Loe raamatut: «Tito»

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Partisan und Revolutionär, Staatspräsident Jugoslawiens, Diktator und Architekt eines alternativen sozialistischen Modells – bis heute entzieht sich Tito (1892–1980) jeder politisch und historisch eindimensionalen Zuordnung. Jože Pirjevec, Professor für Geschichte und ausgewiesener Tito-Experte, geht in dieser Biographie dem Phänomen Tito nach.

Pirjevec folgt der Politisierung Josip Broz’, wie Tito mit bürgerlichem Namen hieß, und seinem raschen Aufstieg in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens und zeigt, wie er aus einer zerstrittenen Partei eine schlagkräftige Partisanenarmee geformt hat, die Hitlers und Mussolinis Truppen besiegt hat. Er legt dar, mit welcher Weitsichtigkeit Tito schon bald nach dem Krieg in Opposition zu Stalin ging, wie er für Jugoslawien einen anderen sozialistischen Weg suchte und wie entscheidend er an der Gründung der Bewegung der Blockfreien Staaten beteiligt war. Aber er zeigt Tito auch als Diktator, der seine politischen Gegner gnadenlos verfolgte, sich als Held eines nationalen Mythos verehren ließ und den Personenkult genoss. Er sorgte nicht für einen Nachfolger, und als Tito 1980 starb, hinterließ er ein Machtvakuum, das innerhalb weniger Jahre zum gewaltsamen Zerfall des Vielvölkerstaates führte.

Diese erste umfassende Tito-Biographie, die zahlreiche Quellen erstmals zugänglich macht, liefert das lebendige Porträt der faszinierenden und oft widersprüchlichen Persönlichkeit eines der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts.

Über den Autor

Jože Pirjevec wurde am 1. Juni 1940 in Triest geboren, promovierte 1977 an der Universität Ljubljana in Geschichte und forschte und unterrichtete an den Universitäten von Pisa, Triest und Padua. Er ist heute Professor für Geschichte an der Universität von Koper und Mitglied der slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Die vorliegende Biografie ist die Zusammenfassung seines dreißigjährigen Forschungsschwerpunkts.

Jože Pirjevec

TITO

Die Biografie


aus dem Slowenischen

von Klaus Detlef Olof

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

Einführende Worte

1892–1939 Der junge Broz – Erster Weltkrieg, Kriegsgefangenschaft und Aufstieg in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ)

1939–1945 Zweiter Weltkrieg und Partisanenkampf

1945–1953 Die Nachkriegszeit – Konsolidierung der Macht und Auseinandersetzung mit Stalin

1953–1973 Die Präsidentenjahre – Entdeckung der Blockfreiheit, Suche nach einem Sozialismus mit »menschlichem Antlitz« und Kampf um die Einheit Jugoslawiens

1973–1980 Die späten Jahre – Jugoslawien in der wirtschaftlichen und politischen Krise

EXKURS Tito und die Frauen

1980 Titos Tod und sein politisches Vermächtnis

Anhang

EINFÜHRENDE WORTE

»Nichts ist wünschenswerther als daß die Leute, die an der Spitze der Bewegungs-Parteien standen, sei es vor der Revolution oder in der Presse, sei es später in offiziellen Stellungen, endlich einmal mit derben rembrandtschen Farben geschildert werden, in ihrer ganzen Lebendigkeit. Die bisherigen Darstellungen malen uns diese bekannten Persönlichkeiten nie in ihrer wirklichen, nur in ihrer offiziellen Gestalt, mit dem Kothurn am Fuß und der Aureole um den Kopf. In diesen verhimmelten raphaelschen Bildern geht alle Wahrheit der Darstellung verloren.«1 So haben es sich Marx und Engels gewünscht. Sie waren Optimisten, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass die Revolution, die sie verkündeten, auch scheitern könnte und dass ihre Träger am Schandpfahl enden würden. Etwas Derartiges geschah auch mit Tito, der noch gestern auf dem Altar stand, nach dem Zerfall Jugoslawiens aber oft zum Gegenstand von Karikaturen wurde. Versuchen wir, ihn in rembrandtschen Farben zu porträtieren.

