war, auf den drei anderen aber von hohen Gebäuden; und das Gebäude, auf das wir gerade zugingen, hatte von oben bis unten nur kleine, fast quadratische Fensterlöcher, die alle mit starken Gittern geschützt waren.
›Dort oben werde ich also hausen, vielleicht Wochen und Wochen‹, dachte ich, und Angst überfiel mich. Jetzt hätte ich meinen Begleiter gerne vieles nach den Einrichtungen und Gewohnheiten eines solchen Gefängnisses gefragt, aber dafür war es nun zu spät: Schulze drückte auf einen Klingelknopf, eine große Eisentür tat sich auf, und ein blau Uniformierter begrüßte Schulze mit Handschlag und mich mit einem kühlen prüfenden Blick.
»Eine Einlieferung, Karl«, sagte Schulze. »Die Papiere kommen heute Nachmittag noch von der Staatsanwaltschaft.«
»Stellen Sie sich mal dahinten hin!«, sagte der Uniformierte zu mir, und ich stellte mich gehorsam an den mir befohlenen Fleck. Die beiden Uniformierten flüsterten miteinander und sahen dabei ein paarmal auf mich hin, einmal hörte ich auch das Wort »Mordversuch« – es schien aber keinen besonderen Eindruck zu machen.
Dann rief mir Schulze aus der Ferne zu: »Also halten Sie die Ohren steif, Sommer«, und die Tür schlug hinter ihm zu; er war in die Freiheit zurückgegangen, und mir war trotz allem, als hätte ich einen Freund verloren.
»Kommen Sie mal mit«, sagte der Uniformierte nachlässig und führte mich in eine Bürostube, in der aber niemand war. »Legen Sie mal alles hier auf den Tisch, was Sie in den Taschen haben!«
Ich tat es, es war wenig genug: ein Schlüsselbund, ein Taschenmesser, ein ziemlich schmutziges Taschentuch.
»Ist das alles, was Sie haben? Kein Geld? Na, dann halten Sie mal die Arme hoch.«
Ich tat es und wurde nun von oben bis unten abgefühlt, nach verborgenen Tascheninhalten vermutlich.
»Na gut«, sagte der blau Uniformierte dann. »Ich werde Sie erst einmal in die Elf legen, der Inspektor ist jetzt nicht hier, es ist Mittagspause.«
Ich fragte höflich, ob ich nicht auch ein Mittagessen haben könne. Ich habe noch keines bekommen.
»Essen ist vorbei«, antwortete er kühl. »Es ist nichts mehr da.«
»Aber ich habe auch kein Frühstück bekommen!«, rief ich erregt. Bisher war mein Hunger nach Essen nicht gerade sehr groß gewesen, jetzt aber merkte ich ihn gewaltig. Ich fühlte mich in meinen Rechten gekränkt: Auch ein Gefangener muss essen!
»Umso besser wird Ihnen das Abendessen schmecken«, antwortete er ungerührt. »Also kommen Sie!«
Er führte mich einen Gang entlang, durch ein Eisengitter hindurch, eine Treppe hinauf, durch eine eiserne Tür. Ich sah einen langen Gang, düster, mit vielen eisenbeschlagenen Türen, mit Riegeln und Schlössern, und wieder eine Treppe hinauf, wieder eine Eisentür – immer musste der Mann aufschließen und zuschließen und tat es so selbstverständlich … Mir aber legte es sich auf die Brust: Alle diese Türen, die jetzt zwischen mir und der Außenwelt lagen, sie brachten es mir so recht deutlich zu Bewusstsein, wie sehr ich gefangen war, wie schwer es wieder sein würde, in die Freiheit zu kommen. Vom ersten Augenblick an spürte ich die Wahrheit des Satzes, den ich später so oft im Gefängnis hörte: »Du kommst so leicht hinein und so schwer hinaus.«
Mein Führer war vor einer eisernen Tür stehen geblieben, die eine weiße »11« trug. Hier hinter also sollte ich hausen. Er schloss auf, und hinter der Tür zeigte sich eine zweite Tür. Auch sie wurde aufgeschlossen.
