Loe raamatut: «Tatorte 3», lehekülg 3

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Letztlich werden alle neuen Versionen des Angeklagten vom Gericht als reine Schutzbehauptungen bewertet. Am 29. Juli 2005 verkündet Richterin Birgit Wiegand nach 14 Monaten und 42 Verhandlungstagen das Urteil: Zwölf Jahre Freiheitsentzug für Ulrich Vogel wegen versuchten Mordes, Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, Herbeiführen einer schweren Sprengstoffexplosion und schwerer räuberischer Erpressung! Richterin Wiegand: „Er hat aus Habgier, Gewinnsucht und Gewinnstreben heimtückisch den Tod von Menschen in Kauf genommen.“

Im Februar 2012 befindet sich der nunmehr 72-jährige Vogel noch in der Justizvollzugsanstalt Dresden, allerdings im offenen Vollzug.

Der geblümte Rock von Frank Nicolaus


1991 suchen Dresdner Kriminalisten monatelang nach dem Mörder der 28-jährigen Ramona aus Bautzen, verdächtigen einen Unschuldigen und bekommen dann unverhofft Hilfe.

Der leichte Regen hat gerade eine Pause eingelegt, als sich Maik Dressler[1] am 16. Mai 1991, einem Donnerstag, auf das Fahrrad schwingt, um zu seiner Arbeitsstelle zu radeln. Sein Ziel ist die Waggonbau GmbH Bautzen. Die kurze Fahrt macht ihm jedes Mal Freude – wenn das Wetter mitspielt. Denn die Tour führt auf dem Radweg auf der Neuschen Promenade entlang. Dressler ist Naturfreund und nimmt sich auch an diesem Tag Zeit für einen Abstecher zum Froschlaichplatz am Stiebitzbach. An dem Bach vor sich im Wasser entdeckt er einen hellen Stoffsack. Der lag vor drei Tagen noch nicht da, als er das letzte Mal hier gewesen ist. Der Sack liegt nur zum Teil im Wasser. Oben erkennt er vage den Umriss eines Schuhabsatzes. Neugierig geworden stupst Dressler zweimal mit seinem Fuß an den Sack. Etwas Weiches scheint darin zu sein. Aber der Inhalt ist schwer, denn allein kann er den Sack nicht bewegen. Deshalb versucht er, den Stoff aufzureißen. Da ihm das nicht gelingt, reißt er mit einem Schlüssel kurzerhand ein Loch in den Sack. Es kommt rosafarbene Haut zum Vorschein, auf der sich ein blauer Fleck abzeichnet. Er sieht aus wie ein Fleischbeschaustempel bei Schlachttieren.


Eingewickelt in einen Stoffsack wird die Leiche der Ramona Junga am Ufer eines Tümpels gefunden.

„Solche Idioten”, denkt Maik Dressler. „Die schmeißen hier ein totes Schwein in die Natur. Bald wird das Wetter wärmer, der Kadaver fängt an zu stinken und die Kinder, die ins Spreebad ganz in der Nähe gehen, müssen hier vorbei.“ Maik Dressler schwingt sich auf seinen Drahtesel und fährt zur Schicht. Im Betrieb erzählt er den Kollegen von seinem Fund.

In den folgenden Tagen hat Dressler frei, so dass er erst am Freitag, dem 24. Mai, gegen 10.45 Uhr wieder an der Froschlaichstelle vorbeiradelt. Diesmal ist er in Eile und steigt nicht ab. Aber vom Weg aus sieht er, dass der Sack noch im Wasser liegt und ärgert sich darüber.

Auch Hobbyornithologe Manfred Tischer[2] kennt die sumpfige Stelle in der Nähe des Spreebades. Das dicht bewachsene Gelände eignet sich gut, um Vögel zu beobachten. Am Montag, dem 27. Mai, ist er dort und wundert sich ebenfalls über den prall gefüllten Stoffsack im Wasser. Manfred Tischer hat stets sein Fahrtenmesser dabei und benutzt es, um den schon vorhandenen Riss im Stoff weiter aufzuschneiden. Dabei sieht er die rosafarbene Haut und glaubt auch, ein totes Schwein vor sich zu haben. Aber das hat ja eigentlich Borsten, die sind hier nicht zu sehen, denkt Tischer beim Zertrennen des Stoffes. Da rutscht eine menschliche Hand aus der entstandenen Öffnung. „Verdammt noch mal…“, entfährt es Tischer. Der Schreck lähmt ihn für Sekunden, dann rennt er zum Spreebad und meldet seinen Fund. Angestellte des Bades rufen die Polizei.

