Loe raamatut: «Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert», lehekülg 3

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Ambivalenzen des Fortschritts

Mein Buch baut zwar auf Untersuchungen anderer auf, doch präsentiert es eine eigene Interpretation der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, wobei es besonders die fundamentale Ambivalenz der Moderne in den Blick nimmt. Die Erzählung vom unaufhaltsamen Fortschritt, die sich in den meisten Lehrbüchern zur »Geschichte der westlichen Zivilisation« findet, wird dem immensen Leid, das die beiden Weltkriege brachten, nicht gerecht. Mark MazowerMazower, Mark artikuliert in seiner Studie Der dunkle Kontinent eine Gegenposition und sieht als bestimmende Momente die ungeheuren Verbrechen, die ethnischen Säuberungen und den Holocaust; sie erklärt aber nicht hinreichend die Dynamik der Erholung nach dem Krieg. Weder Eric HobsbawmsHobsbawm, Eric vom linken Standpunkt her geführte Klage über die Niederlage des kommunistischen Projekts noch Edgar WolfrumsWolfrum, Edgar Betonung der segensreichen Fortschritte im täglichen Leben erfasst die ganze Komplexität der europäischen Entwicklung. Tony JudtJudt, Tony, der den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg aus sozialdemokratischer Sicht darstellt, kommt dem Entscheidenden schon näher; leider lässt er jedoch wichtige Vorgänge der ersten Jahrhunderthälfte unerörtert, während Ian KershawsKershaw, Ian eindrucksvolle Synthese vorerst nur bis 1950 reicht.1 Anregend sind diese Studien zwar, jede in ihrer Art, aber sie liefern eben keinen umfassenden und ausgewogenen Gesamtplan, mit dessen Hilfe sich die Katastrophen und die Erfolge Europas während des letzten Jahrhunderts verstehen ließen.

Meine Reflexionen unterscheiden sich daher in mehrfacher Hinsicht von der bereits existierenden Literatur. Andere Autoren beginnen bei einem früheren oder späteren Zeitpunkt; im Gegensatz dazu setze ich mit der intensivierten Modernisierung ein, die um 1900 den Höhepunkt imperialistischer Macht in Europa verursachte. Ich blende nicht ab mit der Jugendrevolte von 1968 oder der friedlichen Revolution von 1989, sondern nehme das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts ernst als eine Epoche mit eigenem Charakter, die einer Erklärung bedarf. Nur so lassen sich die konsternierenden Herausforderungen unserer Gegenwart verstehen. Während viele kulturalistische Darstellungen bevorzugt mit Impressionen und Gefühlen operieren, halte ich den Blick auf Politik, zwischenstaatliche Angelegenheiten und Kriege gerichtet und beziehe bei der Erörterung der Ursachen dieser Phänomene auch Faktoren wie ökonomische Dynamik, soziale Veränderung und kulturelle Strömungen ein. Die folgenden Seiten versuchen ferner eine diskursive Annäherung an die Vergangenheit, indem sie die eigenen Argumente in den Kontext von Sichtweisen stellen, die, was bestimmte wichtige Fragen betrifft, zu anderen Ergebnissen gelangt sind. Schließlich will dieses Buch, statt lediglich ein detailliertes Narrativ zu bieten, eine zusammenhängende Interpretation präsentieren, indem es rivalisierende Auffassungen von Moderne vergleicht.2

Um die Komplexität der europäischen Vergangenheit zu erfassen, wird die nachstehende Reflexion über essentialistische Definitionen hinausgehen und konstruktivistische sowie relationale Untersuchungsansätze nutzen. Einerseits interpretiert sie die Dynamik des Kontinents als Folge der Tatsache, dass er ein Raum intensiver Kommunikation war und über gemeinsame historische Erfahrungen verfügte, die auf die Antike, das Christentum, die Renaissance und die Aufklärung zurückgehen. Andererseits sehe ich Europa als diskursives Konstrukt, geschaffen von inneren Kommentatoren und äußeren Beobachtern, wobei sich das Konstrukthafte darin zeigt, dass sich Europas Zentrum, seine Grenzen und seine Werte immer wieder verschoben haben.3 Bemüht, die übliche einseitige Ausrichtung auf Westeuropa zu vermeiden, gibt meine Synthese den Vorgängen in Mittel- und Osteuropa mehr Raum und stellt den Kontinent selbst in einen globalen Kontext, um nachzuzeichnen, wie er die Welt geprägt, aber auch, wie die Welt auf ihn eingewirkt hat. Ich will gemeinsame Muster in der Entwicklung mehrerer der immer noch mächtigen Nationalstaaten erkennen. Zu diesem Zweck nehme ich ein paar hochrelevante übergreifende Phänomene in den Blick, etwa wirtschaftliche Depression oder Dekolonisation. Diesbezüglich konzentriere ich mich auf eine Handvoll führender Länder, bei bestimmten kritischen Punkten werfe ich aber auch Seitenblicke auf kleinere Staaten, die wichtige transnationale Prozesse erhellen können. Da es einen regelrechten Staatenverbund vor der Europäischen Union noch nicht gab, beansprucht meine Studie nicht, die eine Erzählung der Europäisierung zu liefern, sondern geht von mehreren Geschichten aus, die sich überschneiden.4