»Gehen Sie rein«, sagte mein Begleiter ungeduldig, und ich trat ein. Von einem schmalen Bett erhob sich eine gewaltige Gestalt, ein großer Mann erheblichen Umfangs, mit einer blonden Glatze und einer Brille.
»Ein bisschen Gesellschaft?«, fragte er. »Na, das ist schön. Woher kommst du denn?«
Ich war so verblüfft, dass ich in der Zelle einen Gefährten haben sollte, dass ich es erst viel später merkte: Der Schließer war gegangen und ich endgültig und unwiderruflich eingeschlossen.
»Setz dich man, da auf den Schemel«, sagte der Dicke. »Ich hau mich noch ein bisschen aufs Bett. Es ist zwar verboten, aber der Fermi sagt nichts. Fermi ist der, der dich eben raufgebracht hat.«
Ich setzte mich auf den Schemel und starrte den auf dem Bett liegenden Mann an. Er trug Zivil wie ich, einen einstmals wohl sehr eleganten Anzug von einem guten Schneider, der jetzt aber recht zerdrückt und auch fleckig war.
»Sind Sie auch ein Gefangener?«, fragte ich schließlich.
»Das will ich meinen!« lachte der Dicke. »Denkst du, ich sitze hier zur Erholung in diesem Bunker? Übrigens kannst du ruhig ›du‹ zu mir sagen, wir nennen uns hier alle ›du‹. – Ja«, fuhr er fort und reckte sich stöhnend, »ich sitze hier schon elf Wochen im Bau, aber denkst du, ich habe schon eine Anklage? Nicht die Bohne! Die Brüder lassen sich Zeit, ihretwegen kannst du hier verfaulen und verschimmeln, deswegen gehen die nicht einen Schritt schneller. Was hast du denn ausgefressen?«
»Der Staatsanwalt hat mich wegen Mordversuch an meiner Frau verhaftet«, antwortete ich mit bescheidenem Stolz. Und setzte schnell hinzu: »Aber das stimmt nicht. Davon ist kein Wort wahr.«
Wieder lachte der Dicke. »Natürlich ist es nicht wahr«, lachte er. »Hier drin sitzen überhaupt nur Unschuldige – wenn du die Leute fragst.«
»Bei mir ist es aber wirklich wahr«, versicherte ich. »Ich habe meine Frau nie ermorden wollen, wir haben uns nur ein bisschen gestritten.«
»Na ja«, sagte der Dicke. »Mit der Zeit wirst du dir schon die Brust freiquasseln; jeder, der das Sitzen nicht gewohnt ist, fängt mit der Zeit an zu quasseln. Pass dann nur auf, mit wem du redest, die meisten wollen sich lieb Kind beim Inspektor machen, hinterbringen ihm alles – und schon bist du drin.« Er sah mich aus seinen kleinen Augen zwischen Fettwülsten hindurch treuherzig an und meinte: »Bei mir aber kannst du offen reden, ich bin eine Seele von einem Menschen, ich bin stiekum.«
»Was sind Sie?«
»Stiekum, das sagt man hier für Dichthalten. Ich quatsche nicht, verstehst du?«
»Ich habe aber wirklich nichts zu gestehen«, versicherte ich wieder.
»Na, das werden wir ja noch erleben«, sagte der Dicke gemütlich. »Vielleicht hast du Schwein, und der Untersuchungsrichter ist deiner Meinung und erlässt keinen Haftbefehl gegen dich.«
»Ich bin doch schon vom Staatsanwalt selbst verhaftet.«
»Das hat gar nichts zu sagen«, belehrte mich der Dicke. »Erst kommst du morgen oder übermorgen vor den Untersuchungsrichter. Der vernimmt dich, und wenn er deiner Ansicht ist, bist du wieder frei …«
»Und das stimmt wirklich?«, fragte ich aufgeregt. »Ich kann noch freikommen?«
»Natürlich kannst du das, aber oft ereignet sich das nicht gerade. Na, wir werden es ja erleben.« Und er dehnte sich wieder behaglich.