TITOS AUGEN

Von dem Augenblick an, da er mit seinem selbstbewussten und herausfordernden Auftreten vor dem Gericht in Zagreb, das ihn wegen kommunistischer Umtriebe Ende 1928 zu einer Zuchthausstrafe verurteilte, in die Geschichte eintrat, hat Tito mit seinen ausdrucksvollen Augen die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen geweckt. Der Korrespondent der Zeitung Novosti beschrieb ihn bei dieser Gelegenheit mit den Worten: »Sein Gesicht scheint wie aus Stahl gemeißelt. Mit den hellen Augen hinter dem pince-nez blickt er sehr kühl und zugleich energisch und ruhig.«2

Und Miroslav Krleža, Dichter, Schriftsteller, Chronist der kroatischen und jugoslawischen Provinz, erinnert sich in einem kurzen, mit »Titos Rückkehr im Jahre 1937« überschriebenen Essay wie folgt: »Ich sitze im Dämmerlicht in meinem Zimmer und beobachte die Wolken. Wie sie hoch über der Stadt der Wind von Westen heranträgt. […] In dieser Stille surrt an der Eingangstür die Glocke. Unruhiges Läuten in leeren, grauen, unbeleuchteten Zimmern bringt immer eine böse Vorahnung von abergläubischer Ungewissheit mit sich. […] Ich erhebe mich, gehe durch die Wohnung, öffne die erste, dann die zweite Tür, mache Licht im Vorzimmer, das Sicherheitsschloss knirscht, und vor der Glastür steht ein Fremder. […] Nach neun Jahren stand Tito wie ein Schatten längst vergangener Tage vor dieser Glastür und schien auf den ersten Blick äußerlich der Gleiche geblieben zu sein, und doch: Er hatte sich sehr verändert, mehr als das, er hatte sich völlig verändert. […] Sechs Jahre in der Strafanstalt Lepoglava und drei Jahre Ausland hatten aus seinem Gesicht jenen Ausdruck naiver und unmittelbarer Heiterkeit weggewischt, und anstelle eines lachenden jungen Mannes stand dort ein ernster, stiller Fremder, dessen Augen durch das Glas seines Zwickers dunkel leuchteten, fast streng.«

Mit diesem neuen alten Bekannten plauderte Krleža fast bis zum Morgen und hörte manches über sein stürmisches Leben und seine umstürzlerischen Ideen. Tito erzählte ihm auch von dem Heimweh, das ihn nach der Rückkehr aus Moskau eines Nachts in seinen Geburtsort Kumrovec getrieben hatte, obwohl klar war, dass er viel riskierte, da er in der Illegalität lebte. Er war zum Haus seines Vaters gegangen, und es war ihm so vorgekommen, dass trotz der großen Veränderungen, von der die Welt draußen erfasst worden war, in diesem abgelegen Ort, seit seinem letzten Besuch alles unverändert geblieben war. »Im leisen Schlussteil dieses lyrischen Monologs wechselte Titos Stimme den Glanz, das helle Taubengrau seiner Augen verschmolz mit dem dunkelblauen, metallenen Widerschein des Brillenrahmens und dunkelte wie Tinte. Das gutmütige weiche Spiel der Lippen verhärtete sich zu einer trotzenden, festen, wie in Stein gemeißelten Linie, und in diesem Blick, in dieser Stimme zeigte sich ein unbestimmter, aber suggestiver Ausdruck voller Schmerz und Unruhe. ›Kumrovec, Gott habe es selig, schnarcht, aber wie lange noch wird bei uns alles schnarchen?‹, fragte Tito ärgerlich, fast nervös, mit jenem aggressiven Ton, mit dem in unserer Sprache alle Götter höheren und niederen Ranges vom Himmel gestürzt werden.«3

Titos Augen fesselten auch Milovan Đilas, als er ihm zum ersten Mal begegnete: »Das war ein Mann mittlerer Größe, ziemlich kräftig, hager. Er war lebhaft, etwas nervös, aber er wusste sich zu beherrschen. Sein Gesicht war fest, ruhig, doch auch zart, die Augen blau und zugleich sanft.«4 Er hatte einen unwiderstehlichen natürlichen Charme. Gojko Nikoliš, ein Serbe aus Kroatien, Arzt und Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg, beschrieb in einem Tagebucheintrag vom November 1941 seine erste Begegnung mit Tito so: »Tito fand ich am nächsten Tag in einem geräumigen und einfach eingerichteten Zimmer. […] Nach Gruß und Rapport erfasste ich den Mann mit einem Blick und erkannte in ihm sofort ganz bestimmte Züge, in ihm, der das Schicksal unseres Kampfes lenkte und auf den wir so lange gewartet hatten. Zuerst sah ich die blauen, ein wenig verschleierten Augen, dann ein bis ins Detail gemeißeltes Gesicht; das Gesicht eines idealen klassenbewussten Arbeiters, eines Proletariers. Als wäre er einem russischen Bild aus der Zeit des Proletkults entstiegen.«5

