Loe raamatut: «Gedichte in Prosa», lehekülg 2

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Der Bettler

Ich ging die Straße hinunter … Ein dürftiger, gebrechlicher Greis hielt mich an.

Entzündete, tränende Augen, fahlblaue Lippen, zerfetzte Lumpen, unsaubere Schwären … O, wie schrecklich hatte die Not dieses unglückliche Geschöpf verunstaltet! Er streckte mir seine gerötete, verschwollene, schmutzige Hand hin … Er stöhnte, er ächzte um Hilfe.

Ich begann alle meine Taschen zu durchsuchen … Aber weder Geldbeutel noch Uhr, nicht einmal das Taschentuch war da … Ich hatte nichts mitgenommen. Der Bettler aber wartete noch immer … und seine vorgestreckte Hand bebte und zitterte vor Schwäche. Verwirrt und verlegen ergriff ich mit kräftigem Drucke diese schmutzige, zitternde Hand … »Zürne mir nicht, Bruder; ich habe gar nichts bei mir, mein Bruder.« Der Bettler richtete seine entzündeten Augen auf mich; ein Lächeln kam auf seine fahlen Lippen – und dann drückte auch er meine erkalteten Finger.

»Laß es gut sein, Bruder,« sagte er leise; »auch dafür bin ich dir dankbar. – Auch das ist eine Gabe, mein Bruder.«

Da fühlte ich, daß auch ich von meinem Bruder eine Gabe empfangen hatte.

Erfahren wirst du noch, wie Toren richten …

Puschkin

»Erfahren wirst du noch, wie Toren richten …« Immer sprachst du die Wahrheit, großer, vaterländischer Dichter du, auch diesmal hast du wahr gesprochen. »Wie Toren richten und die Menge spottet …« Wer hätte es nicht an sich selbst erfahren, so dies wie jenes? All dies kann – und muß ertragen werden; wer die Kraft dazu hat – der mag es auch verachten!

Doch es gibt Schläge, die härter und mitten ins Herz treffen … Ein Mann tat alles, was er vermochte; wirkte in unablässiger, hingebender, ehrlicher Arbeit … Da wenden sich ehrliche Herzen verächtlich von ihm ab; ehrliche Gesichter flammen auf in Unwillen bei Nennung seines Namens. »Hinweg! Fort mit dir!« schallen ihm ehrliche junge Stimmen entgegen. – »Dich und deine Mühe brauchen wir nicht; du schändest unser Heim – du kennst und du verstehst uns nicht … Du bist unser Feind!«

Was soll dieser Mann nun tun? Fortfahren soll er im Bemühen, soll nicht versuchen, sich zu rechtfertigen – soll nicht einmal die Hoffnung auf künftige gerechtere Beurteilung nähren.

Einst haben Landleute einen Reisenden verflucht, der ihnen die Kartoffel brachte, den Ersatz des Brotes, die tägliche Nahrung des Armen … Aus seinen Händen, die er ihnen entgegenstreckte, schlugen sie die kostbare Gabe, warfen sie in den Kot, traten sie mit Füßen.

Jetzt nähren sie sich davon – und kennen nicht einmal den Namen ihres Wohltäters.

Nun, wenn auch! Was soll ihnen sein Name? Auch als Namenloser bewahrt er sie vor dem Hunger.

Wir aber wollen emsig darauf bedacht sein, daß die Frucht unseres Fleißes wahrhaft nützliche Speise sei. Bitter freilich ist ungerechter Tadel aus dem Munde derer, die man liebt … Doch auch dies kann man verwinden …

»Schlage mich! aber höre mich an!« sprach der athenische Feldherr zum spartanischen.

»Schlage mich – aber sei gesund und satt!« so sollen wir denken.

Ein Zufriedener

Durch eine Straße der Hauptstadt eilt mit munteren Schritten ein noch junger Mann. – Seine Bewegungen sind freudig und lebhaft; seine Augen leuchten, Lächeln spielt um seine Lippen, in frischer Röte strahlt sein freundliches Antlitz … Er ist ganz Zufriedenheit und Freude.