Mich berauschte die Aussicht auf die vielleicht nahe Freiheit, ich stand auf und lief gedankenvoll in der Zelle hin und her. Wenn Magda günstig für mich aussagte, würde ich freikommen. Und sie würde günstig für mich aussagen, ich fühlte das. Und selbst wenn sie noch zornig auf mich war, nie konnte sie sagen, dass ich sie hätte ermorden wollen. Das hatte ich nie gewollt. Dunkel kam mir in Erinnerung, dass ich etwas gesagt hatte wie: »Heute Nacht komme ich und ermorde dich«, aber das war doch nur betrunkenes Gerede gewesen, das galt nicht.
»Höre mal«, sagte der Dicke, »renne mal nicht so in der Zelle hin und her, damit machst du mich nervös! Setz dich mal ruhig dort auf den Schemel, nimm aber erst das Kissen runter, es ist nämlich mein Privatkissen. Auf deine Falle kannst du dich noch nicht legen, deinen Strohsack bringt dir der Olle erst heute Abend. Gott, wie mich dieser Stall ankotzt!« Damit gähnte der Dicke herzhaft, ließ einen Fürchterlichen fahren – ich fuhr erschrocken zusammen –, stöhnte: »Das hat aber gutgetan!«, und war auch gleich eingeschlafen.
Ich aber will nicht länger in solcher Breite die ersten Tage meiner Untersuchungshaft erzählen. Sie waren so qualvoll, dass ich eines Nachts leise aufstand, an den Schrank des Dicken ging und aus seinem Rasierapparat die Klinge nahm: Ich wollte mir den Hals durchschneiden. Nur brachte ich nachher doch den Mut dazu nicht auf. Ich hatte probeweise erst einen Schnitt am Handgelenk getan, der nur wenig blutete, mich aber beruhigte. Der Wille zum Leben siegte, und ich tat die Klinge noch in der gleichen Nacht in den Apparat zurück.
Im Ganzen aber ging meine Entwöhnung vom Alkohol leichter, als ich erwartet hatte. Ich war eben doch noch kein richtiger Trinker gewesen, hatte erst kurze Zeit mich dem Schnaps ausgeliefert und nie weiße Mäuse laufen sehen. Viel half mir bei dieser Entwöhnung, dass ich mich schon den dritten oder vierten Tag freiwillig zur Arbeit meldete. Ich hielt das tatenlose, grübelnde Herumsitzen in der Zelle und vor allem die Gesellschaft des Dicken, der übrigens Düstermann hieß, nicht aus. Ich glaube, ich hätte ihn umgebracht, wäre ich gezwungen gewesen, alle Tage vierundzwanzig Stunden in seiner Gesellschaft zuzubringen.
Er war nichts wie ein Vieh; ein unverhüllt egoistischerer Mensch ist mir nie vorgekommen. Er hatte sich alle Erleichterungen, die das Gesetz dem Untersuchungshäftling zugesteht, verschafft: hatte auf dem harten Strohsack Decken und Kissen, bekam regelmäßig zu rauchen und Fresspakete, gab aber nie auch nur das geringste ab. In den ersten Tagen, da ich noch kein eigenes Waschzeug auf der Zelle hatte, verbot er mir sogar die Benutzung seines Kammes. Nicht einmal seinen Spiegel durfte ich in die Hand nehmen, und nur widerwillig erlaubte er mir, von seinen alten Zeitungen ein Blatt als Klosettpapier zu benutzen.
»Nee, nee, Sommer«, sagte er dann wohl, »hier heißt’s: ›Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!‹ Wie komme ich dazu, für dich zu sorgen? In was sorgst du denn für mich? Bloß nervös machst du mich.«
Das war auch so ein Punkt, der mich rasend machen konnte: Alles, was ich tat, machte Düstermann nervös. Ich durfte nicht in der Zelle auf und ab gehen; drehte ich mich nachts auf dem Strohsack rum, so schimpfte er über Ruhestörung; wollte ich einmal das kleine Fensterloch öffnen, so schrie er, er verkühle sich die Glatze, und wir mussten weiter in Hitze und Gestank hocken. Er aber erlaubte sich alles. Er fraß sinnlos die Fresspakete auf, die seine Frau zweimal wöchentlich für ihn ablieferte, saß den Tag sechsmal auf dem Kübel, furzte ständig mit einer wahren Wollust und schnarchte nachts so laut und andauernd, dass ich viele Stunden lang wach liegen musste, den trübsten Gedanken ausgeliefert. Wenn ich je einen Menschen aus meines Herzens tiefstem Grunde gehasst habe, so war es Düstermann.