Aber Tito verstand es nicht nur, seine Anhänger zu begeistern. Der Leiter der britischen Militärmission bei seinem Obersten Stab notierte über den Eindruck, den Tito bei einer Begegnung im Jahre 1943 auf ihn machte, Folgendes: »Was die äußere Erscheinung betrifft, so ist Tito eine imposante Persönlichkeit: er war 52 Jahre alt, von kräftiger Statur, das Haar von stahlgrauer Farbe. Sein ebenmäßiges Gesicht, wie aus Stein gemeißelt, war ernst und sonnengebräunt, die Gesichtszüge unbestreitbar entschlossen. Dem Blick seiner hellblauen Augen blieb nichts verborgen. In ihm war die Energie eines Tigers konzentriert, der zum Sprung ansetzt.«6 Der westdeutsche Botschafter betonte nach seinem ersten Empfang bei Tito in der Villa Bled im Jahre 1951, dass er keine Ähnlichkeit mit Hermann Göring, Hitlers Luftwaffenminister, habe, wie böse Zungen behaupteten: »Obwohl nur von mittlerer Größe, ist er nicht korpulent, sondern nur sehr kräftig, wie aus einem Stück gebaut. Sein Gesicht ist ernst und überhaupt nicht aufgedunsen, sehr energisch, aber nicht brutal. Am auffallendsten sind die hellblauen Augen, die bei seinem auf Brioni von der Sonne gebräunten Teint noch heller wirken.«7

Zehn Jahre später haben während einer Afrikareise Titos Augen den serbischen Romanschriftsteller Dobrica Ćosić, der ihn begleitete, fasziniert, aber auch beunruhigt. »Ein stets wechselnder Gesichtsausdruck«, schrieb er, »einmal sentimental, nachdenklich, introvertiert; einmal drohend, streng und gefährlich; einmal heiter und gutmütig. Manchmal, als würde er dösen oder um jemanden trauern. Und dann blitzt eine Drohung in den grünlichen Augen auf, Trotz, Selbstvertrauen. Weder die Anstrengung noch das Alter sind zu bemerken. Noch bei keinem Menschen habe ich solche Augen gesehen …«8

Anfang der siebziger Jahre weilte eine französische Delegation mit Premier Chaban-Delmas an der Spitze bei Tito. Eugène de la Fournière, eines ihrer Mitglieder, fasste seine Eindrücke von der Begegnung mit Tito in der Feststellung zusammen, dass dieser eben alt sei und sich diese Tatsache nicht übersehen lasse. »Noch immer erweckte er den Anschein guter physischer Kondition, mit einem lebhaften Sinn für Humor – wie ein Gargantua aß und trank er und war stets zu Scherzen aufgelegt. Aber wie das bei alten Menschen oft der Fall ist, neigte er dazu, sich zu wiederholen oder den Faden zu verlieren. […] Wie alle Kommunisten der älteren Generation hatte er unstete Augen. Anfangs sah er zu Boden oder weg von seinem Gesprächspartner. Aber von Zeit zu Zeit kam ein gerader Blick, und ich wäre nicht gern der Feind eines Menschen mit solchen Augen gewesen«.9

Der Erste, der über das Gefährliche in Titos Blick sprach, war Louis Adamič, ein amerikanischer Schriftsteller slowenischer Herkunft, der 1949 in die Heimat zurückgekehrt war. In seinem umfangreichen Buch The Eagle and the Roots berichtet er von zahlreichen Gesprächen mit Tito. Sie sprachen insgesamt an die dreißig Stunden miteinander. Es entwickelte sich eine kameradschaftliche Beziehung, die ihm erlaubte, ihm manches zu sagen, was ihm sonst niemand in seiner Umgebung hätte sagen dürfen. So machte er zum Beispiel keinen Hehl aus seiner kritischen Einstellung gegenüber Titos »Bonapartismus« und seiner Manie für Uniformen. Nach einer politischen Sitzung, die für Tito in einer wahren Apotheose geendet hatte, verhehlte Adamič seine Reserviertheit nicht. Als dieser im Begriff war zu gehen, bemerkte er, dass der Schriftsteller ihn beobachtete: »Urplötzlich und mit einem Aufblitzen in den Augen – das nicht nur Schalkhaftigkeit war – sagte er: ›Wissen Sie, Herr Adamič, zufällig bin ich der Oberbefehlshaber der bewaffneten Streitkräfte.‹ Das war also seine Antwort auf meine Kritik an seiner Marschallsuniform.«10