Was ist mit ihm vorgegangen? Hat er eine Erbschaft gemacht? Wurde er im Amte befördert? Eilt er zu einem zärtlichen Schäferstündchen? Vielleicht hat er auch bloß – gut gefrühstückt, – und das Gefühl der Gesundheit, der vollen Kraft schwellt alle seine Glieder! Man wird doch nicht gar seinen Hals mit deinem schönen achteckigen Kreuz geschmückt haben, o polnischer König Stanislaus!

Nein! Er hat eine Verleumdung gegen einen Bekannten ersonnen, hat sie eifrig in Umlauf gesetzt, sie, ebendieselbe Verleumdung, aus dem Munde eines anderen Bekannten vernommen – und ihr selber Glauben geschenkt.

O, wie zufrieden, ja wie brav ist in diesem Augenblick dieser liebenswürdige, vielversprechende junge Mann!

Eine Lebensregel

»Wenn Sie mal den Wunsch haben, Ihrem Gegner gehörig mitzuspielen und ihn womöglich zu kränken,« sagte mir einst ein alter Schlaukopf, »dann werfen Sie ihm nur denselben Fehler oder dasselbe Laster vor, dessen Sie sich selber bewußt sind. – Spielen Sie den Entrüsteten … und tadeln Sie ihn!

»Denn erstens – bringt dies dem anderen die Meinung bei, daß Sie von diesem Laster frei wären.

»Zweitens – darf Ihre Entrüstung sogar eine aufrichtige sein … Sie können aus den Vorwürfen Ihres eigenen Gewissens Nutzen ziehen.

»Sind Sie beispielsweise ein Renegat – dann werfen Sie Ihrem Gegner vor, er sei ohne jede Überzeugung! Sind Sie selber eine Lakaienseele – dann sagen Sie ihm in vorwurfsvollem Tone, er sei ein Lakai … ein Lakai der Zivilisation, der Aufklärung, des Sozialismus!«

»Man könnte vielleicht sogar sagen: ein Lakai des Lakaienhasses!« bemerkte ich.

»Selbst dies!« erwiderte prompt der Schlaukopf.

Das Ende der Welt

Ein Traum

Mir träumte, ich befände mich in irgendeinem Winkel Rußlands, in der Einsamkeit, in einer einfachen Dorfhütte.

Eine geräumige, niedrige, dreifenstrige Stube; die Wände weiß getüncht; aller Hausrat fehlt. Vor der Hütte eine kahle Ebene; in sanfter Neigung breitet sie sich in die Ferne aus; ein grauer, einförmiger Himmel hängt darüber wie ein härenes Tuch.

Ich bin nicht allein; etwa zehn Menschen sind mit mir in der Stube. Alles einfache Leute, einfach gekleidet; sie gehen in der Stube auf und ab, schweigend, gleichsam schleichend. Jeder weicht dem anderen aus – aber unaufhörlich begegnen sich ihre besorgten Blicke.

Keiner weiß, warum er in dies Haus geraten ist und was die anderen bedeuten. Auf jedem Angesicht lagert Unruhe und Bangigkeit … alle treten abwechselnd an die Fenster und blicken forschend hinaus, als warteten sie auf etwas von dorther.

Dann wieder gehen sie unausgesetzt auf und ab.

Zwischen ihnen bewegt sich ein kleiner Knabe; von Zeit zu Zeit wimmert er mit dünner eintöniger Stimme: »Väterchen, ich fürchte mich!« – Bei diesem Wimmern wird mir kalt ums Herz – und auch mich beschleicht Furcht … Wovor? Ich weiß es selbst nicht. Nur dies eine fühle ich: heran kommt und nähert sich ein großes, großes Unheil.

Der Knabe aber wimmert in einem fort. Ach, könnte man doch nur hinaus! Wie dumpf ists hier! Wie beklommen! Wie bedrückend!.. Doch nirgends ein Ausweg.

Dieser Himmel da – gerade wie ein Leichentuch. Und kein Windhauch … Ist denn die Lust erstorben? Plötzlich springt der Knabe ans Fenster und schreit mit derselben kläglichen Stimme: »Seht! seht! die Erde ist versunken!«

– »Wie? Versunken!« – Wahrhaftig: vorhin war vor dem Hause eine Ebene – jetzt steht es auf dem Gipfel eines ungeheuren Berges! Der Horizont ist herabgefallen, in die Tiefe gesunken – und dicht vor dem Hause starrt ein fast senkrechter, gähnender, schwarzer Abgrund.