*

Kriminaloberkommissar Frank Nicolaus war vor einigen Wochen noch Oberleutnant der Kriminalpolizei in der Morduntersuchungskommission (MUK) der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden. Seit einigen Tagen ist er kommissarischer Leiter der MUK im neu gegründeten Bezirkskriminalamt Dresden. Er haut mit Schwung den Hörer des Telefons auf die Gabel. Es ist 16.53 Uhr. Soeben hatte ihm der Polizeiführer vom Dienst den Fund der weiblichen Leiche in Bautzen gemeldet.

„Wer ist noch da und fährt mit nach Bautzen?“, ruft Nicolaus in die Runde. Die drei Räume der Mordkommission in der vierten Etage des neuen Anbaus am Polizeigebäude in der Schießgasse liegen direkt nebeneinander. Die Verbindungstüren stehen immer offen. So hören die noch anwesenden Mitarbeiter seinen Ruf. Minuten später bahnt sich der Einsatzwagen der MUK, ein sandfarbener Wartburg Tourist mit Sondersignal seinen Weg durch den Dresdner Berufsverkehr. Am Steuer sitzt Kriminaloberkommissar Günther Warnatsch. Hinten sitzt Kriminalunterkommissar Walfried Schulze, den der stürmische Wind der Wendezeit aus dem werktätigen Volk in die Dresdner Kriminalpolizei geweht hatte. In einem Barkas B 1000, dem kriminaltechnischen Fahrzeug der MUK, fahren der ständige Kriminaltechniker der Mordkommission, Joachim Burkhardt sowie der Mordermittler Frank Nitzsche mit zum Fundort der Leiche. Es ist kurz nach 18 Uhr, als die Mordkommission am Spreebad in Bautzen eintrifft. Dort herrscht schon große Betriebsamkeit. Kollegen des Kreiskriminalamtes Bautzen ermitteln bereits emsig. Der Fundort ist weiträumig abgesperrt. Ein Staatsanwalt aus Hoyerswerda ist vor Ort, und 18.45 Uhr treffen zwei Rechtsmediziner aus Dresden ein. Ab 19.30 Uhr ist ein Trupp der Bautzener Feuerwehr mit einem Schlauchboot auf dem Wasser unterwegs und sucht nach weiteren Spuren im Uferbereich des Stiebitzbaches. Die Kriminaltechniker bestimmen den genauen Fundort der Leiche. Es ist eine größere Wasserstelle am Stiebitzbach. Dorthin führt ein fünf Meter langer Trampelpfad durch ein Gestrüpp aus Brenn- und Taubnesseln, Gras und jungen Erlen. Der Pfad liegt links von der Neuschen Promenade und ist knapp fünfzig Meter entfernt von einer Fußgängerbrücke.

Der Sack mit der Leiche habe etwa fünfzig Zentimeter tief im Wasser gelegen, berichten die Polizisten, die als erste am Ort gewesen waren. Er war mit einer dunkelgrünen Plastikschnur mehrfach umschlungen und verknotet. Inzwischen ist der Sack aus dem Wasser geborgen worden und man hatte eine völlig unbekleidete Leiche freigelegt.

Die Rechtsmediziner können noch am Fundort feststellen, dass es sich bei der Toten um eine recht korpulente weibliche Person von etwa zwanzig Jahren handelt. Noch weiß keiner, wer die Frau ist. Ein buntes Stoffstück ist wie ein Knebel um Hals und Kopf geschlungen und vor dem Mund verknotet. Schnell ist klar, dass die Frau einem Tötungsverbrechen zum Opfer gefallen ist. Deshalb ordnet der Staatsanwalt eine gerichtliche Sektion an und lässt die Leiche in die Pathologie des Kreiskrankenhauses Bautzen überführen. Noch in der Nacht stellen die Rechtsmediziner fest, dass die Frau erstickt wurde. Die Knebelung hatte die oberen Atemwege der Frau verschlossen, das wirkte tödlich.

Eine sogenannte Speisebreiaspiration, das Einatmen von Speisebrei aus dem Magen in die Lunge, hatte zum Ersticken geführt. Auslöser des Erbrechens war vermutlich eine äußerlich sichtbare Gewalteinwirkung auf Kopf und Bauch. Zahlreiche Verletzungen, auch im Brustbereich der Toten, zeugen von sehr massiver Gewalt. Selbst die Leber ist trotz des stark ausgeprägten Bauchdeckenfetts verletzt. An einer Stelle ist das Kopfhaar der Frau angesengt. Im Inneren des Sackes und an der Haut der Toten anhaftende Haare werden ebenfalls gesichert. Die gesammelten Haare werden später Haar für Haar zergliedert und mit dem Haar der Getöteten verglichen. In aufwendigen Untersuchungen werden die morphologischen Eigenschaften und Unterschiede ermittelt. Die Ermittler hoffen, sie könnten auf diesem Wege ein verräterisches Haar des Täters isolieren, denn der Mensch verliert unter normalen Bedingungen täglich, meist unbemerkt, zwischen vierzig und hundertzwanzig Haare.