Henry Kissinger, Außenminister unter dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon, meinte: »[Tito war ein Mensch,] dessen Augen nicht immer gleichzeitig mit seinem Gesicht lachten«.11 Wusste er, dass man Ähnliches auch von Stalin behauptete?12 Stalin jedenfalls hat, vielleicht deshalb, weil sie einander ähnlich waren, dieses Merkmal Titos sofort bemerkt. Bei einer ihrer ersten Begegnungen im September/Oktober 1944 sagte er zu ihm: »Weshalb haben Sie Augen wie ein Luchs? Das ist nicht gut. Sie müssen mit den Augen lachen. Und dann mit dem Messer in den Rücken!«13


1892–1939


Der junge Broz – Erster Weltkrieg, Kriegsgefangenschaft und Aufstieg in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ)
LEHR- UND WANDERJAHRE

Josip Broz, wie Tito mit bürgerlichem Namen hieß, wurde am 7. Mai 1892 (zu seinem Geburtsdatum machte er unterschiedliche Angaben)1 als Untertan von Kaiser Franz Joseph I. im Zagorje im Dorf Kumrovec an der Grenze zwischen dem Königreich Kroatien-Slawonien und dem Herzogtum Steiermark geboren. Zwar waren beide Verwaltungseinheiten Teil der Habsburger Monarchie, doch erstere gehörte zu den Ländern der Stephanskrone, während letztere Erbland der Habsburger Dynastie war. Franz Joseph war in Wien Kaiser, in Budapest aber nur König, was nicht nur von formaler Bedeutung war, vor allem nicht ab 1867, als die innerhalb seines Herrschaftsgebietes entstandenen zwei Staaten außer dem Monarchen selbst nur drei Schlüsselministerien gemeinsam hatten: das Kriegs-, das Finanz- und das Außenministerium. Während sich die österreichische Hälfte langsam aber stetig im Rhythmus der industriellen Revolution modernisierte, verblieb die ungarische Hälfte im Würgegriff der konservativen Feudalklasse, die kein Interesse an nationalen und sozialen Fragen hatte. Wäre Josip Broz nur wenige Kilometer von seinem Dorf entfernt im Bistrica-Tal im Haus seiner Mutter Marija geboren und aufgewachsen, wäre sein Schicksal wahrscheinlich anders verlaufen. Wegen des weit verzweigten Netzes der katholischen Kirche im Bistum Ljubljana hätte der örtliche Pfarrer sicherlich seine Begabung bald bemerkt und ihn aller Wahrscheinlichkeit nach zum Studium an den Bischöflichen Lehranstalten in die Hauptstadt Krains geschickt. Von dort hätte ihm der Weg in ein Priesterseminar und an die theologische Fakultät offengestanden, oder sogar auf die Universität, wenn es ihm gelungen wäre, sich der geistlichen »Berufung« zu entziehen. (Seine gläubige Mutter hoffte, dass er Pfarrer würde.) Da er jedoch im Zagorje geboren wurde und aufwuchs, wo die Kirche nicht so präsent war wie in den slowenischen Landen, kümmerte sich niemand so recht um seine Erziehung. Er absolvierte gerade einmal vier Klassen der Grundschule und einige Jahre der Berufsschule. Außerdem hatte der häufig betrunkene örtliche Pfarrer den zwölfjährigen Ministranten wegen seiner Ungeschicklichkeit beim Ausziehen des Messgewands geschlagen und beschimpft, was ihm der kleine Joža sehr übelnahm: »Ich ging zwar sonntags immer noch zur Messe, weil die Mutter es so wollte, aber ich denke, dass ich von diesem Augenblick an für immer mit der Kirche abgeschlossen hatte.«2 Seine Familie gehörte nicht zu den ärmsten im Dorf, doch da sie mit fünfzehn Kindern »gesegnet« war, von denen acht früh verstarben, und sein Vater Franc, ein Mann von schwachem Charakter, – »schwarz wie der Teufel« – dem Alkohol verfallen und gezwungen war, sein bisschen Land zu verkaufen3, musste er schon an der Schwelle zur Pubertät sein Brot in der Fremde verdienen.4 Von seinem Vater sprach er zeitlebens nicht gern, und auch von den Bauern seiner Heimatregion Zagorje hatte er nicht die beste Meinung. So beschrieb er seine Landsleute Jahre später: »Diejenigen, die mit dir nicht einverstanden sind, stehen abseits, den Hut in die Stirn gedrückt, die Hände in den Taschen. Sie sind sehr passiv und unintelligent.«5 Andererseits wusste er seit seiner Kindheit von den Bauernaufständen, die seine Heimat in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfasst hatten; und er wusste auch um den tragischen Tod von Matija Gubec und seiner Anhänger nach der Niederlage von 1573. Die siegreichen Feudalen hatten ihn auf dem Zagreber Hauptplatz mit einem weißglühenden Reif gekrönt und anschließend gevierteilt. Daher verwundert es auch nicht, dass in seinem Arbeitszimmer in Belgrad ein großes Bild des Malers Krsta Hegedušić hing, das die aufständischen Bauern in der epischen Schlacht bei Stubica zeigt, in der sie endgültig besiegt wurden.6