Statt Europa nur durch die Linse schmerzvoller Erinnerung zu betrachten, nimmt meine Darstellung auch des Kontinents lebendige Gegenwart fest ins Visier. Touristen lassen sich ja gern vom romantischen Anblick alter Kathedralen, hoch aufragender Burgen und Schlösser sowie prächtiger Patrizierhäuser faszinieren. Scharfsichtigere Besucher bemerken auch die vielen Kriegsnarben, etwa Bombenlücken in den Straßen, Schusslöcher in Häuserwänden, Soldatenfriedhöfe und Ehrenmale für die Opfer blutiger Schlachten.5 Und doch ist dieser Kontinent, das wird mein Buch darlegen, mehr als nur ein Museum. Dafür sprechen die glänzenden modernen Städte, in denen das Leben weitergeht, Städte mit eleganten Einkaufszonen, Städte, die Hochgeschwindigkeitszüge verbinden und ein effizienter öffentlicher Nahverkehr durchzieht, Städte voller gutgekleideter Leute, die nicht mehr viel von der Vergangenheit zu wissen scheinen. In den letzten Jahren hat die Immigration die Menschenmassen bunter gemacht: Man sieht verschiedene Hautfarben, Kopftuch und Ganzkörperschleier neben Miniröcken und Jeans, und Moscheen wetteifern stellenweise schon mit den Kirchen. Diese Studie untersucht daher die Spannung zwischen einer problematischen Vergangenheit und einer vielversprechenden Gegenwart, um jene besondere Version der liberalen Moderne zu entschlüsseln, welche die europäische heißt.6

Ein solcher Ansatz wirft neue Fragen auf, was die Hoffnungen betrifft, die der Drang zur Modernisierung auslöste, aber ebenso, was den Widerstand gegen sie angeht. Neu beleuchtet werden muss der Konflikt zwischen den rivalisierenden ideologischen Versionen, die das gesamte 20. Jahrhundert beherrschten. Warum begeisterte das Versprechen des Fortschritts so viele Staatenlenker, Geschäftsleute, hochqualifizierte Akademiker und einfache Arbeiter, weshalb erschien er ihnen als ein Weg in eine bessere Zukunft? Diese Advokaten des Wandels mussten eine ganze Schar von Verteidigern der Tradition bezwingen, die sich gegen die Innovation wandten, weil sie ihre etablierte Ordnung und ihren gewohnten Lebensstil bewahren wollten. Welcher Druck spaltete das Projekt des »Immer vorwärts« in liberale, kommunistische und faschistische Ideologien auf, deren jede eine andere Blaupause für die Zukunft propagierte? Die Konflikte zwischen diesen Programmen förderten die üblen Seiten des Prozesses; sie brachten neue, unermessliche Arten von Leid in Gestalt des Vernichtungskrieges und des Holocaust. Wie konnte der verwüstete Kontinent aus den Trümmern wiederauferstehen und zu einem geläuterten Verständnis von Modernität gelangen? Indem es analysiert, wie die Europäer das Potenzial des Fortschritts genutzt haben, will dieses Buch zu einer kritischeren Betrachtung der Chancen und Gefahren ermuntern, die jenes Streben mit sich brachte und bringt.7