Neben diesen Feststellungen haben die Kriminalisten weitere Spuren quasi in der Hand: So könnte der Knebel ein Stück der Bekleidung des Opfers sein. Es ist ein beigefarbener Rock mit orangefarbenen, schwarz oder olivgrün umrissenen Blütenmotiven. Er hat kein Wäschezeichen und ist mit vier Abnähern versehen. Der Rock hat seine beste Zeit bereits hinter sich und wurde vermutlich einst handgefertigt. Er bekommt die Nummer 2 in einer langen Spurenliste. Spur 1 ist der Sack, in dem die Leiche gefunden wurde. Er besteht aus Baumwolle-Viskose-Fasern und ist mit einem Kettenstich zusammengenäht. Das 180 mal 120 Zentimeter große Stoffstück hat innen die Aufschrift „MC II 722533”. Verschlossen war der Sack offensichtlich mit einer grünen Wäscheleine.

Am Ufer des Stiebitzbaches, dem Fundort der Leiche, finden die Ermittler keine klaren Hinweise auf ein Motiv für die Tat. Aber es gibt Anhaltspunkte für ein Sexualverbrechen. Denn im After der Toten steckt ein abgebrochener Löffelstiel. Der gelbliche Plastiklöffel mit dem Schriftzug „Art. 404 Made in GDR” und dem Firmenlogo „Pneumant“ wird als Spur 4 eingetragen. „Pneumant” war der einzige Reifenproduzent der DDR, der neben Fahrzeugreifen auch ganz verschiedene Kunststoffprodukte herstellte. Plastiklöffel, wie der bei der Leiche, sind vermutlich noch in sehr vielen Haushalten als Eierlöffel im Gebrauch.

*

Wie immer bei unbekannten Toten, versuchen die Kriminalisten zunächst die Identität der jungen Frau zu klären. Erst wenn das Opfer bekannt ist, können sie zielgerichtet Verwandte und Bekannte befragen und finden durch deren Hinweise möglicherweise eine Spur zum Täter. Es ist eine immer wiederkehrende Erkenntnis bei Tötungsverbrechen, dass es sich bei sehr vielen dieser Delikte um sogenannte Beziehungstaten handelt. Das heißt, Täter und Opfer kannten einander, und diese Bekanntschaft bleibt anderen meist nicht verborgen. Gelingt es den Ermittlern, die richtigen Zeugen aus dem Lebensumfeld des Opfers ausfindig zu machen, lassen sich die Tatumstände oft rasch auf klären. Schwieriger wird es jedoch, wenn Täter und Opfer eher zufällig aufeinander trafen und es keine Vorbeziehungen zwischen ihnen gab.

Die Tote vom Stiebitzbach wird so etwas wie die Ausnahme von dieser Regel werden. Wer sie ist, kann recht schnell geklärt werden. Denn nur wenige Stunden vor dem Leichenfund hatte eine besorgte Mutter aus Bautzen-Gesundbrunnen ihre 28-jährige Tochter Ramona Junga bei der Polizei als vermisst gemeldet. Am Dienstag, dem 14. Mai 1991, gegen 16 Uhr, hatte sie Ramona zum letzten Mal gesehen. Da verließ die junge Frau die elterliche Wohnung. Sie trug einen kornblumenblauen Mantel, ausgewaschene Jeans, einen grau-schwarzen Strickpulli mit weißem Kragen und schwarze Wildlederschuhe. Seitdem war Ramona nicht wieder aufgetaucht und hatte sich auch nicht bei ihrer Mutter gemeldet.


Diese Signatur auf dem Stoffsack gibt den Ermittlern viele Rätsel auf, wochenlang suchen sie nach der Herkunft der Verpackung.

Ramona lebte eigentlich noch bei der Mutter, hatte aber seit zwei Jahren einen Freund, bei dem sie ebenfalls zeitweise wohnte. So kam es öfter vor, dass Ramona nächtelang fortblieb. Das erklärt auch, dass ihre Mutter erst nach 13 Tagen Vermisstenanzeige bei der Polizei erstattete. Die Personenbeschreibung der Mutter entsprach exakt den körperlichen Maßen der Toten im Stiebitzbach. So gab es kaum Zweifel, dass es sich bei der Leiche im Sack um Ramona Junga handelt. Die Kriminalisten müssen ihrer Mutter die Todesnachricht überbringen. Sie ist davon so schockiert, dass die Ermittler von ihr zunächst nichts erfahren. Sie kann den Tod ihrer Tochter nicht begreifen und ist nicht in der Lage, Fragen zu beantworten.