Zunächst wollte Broz Schneider werden, weil er schöne Anzüge liebte, doch der Lehrer der örtlichen Schule meinte, als ein unruhiger Bursche sei er für einen sitzenden Beruf nicht geeignet. Stattdessen fing er in einer Gastwirtschaft in Sisak an – diese Arbeit hatte er sich ausgesucht, weil die Kellner in seinen Augen elegant waren –, doch nach kurzer Zeit sattelte er um und begann als Schlosserlehrling. Er war tatsächlich ein unruhiger Geist: Gleich nachdem er 1910 ausgelernt hatte, wechselte er mehrfach den Arbeitsplatz, er arbeitete in Kroatien, in Krain, in Böhmen, in Bayern, im Ruhrgebiet und in der Wiener Neustadt. Er spielte sogar mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern, kam aber nur bis Triest, wo es ihm schlecht ergangen wäre, wenn die lokalen Sozialdemokraten nicht eine Armenküche unterhalten hätten.7 In Zagreb trat er 1910 dem Verband der Metallarbeiter und im darauffolgenden Jahr dem Bund der Sozialistischen Jugend bei, womit er automatisch auch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei wurde.8 »Unsere Jugend«, erinnerte sich sein Zeitgenosse Miroslav Krleža, »spielte sich in jenen hoffnungslos langweiligen und grauen Straßen der Zagreber Unterstadt ab […], wo die Kneipen armselig sind und stinken, wo die Läden nach Mehl und Stockfisch riechen wie in der hintersten Provinz und wo in den öden zweistöckigen Häusern schlecht bezahlte graue Beamte eines grauen und langweiligen Kaiserreichs auf dem Totenbett wohnen.«9

Im Herbst 1913 wurde er zum Militär einberufen, wo er es im Regiment rasch zum Zugführer brachte. Mit einundzwanzig Jahren war er einer der jüngsten Unteroffiziere der k.u.k. Armee.10 Als ehemaliges Mitglied des »slawisch« ausgerichteten Jugend- und Sportverbands Sokol war er ein guter Turner, ein ausgezeichneter Skiläufer und Fechter. Nach eigener Überzeugung erhielt er bei einem in Budapest von der Armee organisierten Fechtturnier lediglich deshalb nur die Silbermedaille, weil er Kroate und weil sein Gegner gräflicher Abstammung war.11

Gegenüber der Habsburger Monarchie hegte er auch in späteren Jahren keine feindseligen Gefühle, denn er sah in ihr einen wohlgeordneten Staat, wenngleich er sich schon zu dieser Zeit für die jugoslawische Idee begeisterte. Als einmal in einem Gespräch die Rede auf König Nikola von Montenegro kam und Milovan Đilas ihn verächtlich eine Operettenfigur nannte, widersprach Tito: »Ach nein. Uns jungen Leuten war er sympathisch – er war mutig, ein Patriot, ein Jugoslawe …«12 Zugleich blieb er seiner Heimat bis an sein Lebensende verbunden. 1971, während eines heftigen Konflikts mit den Zagreber »Liberalisten «, die seiner Meinung nach gegenüber den kroatischen Nationalisten allzu nachgiebig waren, sagte er – schon ein wenig angetrunken – zu Savka Dabčević-Kučar, der Präsidentin des Kroatischen Zentralkomitees: »Ihr glaubt in Wirklichkeit, ich hätte kein Nationalgefühl, dass ich mich überhaupt nicht als Kroate fühlen würde, dass ich als junger Proletarier in die Welt hinausgegangen wäre und mir der proletarische Internationalismus jedes Nationalgefühl ausgetrieben hätte. Ich bin auch Internationalist, weil wir Kommunisten sind, und wir müssen auch alle Internationalisten sein! Aber ich bin auch Kroate!«13