Wir haben uns alle an die Fenster gedrängt … Der Schrecken erstarrt unsere Herzen zu Eis. – »Dort kommt es … dort kommt es!« flüstert mein Nachbar.

Richtig: rings um den fernen Erdrand begann es sich zu bewegen, hoben und senkten sich kleine wellige Hügel.

»Das Meer!« durchfuhr es uns alle im selben Augenblick. »Gleich wird es uns alle verschlingen … Wie kann es bloß so wachsen und in die Höhe steigen? Bis zu diesem Felsgrat?«

Allein es wächst, wächst mit rasender Eile … Schon sinds nicht mehr einzelne, in der Ferne schwankende Hügel … Eine einzige geschlossene, ungeheure Woge überflutet den ganzen Horizont.

Sie rast, rast auf uns zu! In eisigem Sturme braust sie heran, ballt sich wie Höllennacht. Alles erbebt ringsum – dort aber, in jener hereinbrechenden Masse – Dröhnen, Donnern, tausendstimmiger, eherner Schrei …

Ha! Welch ein Brüllen und Heulen! Das ist der Schreckensschrei der Erde …

Vernichtung ihr! Vernichtung allem!

Noch einmal wimmert der Kleine … Ich will mich an meine Gefährten klammern – doch schon sind wir alle zerschmettert, begraben, verschlungen, fortgerissen von dieser pechschwarzen, eisigen, donnernden Woge!

Finsternis … ewige Finsternis!

Nach Atem ringend erwachte ich.

Mascha

Als ich noch vor vielen Jahren in Petersburg lebte, knüpfte ich jedesmal, wenn ich eine Droschke nehmen mußte, mit dem Kutscher ein Gespräch an.

Besonders gern unterhielt ich mich mit den Nachtkutschern, armen Bauern aus der Umgegend, die mit einem gelbgestrichenen Schlitten und einem ärmlichen Karrengaul in die Hauptstadt kamen – in der Hoffnung, dort selber ihren Unterhalt zu finden, wie auch die Abgabe an ihre Gutsherren erübrigen zu können. Einst nahm ich wieder mal einen solchen Kutscher … Ein Bursche von etwa zwanzig Jahren, hochgewachsen, stämmig, wie aus Kernholz; mit blauen Augen und frischroten Backen; sein Haar quoll in blonden Locken unter der tief bis auf die Augenbrauen herabgezogenen geflickten Mütze hervor. – Und wie hatte er bloß diesen zerrissenen kleinen Kittel über seine riesigen Schultern ziehen können!

Indessen, das hübsche, bartlose Gesicht meines Kutschers schien bekümmert und betrübt.

Ich knüpfte ein Gespräch mit ihm an. Auch aus seiner Stimme klang Trübsal.

»Nun, Freundchen,« fragte ich ihn, »warum bist du so traurig? Drückt dich irgendein Kummer?«

Der Bursche zögerte mit der Antwort.

»Freilich, Herr, freilich,« brachte er schließlich heraus. »Und ein Kummer, wie er nicht größer sein kann. Mein Weib ist gestorben.«

»Du hast sie wohl sehr geliebt … dein Weib?«

Der Bursche wandte sich nicht zu mir um; er neigte nur ein wenig den Kopf.

»Freilich liebte ich sie, Herr. Acht Monat ists her, aber ich kanns nicht vergessen. Es frißt mir am Herzen … immerfort! Warum hat sie auch sterben müssen? War doch jung! gesund!.. An einem Tage hat die Cholera sie abgewürgt.«

»Sie war dir wohl ein braves Weib?«

»Ach Herr!« seufzte der arme Bursche schwer auf. »Und wie gut haben wir zusammengelebt! Sie ist ohne mich gestorben. Kaum hörte ich es hier, daß man sie gar schon begraben hätte, – da jagte ich augenblicklich zum Dorf, nach Hause. Ich kam an – da wars schon nach Mitternacht. Ich trete in meine Hütte, steh mitten in der Stube still und rufe so ganz leise: ‘Mascha! meine Mascha!’ Aber nur das Heimchen zirpt. – Da kommt mir das Heulen, ich werfe mich auf die Diele – wie habe ich da mit den Händen auf den Boden gehauen! – ‘Du unersättliche Grube!’ schrei ich … ‘Sie hast du verschlungen … dann verschling auch mich!’ – Ach Mascha!«

»Mascha!« – setzte er mit plötzlich versagender Stimme hinzu. Und ohne seine groben Zügel loszulassen, wischte er sich mit seinen Fausthandschuhen die Tränen aus den Augen, schüttelte sie ab, zuckte die Achseln – und sprach kein Wort mehr.