Ich habe mir oft überlegt, wie ein solches Vieh unbeanstandet draußen in der Freiheit hat leben und sogar eine Ehe hat führen können, in der die Frau auch jetzt noch zu ihm hielt. Ich sagte mir dann nach einigem Nachdenken, dass Düstermann draußen wohl einen jener vitalen, genussfreudigen, anscheinend zutraulichen dicken Geschäftsleute gespielt hat, die von den Leuten mit lächelndem Wohlwollen betrachtet werden. Sicher hat er sich nicht so gehen lassen wie bei mir in der Zelle, aber ich war eben auch nur ein Kittchenbruder, und bei mir kam es nicht mehr darauf an. Ich habe in späterer langer Leidenszeit mit sehr viel einfacheren Leuten, als es Düstermann war, zusammengelegen, mit Arbeitern, ja mit Stromern, aber keiner hat sich so gemein gehen, so unverhüllt allen seinen Trieben ihren Lauf gelassen wie dieser Düstermann.
Von Beruf war er nichts als Häuserbesitzer, er war der Sohn eines reichen, längst verstorbenen Vaters, der ihm eine Reihe stattlicher Zinshäuser und andere Liegenschaften hinterlassen hatte. Mit der Verwaltung dieses Grundbesitzes hatte Düstermann bisher sein Leben verbracht. Und bei der Verwaltung dieses Besitzes war ihm dann auch jenes Missgeschick passiert, das ihn in das Gefängnis führte und mir zum Zellengenossen gab. Da er auch draußen sich alles, anderen aber nichts gönnte, und jede Freiheit für sich in Anspruch nahm, hatte er eines seiner Zinshäuser, dessen baufälliger Zustand ihn schon lange geärgert hatte, höchstpersönlich angesteckt, um mit der hohen Versicherungssumme die Neubaukosten zu decken. Bei dem Brande war eine Frau mit ihrem Kinde ums Leben gekommen.
»Das dumme Luder!«, konnte Düstermann wohl schimpfen. »Konnte sie nicht rechtzeitig rauslaufen wie alle anderen?! Aber nein, das dämliche Aas musste ja erst irgendwelchen Dreck in einen Koffer stecken, und dann machte ihr der Rauch die Flucht unmöglich. Was kann ich für die Dummheit von der Ollen?
Der Staatsanwalt will mir natürlich einen Strick daraus drehen! Aber da kennt er Düstermann schlecht. Die besten Anwälte habe ich mir genommen, und geht alles schief, lasse ich mir den § 51 geben, bin geisteskrank und lebe als Rentier in irgendeiner hübschen Klapsmühle.« Seine Schuld an dieser Brandstiftung gab Düstermann ganz offen zu. »Ja, Mensch, wozu soll ich denn lügen? Sie haben mich doch mit der Petroleumkanne in der Hand geschnappt! Da hat Leugnen doch keinen Zweck! Ja, wenn ich in der Lage wie du wäre, würde ich auch leugnen bis zum Verrecken – aber so – bin ich eben geisteskrank!« Er lachte dröhnend.
»Im Grunde«, fuhr er wohl fort und bemitleidete sich dabei selbst, »hat mich bloß meine Gutmütigkeit dazu gebracht. Ich bin eben einfach ein gutmütiger Dussel. Ich konnte es nicht sehen, dass die Leute weiter in einer so baufälligen, verwanzten Baracke hausten. Anständige Wohnungen wollte ich ihnen schaffen – und das habe ich nun von meiner Gutmütigkeit!«
Dieser Düstermann also machte es, dass ich mich freiwillig zur Arbeit meldete, und seines beißenden Hohnes war ich dabei sicher. Wenn ich abends von der Arbeit in die Zelle zurückkam, mit müden Knochen, aber doch friedlicher im Herzen, so begrüßte er mich etwa so: »Da kommt ja der Musterknabe! Na, hast du fleißig gearbeitet? Hast dich bei dem Schwein von Inspektor beliebt gemacht? Du wirst dich schön geschnitten haben! Der Staatsanwalt schickt dich deshalb doch genauso lange ins Kittchen, wie wenn du hier ruhig in der Zelle sitzen bliebest! Solche Arschkriecher wie du verderben das ganze Kittchen. Solche wie du erreichen es noch, dass für uns alle die Arbeit als Pflicht eingeführt wird! Aber warte, ich besorge es dir schon noch!«
Ich hörte kaum noch auf sein Gerede und sprach nie mehr ein Wort mit diesem gemeinen Menschen. Das störte ihn natürlich gar nicht, er hatte eine Rhinozeroshaut und redete ruhig mit mir fort, ich mochte ihm antworten oder nicht.