IM ERSTEN WELTKRIEG

Als Ende Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, kam Broz’ Regiment zunächst an die serbische Front an der Drina, wo er von August bis Dezember als Feldwebel des 25. Domobranen-Infanterieregiments diente, und später in die Karpaten an die russische Front. Zuvor hatte man ihn noch in Petrovaradin bei Novi Sad für mehrere Tage ins Gefängnis geworfen. Man beschuldigte ihn, Antikriegshetze zu betreiben. Er selbst bezeichnete das später als Irrtum der Militärbehörden.14

Bei den schweren Kämpfen gegen die Russen in Ostgalizien, wohin er im Februar 1915 versetzt worden war, tat er sich als Kommandant eines Spähtrupps hervor und wurde sogar für eine Auszeichnung vorgeschlagen. »In der Nacht vom 17. auf den 18. März 1915 leitete er als Anführer einer Infanterie-Patrouille (vier Mann) einen Überfall auf eine feindliche Feldwache in Stare Krzywotulije, nahm alle elf Russen gefangen und brachte sie zu seiner Einheit«, heißt es in einem Dokument. »Dieser Unteroffizier meldet sich stets freiwillig zu jedem gefährlichen Einsatz […] und hat in den feindlichen Reihen schon mehrfach für ein Durcheinander gesorgt.«15 Für diesen Erfolg erhielt er eine beträchtliche Geldsumme, denn die Kommandantur bezahlte fünf Kronen für ein erbeutetes Gewehr.16 Doch bevor Broz die »kleine silberne Tapferkeits-Medaille « entgegennehmen konnte, wurde er zu Ostern in der Bukowina bei einem Gefecht mit Tscherkessen, Angehörigen der Wilden Division, die für ihre Grausamkeit bekannt waren, schwer verwundet.17

An jenem schicksalhaften Tag stieß sein Zug zunächst auf Russen, die sie sofort angriffen. Aber Broz hatte seinen Untergebenen befohlen, nicht zu schießen, weil er sich ergeben wollte. Doch nach den Russen stürmten Tscherkessen an und umzingelten seine Einheit. »Wir hatten das Herannahen der Tscherkessen nicht einmal bemerkt, bis sie auftauchten und sich in unsere Schützengräben stürzten.« Obwohl Broz beide Hände hob, wurde er von einem Tscherkessen mit einer zwei Meter langen Lanze angegriffen, während er selbst sich mit dem Bajonett zu verteidigen suchte. Doch dann stieß ihm ein zweiter Soldat eine Lanze mehrere Daumenbreit unters rechte Schulterblatt. »Als ich mich umdrehte, sah ich das entstellte Gesicht eines zweiten Tscherkessen und seine riesigen schwarzen Augen unter den buschigen Brauen.«18 Er stürzte zu Boden. Das Letzte, was er mitbekam, war ein russischer Soldat, der sich auf den Tscherkessen warf, als dieser Broz den Todesstoß versetzen wollte. Er wurde zusammen mit seinem gesamten Bataillon gefangen genommen. Zu Bewusstsein kam er erst wieder im Lazarett.19

Während sein Name auf die Verlustliste gesetzt wurde, begann in seinem Leben ein neues Kapitel.

Er war einer von zwei Millionen österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen, den voennoplennyj, die von den Russen im ganzen riesigen Zarenreich auf Lager verteilt wurden. Zunächst lag er für fast ein Jahr, von Mai 1915 bis März 1916, in einem improvisierten Lazarett des Uspenski-Klosters in dem Ort Svijažsk an der Wolga (Gouvernement Kazan), dann wurde er in ein Lager nahe der Stadt Alatir am Fluss Sura bei den Tschuwaschen verlegt. Dort lernte er die Tochter eines Arztes und ihre Freundin kennen, die die Kriegsgefangenen besuchten und den Kranken kleine Gefälligkeiten erwiesen. Sie liehen ihm Bücher und luden ihn mehrmals zu sich nach Hause ein: »Ständig drängten sie mich, ich solle (Klavier) spielen.« Und so erlernte er es auch.20 Zwar hätte er sich aus der Gefangenschaft retten können, wenn er dem Freiwilligenkorps beigetreten wäre, für das die Serben »Landsleute« aus Österreich-Ungarn für die Front in der Dobrudscha rekrutierten, doch gemeinsam mit siebzig Kameraden lehnte er es ab, in den Kampf zurückzukehren. Da er Unteroffizier war, hätte er gemäß der Genfer Konvention nicht zur Arbeit eingesetzt werden dürfen, er meldete sich indes freiwillig, woraufhin man ihn zu einem Großbauern in das Dorf Kalasejewo nahe der Stadt Ardatow im Gouvernement Simbirsk schickte, wo er Mechanikerarbeiten in einer Dampfmühle verrichtete. Im Herbst 1916 verlegte man ihn gemeinsam mit anderen Kriegsgefangenen an den Ural, in die Stadt Kungur, unweit von Jekaterinburg. Dort arbeitete er an einer Eisenbahnstrecke als Übersetzer und »älterer« Gefangener, d. h. als Aufseher. Im Mai 1917 schickte man ihn weiter zu der kleinen Bahnstation Ergatsch in der Nähe von Perm. Als er dort mit dem Lagerkommandanten aneinander geriet, wurde er zweimal eingesperrt und von drei Kosaken derart brutal verprügelt, dass er diese Schläge niemals vergaß.21