Am Tag danach vernehmen die Ermittler Ramona Jungas Schwester. Die berichtet, dass sie Ramona am 12. Mai in der Wohnung der Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Ramona habe seit zwei Jahren ein Verhältnis mit dem Bautzener Falk Schubert[3] gehabt. Von der Mutter weiß die Schwester, dass Ramona am 14. Mai gesagt hatte, sie wolle ihrem Freund Falk den Wohnungsschlüssel zurückgeben. Sie wollte zu ihm gehen. Die Mutter vermutete, dass Ramona mit Falk Schluss machen wollte. Bevor sie ging, äußerte Ramona aber auch, dass sie die Nacht zum 15. Mai noch in Falks Wohnung verbringen wollte. Bevor sie gegangen sei, habe Ramona ihre Mutter noch gebeten, zehn D-Mark bereitzulegen, weil sie am 15. Mai nach Großschweidnitz fahren wollte. Im dortigen Fachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie war Ramona in psychiatrischer Behandlung. Anfang März 1990 hatten Ärzte sie erstmals wegen einer schizophrenen Erkrankung stationär aufgenommen. Nach ihrer Entlassung im September habe die Mutter jedoch zunehmend Probleme mit Ramona gehabt. Deshalb sollte ihre Tochter erneut behandelt werden. Bei der Entlassung am 11. Mai 1991 ging es Ramona merklich besser. Nach einem planmäßigen Arztbesuch am 13. Mai 1991 habe Ramona am Abend ihrer Mutter erklärt, dass sie auch noch ihre Freundin Sonnhild[4] Walther besuchen wollte, hatte die Nacht aber bei Falk Schubert verbracht, mit dem sie Schluss machen wollte. Die Mutter habe ihr deshalb Vorhaltungen gemacht, aber Ramona hätte trotzig reagiert und gemeint, sie könne schließlich machen, was sie wolle. Gegen 16 Uhr habe sie dann die Wohnung verlassen, um wieder zu Falk Schubert zu gehen. Seither hatten Mutter und Schwester von Ramona kein Lebenszeichen mehr erhalten.

Ramonas Schwester berichtet auch, dass sie Falk Schubert am 18. Mai zufällig in Bautzen getroffen und angesprochen habe. Falk habe bestätigt, dass Ramona in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch bei ihm gewesen war. Ramona habe gesagt, sie wolle am Tag nach dieser Nacht, also am 15. Mai 1991, zu einem Freund nach Großschweidnitz fahren. Falk war darüber verärgert, habe Ramona aber gesagt, sie solle doch hinfahren, wenn sie das unbedingt wolle. Ramonas Schwester sagt der Kripo auch, dass ihr bei diesem Treffen eine Schürfwunde im Gesicht von Falk Schubert aufgefallen sei. Sie habe den Eindruck gehabt, dass er die Wunde vor ihr verbergen wollte. Von Ramona selbst habe sie auch erfahren, dass sie mit Falk Schluss machen wollte, weil der sie oft schlagen würde, wenn er Alkohol getrunken hat. Ramona habe ihn nie angezeigt, weil sie noch immer in ihn verliebt gewesen sei.


Ramona Junga. Sie war auf der Suche nach Liebe und sexueller Befriedigung mitunter etwas leichtsinnig, das wurde ihr zum Verhängnis.

Nach dieser Aussage gerät Falk Schubert ins Visier der Ermittlungen. Die belastenden Momente reichen, um ihn vorläufig festzunehmen. Bald sitzt er Kriminalhauptkommissar Gert Weidig gegenüber und ist sichtlich bemüht, jeglichen Verdacht von sich zu weisen. „Ich habe mit Ramonas Tod nichts zu tun“, erklärt Falk Schubert und schildert, wie er mit Ramona Junga längere Zeit sehr eng befreundet gewesen sei. Doch sie habe zunehmend nicht mehr gewusst, was sie wollte, sei mal da und dort gewesen. Deshalb sei das Verhältnis schließlich auseinandergebrochen. Vom 13. zum 14. Mai habe sie zum letzten Mal bei ihm übernachtet.