Also, ich hatte mich freiwillig zur Arbeit gemeldet. Der Oberwachtmeister Splittstößer gab mir eine ganz neue blaue Jacke der Gefängniskluft heraus, und ich wurde mit zehn oder zwölf anderen auf einen von hohen Mauern umgebenen Gefängnishof geführt, wo Berge von Holz lagen. Auch wir hatten wohl früher das Anmachholz für unsere Zentralheizung, das wir in Klaftern auf der Försterei gekauft hatten, zum Gefängnis fahren und dort zerkleinern lassen. Ich hatte mir nie einen Gedanken darüber gemacht, wer da wohl mein Holz gesägt und gehauen hatte.
Nun stand ich selber alle Tage acht Stunden am Sägebock, mir gegenüber ein vielfach vorbestrafter gewohnheitsmäßiger Einbrecher, Mordhorst mit Namen; gemeinsam zogen wir acht Stunden lang die Säge durch Kiefern-, Buchen- und Eichenholz. Ein Posten ging bei uns auf dem Hof hin und her und passte auf, dass nicht gar zu viel geredet und gar zu wenig gearbeitet wurde – aber nun war ich es, der das Holz für die Bürger meiner Vaterstadt sägte, und diesmal würde der Kaufmann Hölscher, für den wir gerade arbeiteten, auch nicht mit einem Gedanken daran denken, dass es sein langjähriger Kunde Sommer war, der ihm diese Arbeit verrichtete.
Zu Anfang störte es mich noch sehr, dass die vierte Seite des Hofes vom Landgerichtsgebäude begrenzt war, viele Fenster sahen auf mich und meine in blauer Gefängniskluft steckenden sägenden Arme herab, aber in wenigen Tagen war ich daran gewöhnt und drehte kaum den Kopf, wenn Mordhorst flüsterte: »Der Staatsanwalt steht mal wieder am Fenster und will sehen, ob wir uns auch unseren Fraß verdienen. Säg langsamer, Kumpel. Wenn der kiekt, will ich gar nicht arbeiten.«
Mordhorst war ein kleiner, drahtiger Mann mit einem verbitterten, faltigen Gesicht und pfeffergrauem Haar. Weit über die Hälfte seines Lebens hatte er in Zuchthäusern und Gefängnissen verbracht. Das war ihm so selbstverständlich, dass er gar nicht davon sprach. Er bereute nichts, sehnte sich nie nach einem anderen Leben. Von seinen Straftaten erzählte er nie etwas, so wie ein Handwerksmeister auch nicht von seiner beruflichen Tätigkeit spricht. Einbrechen war für ihn wie Hosennähen für einen Schneidermeister. Erst von anderen Gefangenen hörte ich, dass Mordhorst in der sogenannten Verbrecherwelt ein weit berühmter Mann war, er konnte den modernsten Geldschrank bewältigen, und er war bekannt dafür, dass er stets ohne »Kumpel«, ohne Gehilfen arbeitete. Er war ein Einzelgänger, ein typischer Feind der Gesellschaft.