Im Chaos im Gefolge der Februar-Revolution floh er im Sommer 1917 aus dem Lager und schlug sich bis nach Petrograd durch, in der Hoffnung, in der Putilow-Fabrik Arbeit zu finden, wo er für zwei oder drei Tage tatsächlich eingestellt wurde. Er hatte sogar Gelegenheit, Lenin zu hören und den Schriftsteller Maxim Gorki zu sehen. Lenin gegenüber hegte er sein ganzes Leben lang tiefen Respekt, wovon die Tatsache zeugt, dass in all den Jahren, die er an der Macht war, auf seinem Arbeitstisch in Belgrad seine Fotografie und auf dem Schrank eine kleine Lenin-Büste standen.22

Als es am 13. Juli zu Demonstrationen kam, bei denen die Bolschewiki versuchten, die Macht zu übernehmen, schloss er sich diesen an. Doch als die Demonstrationen im Keim erstickt wurden, sah er die Revolution als gescheitert an. Nur dem Zufall war es zu verdanken, dass er nicht vom MG-Feuer der Polizisten niedergemäht wurde. Anfangs versteckte er sich an den Brücken der Newa, dann floh er nach Finnland, damals autonomes Fürstentum innerhalb des Russischen Reichs. In der Nähe der Stadt Oulu wurde er verhaftet, und weil er nicht Finnisch sprach, hielt man ihn für einen »gefährlichen Bolschewiken«. Schließlich konnte er die Polizei davon überzeugen, dass er ein österreichischer Kriegsgefangener war, und wurde freigelassen. Er kehrte nach Petrograd zurück, wo er erneut verhaftet und für drei Wochen in die Peter-und-Paul-Festung eingesperrt wurde.23 Wer diese Gefängnisse kennt, kann nicht daran zweifeln, dass er sich erleichtert fühlte, als man in ihm einen voennoplennyj, einen Kriegsgefangenen, erkannte und ihn wieder in den Ural schickte. Doch noch vor der Ankunft in Kungur gelang es ihm, nach Sibirien zu fliehen. Bei einem Halt sprang er aus dem Eisenbahnzug für Deportierte, und obwohl ihn ein Wärter aus einem seiner früheren Lager erkannte, gelang ihm die Flucht. Er bestieg einen Personenzug, ohne Geld und ohne Fahrkarte, was aber den Schaffner nicht kümmerte, da an diesem Tag Lenin die Macht ergriffen hatte. »Wir fuhren lange. Im Zug kam es zu Prügeleien. Soldaten warfen Offiziere der Weißen aus dem Waggon.«24 Schließlich gelangte Broz nach Omsk, wo er sich der Internationalen Roten Garde anschloss, bei der er von Spätherbst 1917 bis Frühjahr 1918, also während der Zeit des Bürgerkriegs zwischen den Roten und den Weißen, als Wachmann und Mechaniker Dienst tat. In dem Dorf Michailowka nahe Omsk, wo er erneut in einer Dampfmühle arbeitete, lernte er die kaum dreizehn- oder vierzehnjährige Pelagija D. Belousowa kennen, die Polka gerufen wurde, und ging mit ihr die erste seiner insgesamt fünf ernsthaften Verbindungen ein. Von denen keine einzige glücklich endete.25

1918 ersuchte er um die sowjetische Staatsbürgerschaft und um Aufnahme in die Kommunistische Partei, wobei er Erstere nie erhielt und Letztere erst zwei Jahre später, nachdem sich die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) gegründet hatte.