Schubert schildert den Beginn dieser Begegnung: „Ich stand am Montagnachmittag vor dem Konsum in der Fabrikstraße und trank Bier, als Ramona vorbei kam. Sie wollte zu einer Sonnhild, die wohl in der Fabrikstraße wohnt. Wir unterhielten uns, und schließlich fragte ich sie, ob sie mit zu mir kommt. Sie war einverstanden. Zuvor waren wir noch im Ratskeller essen. In der Nacht schliefen wir miteinander und sie sagte, dass sie am Mittwoch nach Großschweidnitz fahren wolle, weil sie dort einen Freund habe.“ Falk Schubert verzieht sein Gesicht. „Darüber war ich natürlich nicht erfreut. Aber wir hatten deswegen keinen Streit.“

Hauptkommissar Weidig reagiert absichtlich provokativ: „Und das sollen wir Ihnen glauben.”

Falk Schubert blickt erschrocken hoch und sagt etwas trotzig:

„Ja, das können Sie ruhig. Ich habe Ramona nichts angetan.“

Weidig: „Sie waren aber nachweislich der Letzte, der mit ihr zusammen war!“

Schubert sagt etwas verzweifelt: „Das sieht vielleicht so aus, aber ich bin nicht der Letzte, der mit ihr zusammen war. Das war der Mörder. Und der bin nicht ich!“ Er hockt da wie ein Häuflein Unglück, weil Weidig ihm offenbar nicht glauben will. Der Hauptkommissar erkennt das und lenkt ein: „Nehmen wir an, es stimmt, was Sie sagen. Wir werden alles prüfen. Wenn Sie Ramona Junga nicht getötet haben, werden wir das feststellen.“

Weidig fragt, wie der 15. Mai verlaufen sei und nickt dem Verdächtigen aufmunternd zu. Der Kriminalist will vermeiden, dass der Beschuldigte „zumacht“ und die Aussage verweigert. Weidig kennt inzwischen das Ergebnis der Durchsuchung von Schuberts Wohnung und Spind an seinem Arbeitsplatz im Waggonbau. Es ist dürftig. Es gibt zwar ein paar augenscheinliche Blutspuren in der Wohnung. Die könnten aber von sonst wem stammen und Wochen oder Monate alt sein. Einen handfesten Beweis gegen Schubert haben die Ermittler nicht.

Falk Schubert beruhigt sich und setzt seine Aussage fort: „Ich hatte am 15. Mai den Wecker auf 5.15 Uhr gestellt, da ich auf Arbeit musste. Ramona hatte keine Lust zum Aufstehen. Ich gab ihr deshalb meinen Wohnungsschlüssel. Sie sollte ihn am Abend wieder zurückbringen. Und auch den Schlüssel, den sie sowieso noch hatte, als sie bei mir wohnte.“ Als er gegen 16 Uhr von der Arbeit kam, habe Ramona am Konsum in der Fabrikstraße auf ihn gewartet. Es habe stark geregnet, und sie seien zu „Ritas Eck“ gegangen, einem Kiosk an der Brauerei. „Dort tranken wir zwei Dosen Bier und unterhielten uns. Ramona wollte, dass wir essen gehen und anschließend wollte sie wieder bei mir übernachten“, sagt Schubert. Das sei ihm aber nicht recht gewesen, da Ramona am nächsten Tag zu dem Freund nach Großschweidnitz fahren wollte. Darum habe er ihr gesagt, dass sie nicht mit zu ihm kommen könne, weil er zu seiner Schwester wolle. Normalerweise besuchte er sie immer mittwochs. Er habe den Besuch vorgeschoben, weil er Ramona nicht mehr in seiner Wohnung haben wollte. Ramona habe sich damit abgefunden und ihm seine Wohnungsschlüssel zurückgegeben. Sie habe zu ihrer Freundin Sonnhild gehen wollen, um dort vielleicht schlafen zu können. Schubert erklärte, dass er Sonnhild nur einmal gesehen habe und dass sie irgendwo in der Fabrikstraße wohnen könnte. Gegen 17 Uhr hätten sie sich getrennt. Er sei bis 18 Uhr am Kiosk geblieben und anschließend in die Gaststätte „Zum Echten” im Lauengraben gegangen, um dort noch ein paar Bier zu trinken. Gegen 20.45 Uhr sei er zu Hause gewesen, aber Zeugen habe er dafür nicht. Am Pfingstsonntag will Schubert von Ramonas Schwester erfahren haben, dass seine Ex-Freundin schon seit einer Woche nicht zu Hause war. Die Schwester habe ihn auch gefragt, ob er wüsste, wo diese Sonnhild wohnt.