Als ich aus dem Schlitten stieg, gab ich ihm eine Kleinigkeit über den Fahrpreis. – Er verbeugte sich tief, indem er mit beiden Händen nach der Mütze griff – und fuhr dann langsam davon über die glatte Schneefläche der menschenleeren Straße, die der graue Nebel des Januarfrostes einhüllte.

Der Dummkopf

Es war einmal ein Dummkopf.

Lange Zeit lebte er in ungestörter Zufriedenheit; doch allmählich drangen Gerüchte zu seinen Ohren, daß er überall für einen hirnlosen Narren gelte.

Das betrübte den Dummkopf, und er begann sorgenvoll darüber nachzugrübeln, wie er wohl diese fatalen Gerüchte aus der Welt schaffen könnte.

Endlich erleuchtete ein glücklicher Gedanke seinen hohlen Kopf … und ungesäumt ging er daran, ihn in die Tat umzusetzen.

Auf der Straße begegnete ihm ein Bekannter – der über einen namhaften Maler lobend zu sprechen begann …;

»Aber ich bitte Sie!« rief der Dummkopf. »Diesen Maler hat man ja längst zum alten Eisen geworfen … Das wissen Sie nicht? – Von Ihnen hätte ich das nicht erwartet … Sie sind – sehr zurückgeblieben.«

Der Bekannte erschrak – und pflichtete dem Dummkopf sofort bei.

»Da habe ich heute ein herrliches Buch gelesen!« sagte ihm ein anderer Bekannter.

»Aber ich bitte Sie!« rief der Dummkopf. »Schämen Sie sich denn nicht? Dies Buch hat ja nicht den geringsten Wert; alle Welt macht sich darüber lustig. – Das wissen Sie nicht? – Sie sind – sehr zurückgeblieben.«

Auch dieser Bekannte erschrak – und stimmte dem Dummkopf bei.

»Ein wundervoller Mensch, mein Freund N. N.!« äußerte ein dritter Bekannter zum Dummkopf. »Eine wahrhaft vornehme Natur!«

»Aber ich bitte Sie!« rief der Dummkopf. »N. N. ist ein notorischer Schurke. Seine ganze Verwandtschaft hat er gebrandschatzt. Wer wüßte denn das nicht? – Sie sind – sehr zurückgeblieben!«

Der dritte Bekannte erschrak gleichfalls, schenkte dem Dummkopf Glauben und sagte sich von seinem Freunde los. Und was man auch in Gegenwart des Dummkopfs loben mochte – für alles hatte er die gleiche Antwort.

Höchstens daß er gelegentlich im Tone leisen Vorwurfs hinzufügte: »Glauben Sie denn immer noch an Autoritäten?«

»Gift und Galle ist er!« begannen nun die Bekannten über den Dummkopf zu urteilen. – »Aber welch ein Kopf!« – »Und welche Redegewandtheit!« – setzten andere hinzu. – »O gewiß, er hat Talent!«

Das Ende war, daß der Herausgeber eines Tageblattes dem Dummkopf die Leitung des kritischen Teiles übertrug.

Da fing nun der Dummkopf an, alles und alle zu kritisieren, ohne seine gewohnte Art noch seine bisherigen Ausdrücke irgendwie zu ändern.

Jetzt ist er, der einst Autoritäten befehdete – selbst eine Autorität – und die Jugend beugt sich vor ihm – und fürchtet ihn.

Was sollten sie auch tun, die armen jungen Leutchen? – Es ist ja – im allgemeinen – fatal, sich beugen zu sollen … indessen, es unterstehe sich nur mal einer und beuge sich nicht – gleich sitzt er im Topf der »Zurückgebliebenen«!

Leicht hats ein Dummkopf unter Hasenfüßen.