Ihn wurmte allein, dass er in einem solchen »Drecknest«, wie er meine Vaterstadt nannte, hängen geblieben war, bloß wegen »Mist«. Er war auf der Reise nach Hamburg, wo er etwas Großes durchführen wollte, hier für einen Tag hängen geblieben und hatte bloß nachts, weil er angetrunken war und nichts zu rauchen in der Tasche hatte, den Rauchwarenkiosk auf unserem Marktplatz aufgebrochen. Dabei hatten sie ihn geschnappt. »Denk doch bloß an, Mensch«, konnte sich Mordhorst ereifern. »Ich hatte drei Blaue in der Tasche, ich hätte mir in meiner Absteige so viel zu rauchen kaufen können, wie ich nur wollte. Bloß weil ich dun war! Und nun werden sie mir wegen so einem Mist fünf Jahre Zet aufknacken, in die Luft könnte ich gehen, wenn ich daran denke!«
Bei mir fand ich es ganz egal, ob Mordhorst wegen einer großen Geldschrankknackerei oder wegen eines kleinen Rauchwarendiebstahls fünf Jahre Zuchthaus bekam, fünf Jahre würden es unter allen Umständen. Aber ich hütete mich wohl, das laut auszusprechen, denn Mordhorst war auch ein hitziger, jähzorniger Mann und hatte mir im Anfang gewaltig mit Wutausbrüchen zugesetzt, wenn ich unerfahrener Neuling die Säge wieder so ungeschickt geführt hatte, dass sie klemmte. Einmal wollte er mir sogar in seiner Wut mit einem Stück Holz über den Schädel schlagen, nur das Dazwischentreten des Wachtmeisters rettete mich vor einem Niederschlag.
Aber nach fünf Minuten war Mordhorst dann wieder normal und vernünftig, ich glaube, ihn hatten die langen Haftjahre so hemmungslos und wild gemacht. An seinem Hirn nagte bestimmt ein Wurm; wer Jahre und Jahre in einer Zelle umhergeht, immer nur auf den Tag der Entlassung, der Freiheit wartend, und wer dabei im tiefsten Innern weiß, dass auch der längste Aufenthalt in der Freiheit nur ein Gastspiel von höchstens einigen Monaten sein wird, dem wieder Jahre und Jahre härtesten Wartens folgen werden – der kann nicht normal bleiben.
Ich selbst habe viel von Mordhorst gelernt. Er wusste alles über Gerichte, Gefängnisse und Zuchthäuser. Es war ganz erstaunlich, wie gut dieser kleine, schweigsame Mann, der mit niemandem Gemeinschaft zu haben schien, über alles und jedes unterrichtet war. Er wusste, was für Fleisch wir am Sonntag bekommen würden und was der neu eingelieferte Mann in Zelle 21 ausgefressen haben sollte. Er kannte die Familienverhältnisse, das Gehalt und die Sorgen jedes Wachtmeisters. Er konnte mit einem Hosenknopf, einem Zwirnsfaden und einem Stein Feuer machen für eine Zigarette. Er hatte immer zu rauchen und immer etwas extra zu essen, obgleich niemand Fresspakete für ihn abgab. Er hatte stets Geld in der Tasche, was streng verboten war, er besaß ein Messer (ebenfalls verboten) und hatte irgendeinen Weg, Briefe ohne die Zensur des Staatsanwaltes aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Er kannte eben all die unterirdischen Wege, die mit der Zeit sich in jeder menschlichen Gemeinschaft eröffnen, sie mag noch so streng beaufsichtigt sein.
Ich war für ihn immer ein Neuling, ein wahrer Säugling, er gab mir ein bisschen von seiner Lebenserfahrung ab, ließ sich aber nie mir gegenüber zu irgendwelchen Geständnissen hinreißen. Ich sah aber wohl, dass er mit anderen Gefängnisinsassen anders umging. Alte Kittchenbrüder verständigen sich mit einem Blick und einem Augenzwinkern. Sie gehen hintereinanderher, sie haben kaum die Lippen bewegt, und schon ist irgendwas von der einen in die andere Hand geglitten.
Die Wachtmeister ließen Mordhorst viel mehr Freiheit als zum Beispiel mir. Sie drückten bei ihm ein Auge zu, er konnte sich vieles erlauben. Vielleicht hatten manche Angst vor ihm, weil er so viel wusste, ich glaube aber eher, sie scheuten die Scherereien, die das Anbinden mit einem so gefährlichen Mann notwendig mit sich bringen musste.