Hauptkommissar Weidig verlässt den Raum und bittet einen der Kollegen: „Prüft mal, ob es eine Sonnhild in der Fabrikstraße in Bautzen gibt.“

In den folgenden Stunden erfährt Weidig von dem Verdächtigen auch, dass Ramona Junga während ihrer gemeinsamen Zeit öfters mal eine ganze Woche lang in Singwitz geblieben sei – im Wohnheim der Kubaner. Die Mutter und die Schwester hätten sie dort rausgeholt. Ramona wäre dann wieder eine Weile bei ihrer Mutter gewesen, danach wieder zu ihm gekommen, so Schubert. Deswegen habe er Krach gehabt mit Ramona. Schubert sagt auch, dass er seine Freundin geschlagen habe, als sie aus Singwitz zurückkam. Schubert belastet sich selbst, und Weidig hat das Gefühl, dass der Beschuldigte nur ehrlich sein will. Nun hält er ihm vor, dass er am 18. Mai eine frische Risswunde in der rechten oberen Gesichtshälfte hatte. „Nein, hatte ich nicht“, streitet Schubert sofort ab. Weidig kontert: „In Ihrer Wohnung wurden auf dem Bettzeug und unterhalb des Spiegels im Flur Blutspuren gefunden …“

Schubert sagt: „Ja, das Blut stammt von mir. Ich hatte mich am 8. Mai, einen Tag vor dem Männertag, beim Rasieren geschnitten. Außerdem bin ich mal, als Ramona noch bei mir wohnte, im Suff gestürzt und habe mir eine stark blutende Platzwunde an der Schläfe zugezogen.“ Er versucht diese Spuren zu erklären, muss aber dennoch die Nacht im Polizeigewahrsam verbringen.

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Während Falk Schubert fast einen Tag lang von der Mordkommission vernommen wird, sitzt auch die 35-jährige Sonnhild Walther im Kreiskriminalamt Bautzen und wird befragt. Sie ist gelernte Weberin und jetzt arbeitslos. In der Einwohnermeldestelle hatten Bautzener Polizisten die Frau schnell ausfindig gemacht. Sie kennt Ramona Junga bereits seit 1980. Damals wohnten sie im selben Mietshaus in Bautzen. Beide besuchten sich gegenseitig in den Wohnungen. 1987 verzog Sonnhild Walther in die Fabrikstraße und Ramona besuchte sie auch dort einmal im Monat. Ramona wäre in dieser Zeit mit einem Kubaner aus dem Wohnheim in Singwitz befreundet gewesen, sagt sie aus. Zum letzten Mal habe sie ihre Freundin Ramona im Oktober 1990 in ihrer Wohnung in der Fabrikstraße gesehen, sagt Sonnhild Walther. Im Januar 1991 habe sie Ramonas Mutter zufällig getroffen und erfahren, dass Ramona zur stationären Behandlung im Fachkrankenhaus Großschweidnitz ist. Erst vor wenigen Tagen, als sie Ramonas Mutter wieder einmal in Bautzen begegnet sei, hätte die gefragt, ob sie Ramona in der letzten Zeit gesehen habe. Das verneinte Sonnhild der Mutter gegenüber.

Gegenüber Kriminaloberkommissar Matthias Rößler von der Bautzener Kripo erklärt Sonnhild Walther: „Ich bin Ende April in der Fabrikstraße ein paar Hausnummern weiter verzogen, in die Wohnung meines Freundes Robert Ziehmer[5]. Das hat Ramona sicher nicht gewusst und mich deshalb wohl nicht gefunden.“

Der Bautzener Kriminalist fragt: „Kennt denn Ihr Freund Robert die Ramona?“

Sonnhild Walther: „Könnte sein, dass Robert die Ramona im Oktober 1990 mal in meiner Wohnung gesehen hat. Ansonsten kennt er sie aber nicht.“ Die 35-Jährige beschreibt ihre Freundin als recht leichtgläubig. „Ramona wäre wohl mit jedem Mann mitgegangen. Sie wollte eigentlich nur einen festen Freund finden.“

Oberkommissar Rößler will, dass sich die Zeugin festlegt und fragt konkret danach, ob Ramona Junga in der Zeit vom 13. bis 16. Mai bei ihr übernachtet habe. „Nein, hat sie nicht, und mehr weiß ich auch nicht.“ Die bohrende Nachfrage nervt die Zeugin sichtlich. Rößler lässt aber nicht locker und will auch wissen, wo sie am 14. Mai zwischen 16 Uhr und 20 Uhr gewesen ist.

Sonnhild Walther überlegt kurz und schildert dann ihren Tagesablauf: Gegen zehn Uhr hätte sie mit Robert die Wohnung verlassen. Sie hatten einen Termin im Arbeitsamt. Zwischen sechs und halb sieben abends wären sie wieder zu Hause gewesen und später noch in die Gartenwirtschaft am Prauschwitzer Weg gegangen. „Aber von Ramona haben wir weit und breit nichts gesehen“, sagt sie.