Jedenfalls war seine Zeit bei der Internationalen Brigade keine besonders heroische, denn entgegen der späteren offiziellen Geschichtsschreibung war er nie »Soldat der Revolution«. Infolge seiner Kriegsverletzung war er noch zu schwach, um an die Front zu gehen, und spuckte noch immer Blut. Doch das sibirische Omsk, wo seine Einheit stationiert war, wurde bald von der Weißen Garde des Generals Alexander W. Koltschak eingenommen, die eine systematische Jagd auf mögliche Gegner bzw. Deserteure einleitete. Vor den »Weißen« und ihrem Terror, vor allem aber vor der drohenden Zwangsmobilisierung in die tschechoslowakische oder serbische Legion, die sich beide auf die Seite der Konterrevolution geschlagen hatten, versteckte sich Broz in einem kirgisischen »Aul« (Dorf) etwa siebzig Kilometer von Omsk entfernt. Hier arbeitete er erneut als Mechaniker in einer Dampfmühle, die dem reichen Bauern Isaija Džaksenbajev gehörte. Aber die Tschechen besetzten auch dieses abgelegene Gebiet und versuchten, ihn zu verhaften, da sie von seinen Kontakten zu Kommunisten aus Omsk wussten. Es ist nicht klar, ob er von Džaksenbajev versteckt wurde, oder ob örtliche Bauern, unter denen er für die Sowjetmacht agitiert hatte, seine Identität verschleierten und bezeugten, dass er schon seit 1915 bei ihnen lebe und somit kein Deserteur sei – jedenfalls gelang es Broz, einer Gefangennahme zu entgehen.

Bei den Kirgisen hatte er sich beliebt gemacht als ein mutiger, einfallsreicher und entscheidungsfreudiger Mann mit einer ungewöhnlichen Gabe für den Umgang mit Tieren. Das war ein Charakterzug, den er sein Leben lang beibehielt. Davon zeugt auch eine Anekdote, die aus dieser Zeit stammt26: Freunde schenkten ihm einen jungen Falken. Broz zog ihn auf und und beschloss, als er herangewachsen war, ihn freizulassen. Doch zwei Tage später kam der Falke wieder zurück und setzte sich auf seine Schulter. Ruhig wartete er darauf, gefüttert zu werden. Als er satt war, flog er fort, kehrte aber nach zwei Tagen erneut zurück. Erst beim vierten Mal flog er für immer davon. Alle, die diese Geschichte gehört hatten, sagten: »Alles, was lebt, muss einen Menschen wie Broz lieben.«27

Nachdem die Rote Armee Koltschak und seine Truppen Ende 1919 aus Omsk vertrieben hatte und der Eisenbahnverkehr mit Petrograd wieder hergestellt war, entschloss sich Broz, mit seiner Frau die Heimreise anzutreten. In Petrograd, wo er ca. drei Wochen blieb, erfuhr er, dass auf den Trümmern des Habsburger Kaiserreichs das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) gegründet worden war und in dem neuen Staat die Revolution ausgebrochen sei. (Diese Meldung war allerdings übertrieben.) Die sowjetischen Behörden ernannten ihn zum Kommandanten einer Einheit von Kriegsgefangenen aus den ehemals österreichischen Ländern, die nun Staatsbürger der neuen Monarchie waren.28 Mit dieser kehrte er im September 1920 über das Baltikum in die Heimat zurück, wobei die jugoslawischen Repräsentanten in Wien seinen Grenzübertritt zu verhindern suchten, weil ihn zwei serbische Kameraden beschuldigten, Kommunist zu sein. In Maribor wurde er zusammen mit seiner Frau tatsächlich in Quarantäne gesteckt, doch bereits nach einer Woche erlaubte man ihm, nach fünf Jahren Kriegsgefangenschaft in sein Heimatdorf zurückzukehren.29 Aber Russland und Sibirien mit der Taiga, dem Mondlicht und den Pferden bewahrte er bis an sein Lebensende tief in seinem Herzen. Zum Land der Sowjets bewahrte er bis ins hohe Alter eine tiefe emotionale Beziehung.30 Als 1952, auf dem Höhepunkt des Konflikts mit Stalin, einer seiner Generäle in vulgären Worten auf die Sowjetunion schimpfte, sagte er in höchst erregtem Ton: »Jeder Wolf hat sein Rudel, das er niemals verlässt. So ist es auch mit mir.«31 Trotz aller Enttäuschungen, Zweifel und Konflikte war für Tito klar, »dass der sozialistische Kontinent real existiert, dass er ein Sechstel unseres Planeten ausmacht und dass er den Beginn eines Prozesses bedeutet, der nicht aufzuhalten ist«.32 Wie Veljko Mićunović, einer seiner wichtigsten Diplomaten, bezeugt, hinterlegte er zu Beginn der siebziger Jahre sogar sein Testament in der Sowjetunion, weil »er den Leuten rings um sich nicht traute«.33

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