Wenn er fünf Minuten lang tatenlos am Sägebock gestanden hatte und ich flüsterte ihm zu: »Du, Mordhorst, säg wieder los! Der Wachtmeister guckt ständig her«, tat Mordhorst nichts dergleichen.
Und kam dann der Wachtmeister wirklich zu uns und sagte: »Na, Mordhorst! Nun ist’s aber genug gefaulenzt, nun mal wieder ran!«, so sagte er hitzig: »Schinde ich mich nicht schon genug für meine dreißig Pfennig am Tage?« (Wir bekamen nämlich dreißig Pfennig »Arbeitsbelohnung« am Tag, die für den Tag der Entlassung gutgeschrieben wurden.) »Soll ich mir die Haut von den Pfoten schuften für die Speckjäger, die?!« Und er sah böse zu den Fenstern des Landgerichts hinüber.
Der Wachtmeister lachte dann meist und sagte: »Du hast wieder mal deinen Koller, Mordhorst! Der Staatsanwalt wird von deinem Sägen nicht fetter und nicht magerer …«
Mordhorst aber murrte: »Man weiß, was man weiß«, griff in den Sägebügel, den ich ihm hinhielt, und weiter sägten wir, Schnitt um Schnitt, Kloben um Kloben, Stunde um Stunde.
Es waren eigentlich gute Stunden, die wir dort auf dem Holzhof abmachten. Heute denke ich nicht ungern an sie zurück, so endlos und schwer sie mich damals auch dünkten. Nach den unvermeidlichen Gliederschmerzen, die mir die ungewohnte Arbeit erst eintrug, gewöhnte sich mein Körper rasch an die Sägerei, die Arbeit half mir, die Abstinenzerscheinungen leichter zu überwinden.
Der Frühling ging jetzt so langsam in den Sommer über, auf dem Hof standen hohe Obstbäume, Birnen und Äpfel, in deren Schatten wir den Sägebock rückten, wenn die Sonne gar zu heiß brannte; die Sägen knirschten und schrien manchmal, wenn sich ein Span gegen das Blatt stemmte, eintönig klang das Klopfklopf der Holzfäller zu uns herüber; jenseits der Mauer, unsichtbar, lärmten Kinder bei ihren Spielen auf der Straße. Wir zogen erst die Jacken, dann die Westen aus; manche arbeiteten auch mit ganz entblößtem Oberkörper, wozu ich mich nie entschließen konnte; die Stunden flossen vorüber, das Leben glitt dahin, ich lebte in einem – täuschenden – Gefühl von Sicherheit und Regelmäßigkeit. Die Zeiten der Unordnung und Gefahren schienen vorbei, und es kam mir so leicht vor, dieses Leben auch draußen fortzusetzen, ein stilles, friedliches Leben, fast ohne Zukunft.
Leise sprachen Mordhorst und ich davon, was es heute Abend zu essen geben würde und wie das Essen heute Mittag gewesen war – das Essen spielte eine Hauptrolle in unseren Gesprächen, auch ich bekam wie Mordhorst keine Fresspakete und war noch mehr als er auf die Gefängniskost angewiesen. Dabei war er ein besserer Kamerad als Düstermann, der Wohlversorgte; fast jeden Tag brachte er mir etwas mit, eine Kleinigkeit, die draußen gar keinen Wert gehabt hätte, etwa eine Zwiebel, die ich mit dem Löffel zerstückelte und mir aufs Brot legte, oder eine Zigarette und ein Streichholz; dann rauchte ich abends nach dem Einschluss, wenn der Bau ruhig geworden war, behaglich meinen Glimmstängel.
Ja, im Gefängnis habe ich das Rauchen gelernt, sehr zum Ärger Düstermanns, der die Luft stets mit dem Qualm seiner Zigarren erfüllte und Zigarettenrauchen als weibisch verachtete. Ich ließ ihn aber ruhig reden, damals war mir das schon ganz egal.
Ja, Mordhorst, ein solcher Menschenfeind er auch war, half mir viel, er wurde auch ein ausgezeichneter Berater in »meiner Sache«, ein besserer als der Rechtsanwalt, der zu mir kam. Leider bin ich in die erste Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter noch ohne Mordhorsts Rat gegangen und machte dabei einen schweren Fehler, wie ich später begriff.