Noch am selben Tag gehen die Männer der Kripo dem Hinweis der Zeugin Walther auf einen Kubaner nach. Sie machen Sindy Willmann[6] ausfindig, eine frühere Bekannte von Ramona. Die bestätigt, dass Ramona einen kubanischen Freund hatte, der jedoch im Oktober 1990 endgültig nach Kuba zurückgekehrt sei. Sindy Willmann selbst hatte Ramona Junga ihrer Erinnerung nach 1990 oder Anfang 1991 zum letzten Mal gesehen – in der Wohnung von Sonnhild Walther.

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Falk Schubert wird nach einer Nacht im Polizeigewahrsam am nächsten Tag nicht dem Ermittlungsrichter vorgeführt, sondern erst einmal von der Kripo weiter vernommen. Er ist aussagebereit, und die Ermittler befragen ihn unter anderem zu den Textilien, die in seiner Firma als Verpackungsmaterial verwendet werden. Die Kriminalisten wollen feststellen, ob der Sack, in dem Ramonas Leiche steckte, eventuell aus dem Waggonbau stammt. Auch die Aussage der Zeugin Walther wird ihm vorgehalten, die Ramona Junga am 15. Mai nicht gesehen haben will. Doch Schubert wiederholt nur, dass Ramona ihm gesagt habe, sie wolle zu Sonnhild. „Vielleicht hatte sie es mir nur gesagt, um etwas anderes zu vertuschen“, meint Schubert und zieht seine Schultern ratlos hoch. Er wird zum Schluss erkennungsdienstlich behandelt, muss seine Fingerabdrücke bei der Polizei hinterlassen, und von ihm werden Lichtbilder gemacht. Die Beweise und Verdachtsmomente gegen ihn bleiben dürftig. So verzichten die Ermittler darauf, Falk Schubert dem Haftrichter vorzuführen. Sie heben seine vorläufige Festnahme auf. Er darf gehen.

Was Falk Schubert nicht weiß und auch nicht bemerkt: Noch 24 Stunden nach seiner Entlassung wird er durch Spezialkräfte der Polizei observiert. Aber auch diese Aktion bringt keine Erkenntnisse. Schubert sucht sofort nach seiner Freilassung mehrere Kioske und eine Kneipe auf. Dann geht er nach Hause. Am nächsten Tag geht er wie immer zur Arbeit und steht nach Feierabend wieder am Konsum in der Wilthener Straße, trinkt sein Bier und schwatzt mit Kollegen. Er verhält sich so wie immer. Der Einsatz wird abgebrochen. Auch die Ermittlungen in seiner Nachbarschaft erhärten den Verdacht gegen ihn in keiner Weise. Einige Zeit später wird das Ermittlungsverfahren gegen Falk Schubert eingestellt.

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Danach erklärt die Dresdner Morduntersuchungskommission den ungeklärten Mord an Ramona Junga quasi zu einem „Jugendobjekt“. Die in Mordsachen eher unerfahrenen Ermittler Günther Warnatsch, Jens Dörfel, Walfried Schulze sind nun wie auch Frank Nicolaus mit der Sache hauptsächlich befasst. Die „alten Hasen“ um Gert Weidig müssen sich um andere Tötungsverbrechen im Regierungsbezirk Dresden kümmern. 1991 wird allen in der Mordkommission als besonders ereignisreich in Erinnerung bleiben. In Dresden werden der Taxifahrer Andreas Helmstädt, der Ingenieur Thomas Hummel, der Neonaziführer Rainer Sonntag und in Wilthen die Verkäuferin Carola Link ermordet, um nur einige Fälle zu nennen.

So fährt die „Jugendgruppe“ der MUK in den folgenden Monaten in wechselnder Besetzung fast täglich nach Bautzen. Die Fahrerei ist zeitraubend, denn die Autobahn A4, die in einem schlimmeren Zustand ist als ein Waldweg, wird gerade ausgebaut. Die Bundesstraße B6 nach Bautzen ist stets überlastet. Und über die Dörfer zu fahren ist aufreibend. Trotzdem arbeiten die Ermittler einiges ab. Die Spur 1, der „Leichensack“ mit seinen individuellen Kennzeichen, ist der Ermittlungsansatz, der am ehesten Erfolg verspricht. Die Kriminalisten klappern alle Betriebe ab, in denen ein solcher Sack verwendet werden könnte, das Mischfutterwerk Niedercunnersdorf, die Textil- und Leinen GmbH Niedercunnersdorf, den Motorclub Mittellausitzer Bergland, die Motorenwerke Cunewalde. Sie erreichen nichts. Die Suche nach ähnlichen Säcken führt sie in Textilbetriebe nach Cottbus, Pulsnitz, Neugersdorf, in die Spreetextilien GmbH Sohland und Neusalza-Spremberg. Nichts und wieder nichts. Auch in mehreren Betrieben in Bautzen, Löbau, Großschweidnitz, Sebnitz, Wehrsdorf, Kirschau und Wilthen haben sie keinen Erfolg.

Erst in der Leinenweberei Großpostwitz wird die Suche nach wochenlangen ermüdenden Ermittlungen plötzlich spannend. Hier erfahren die Ermittler, dass der „Leichensack“ aus einem Markisenstoff besteht und die Bezeichnung „II“ eine Qualitätsstufe für die Gewebeart bedeutet. Dieser Stoff war im Januar 1990 aus dem Textil- und Verarbeitungsbetrieb Bretnig (Werk 3), aus der Weberei angeliefert worden. Im Werk Großschweidnitz wurde der Markisenstoff gebleicht und anschließend nach Löbau zum Bedrucken gebracht. Die arabischen Ziffern auf dem Sack bedeuten Artikelnummern. In Großschweidnitz wurden teilweise Markisenstoffe mit einer Kettenstichnaht zusammengenäht. Der „Leichensack” hatte so eine Naht. War das eine erste Spur?

Die Kriminalisten versuchen, den Verfasser der handschriftlichen Zeichen auf dem Sack ausfindig zu machen. 1991 gibt es in dem Werk nur noch 87 Mitarbeiter. Ein Jahr zuvor waren es noch 178 Beschäftigte. Nicolaus und die anderen erleben den Niedergang der Textilindustrie in Ostsachsen. Die Ermittlungen im Textil- und Verarbeitungsbetrieb Bretnig bringen die Kripoleute ein kleines Stück weiter: Von dort wurde der Markisenstoff „MC II” in den Jahren 1986 bis 1988 und im Jahr 1990 nach Großschweidnitz geliefert. Vor der Lieferung wurde der Stoff gekennzeichnet – nach einer bestimmten Abfolge von Zahlen. Sie wälzen alte Karteikarten, auf denen die Nummern archiviert sind. Den Urheber der Schriftzeichen auf dem Sack finden sie aber nicht. Im Werk Bretnig gibt es Kettenstichnassnähmaschinen der Marke „Claes“. Mit denen könnte der „Leichensack“ genäht worden sein. Aber das dort verwendete Garn entspricht nicht dem Garn an dem Sack.

Im Oberlausitzer Textilveredlungsbetrieb Löbau kommen die Ermittler doch noch einen Schritt weiter, und der Kreis weitschweifiger Ermittlungen zu dem „Leichensack“ scheint sich endlich zu schließen. Die Lieferungen von Markisenstoff aus Großschweidnitz werden in die Qualitätsstufen I bis V eingeteilt. Die „I“ ist dabei der leichteste Stoff, die „V“ die schwere Ausführung.

Das gefertigte Gewebe wird im Löbauer Betrieb bedruckt und weiterverkauft. In dem Löbauer Werk gibt es sogar Kettenstichnähmaschinen, jedoch wird auch in diesem Betrieb ein anderes Garn verwendet als beim „Leichensack“. Dessen Gewebestoff ist ungebleicht, ein Rohmaterial des Markisengewebes. Hier erfahren die Kriminalisten, dass es im Herstellerbetrieb der Rohware üblich ist, die Reste zu Säcken zusammenzunähen, in denen dann Textilabfälle entsorgt werden. Die gefüllten Abfallsäcke werden zur Sekundärrohstoff-Annahmestelle Sero nach Bautzen in die Zeppelinstraße 5 gebracht.

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Wenige Tage nach den ersten Pressemitteilungen zum Fund der Leiche teilt der Bautzener Raimund Walzer[7] der Polizei am Telefon mit, er habe Ramona Junga am 14. Mai in Begleitung eines Mannes gesehen. Walzer ist jedoch ein wenig kompliziert und der Bautzener Polizei schon bekannt. Walzer weigert sich, das Polizeirevier zu betreten. Aber er ist einverstanden, dass ihn Kriminalbeamte zu Hause aufsuchen. Pünktlich um elf Uhr stehen Warnatsch und Nicolaus wie vereinbart am folgenden Tag vor Walzers Wohnungstür und klingeln sich die Finger wund. Niemand öffnet. Die Kriminalisten schieben andere Ermittlungen dazwischen und stehen 15 Uhr wieder vor Walzers Tür. Der kleine Zettel, den sie am Vormittag unter die Tür geschoben hatten, ist inzwischen verschwunden. In der Wohnung muss jemand sein, denn das Kriminalistenohr vernimmt hinter der Tür leise Musik und ein Hüsteln. Trotz Klingeln und Klopfen wird die Tür aber nicht geöffnet.