Schauen wir auf die Ambivalenzen der Moderne, erscheinen manche wohlbekannten Ereignisse in neuem Licht; andere, bisher eher vernachlässigte Vorgänge gewinnen schärfere Konturen. Wie sich dabei zeigt, war das erste Viertel des 20. Jahrhunderts von einem optimistischen Vertrauen in den Fortschritt beherrscht, da Wissenschaft, Wohlstand und Frieden der Mittelschicht ein unübersehbar besseres Leben bescherten. Die Tötungswucht der industriellen Kriegsführung wurde daher als ungeheurer Schock wahrgenommen, der zu beweisen schien, wie recht die Kritiker der Moderne hatten, denn sie brachte immenses Leid in die Schützengräben und an die Heimatfront. Doch davon unbeeindruckt behaupteten führende Politiker, es gebe Auswege aus dieser misslichen Situation, und bald waren verschiedene rivalisierende Ideen im Umlauf: Liberale, kommunistische und faschistische Visionen der Modernisierung versprachen, man könne den Fortschritt sehr wohl wieder voranbringen, wenn man nur ihren Anordnungen folgte. Der Übergang zum Frieden erwies sich zwar als schwierig, aber Mitte der 1920er Jahre verbesserten sich die Lebensbedingungen doch so weit, dass die Hoffnung zurückkehrte. Und die Intellektuellen ließen die Hemmnisse der Tradition hinter sich und experimentierten mit dem kulturellen Modernismus. Nachdem es das Trauma des Ersten Weltkriegs durchlebt hatte, schien Europa in der Lage, ein weiteres Stück Wegs voranzukommen.

Aus einer solchen Perspektive zeigt sich auch das gefährliche Potenzial der Moderne, das Europa im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts an den Rand der Selbstzerstörung brachte. Indem sie die bisherige Entwicklungsrichtung umkehrte, säte die Große Depression tiefe Zweifel, ob die Demokratie wohl überlebensfähig sei. Der erstaunliche Erfolg der stalinistischen Modernisierung in der Sowjetunion zog viele Intellektuelle aus dem Westen in Bann, die das sowjetische Modell des radikalen Egalitarismus als Weg in eine bessere Zukunft priesen. Andere, die sowohl der Demokratie als auch dem Kommunismus kritisch gegenüberstanden, wandten sich der organischen Modernität der Nazis zu, die versprachen, die soziale Ordnung mit dem technischen Fortschritt in der Volksgemeinschaft zu versöhnen. Das mörderische Wüten des Zweiten Weltkriegs übertraf noch bei weitem das Gemetzel seines Vorgängers, während die sozialtechnischen Projekte der Kommunisten und der Nazis – Klassenkrieg hier, ethnische Säuberungen bis hin zu Adolf HitlersHitler, Adolf Holocaust dort –, Auswüchse einer Moderne waren, die Amok lief. Am Ende der heftigen Gefechte glichen weite Teile Europas einer Mondlandschaft, in der verstörte Bewohner um das nackte Überleben kämpften. Die Versuche des social engineering der Diktatoren hatten ungeheure Zerstörung angerichtet.

Die genannte Blickrichtung lässt uns des Weiteren erkennen, dass der Alte Kontinent nicht unterging, sondern sich aus der Asche wieder emporschwang. Das konnte er, weil er im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts eine konservative Version der Modernisierung anstrebte. Unterstützt von den Vereinigten Staaten, nutzte der westliche Teil die Chance, die Demokratie mit Hilfe des Wohlfahrtsstaats zu stabilisieren, während die östliche Hälfte eine Sowjetisierung erlebte. Daraus ergaben sich die Krisen des Kalten Krieges, die glücklicherweise im Zaum gehalten wurden durch die Furcht vor nuklearer Vernichtung; zudem befreite die Dekolonisation Europa von seinem imperialen Ballast. Die wirtschaftliche Integration innerhalb Westeuropas bewies, dass man dort die Lektionen über die Schädlichkeit nationalistischer Feindseligkeiten gelernt hatte, während die östliche Hälfte unter der diktatorischen Herrschaft Russlands verblieb. Im Gegensatz zur Zwischenkriegsphase akzeptierten nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Europäer die Moderne, weil sie ihnen merkliche Verbesserungen ihres Lebensstandards brachte, etwa bei Konsum und Unterhaltung. Beiderseits des Eisernen Vorhangs waren die Politiker überzeugt, sie könnten das wohltätige Potenzial des Fortschritts ausschöpfen, indem sie soziale Reformen planten. Wieder einmal wurde die Modernisierung zum Leitwort einer friedlichen Koexistenz der konkurrierenden Zukunftsentwürfe in Ost und West.

Schließlich ergibt meine Analyse, dass im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine unvorhergesehene kulturelle Revolte gegen die Moderne das wiedergewonnene Vertrauen in den Fortschritt erschütterte. Die Jugendrebellion, neue soziale Bewegungen und postmoderne Kritik lehnten die rationalistische Synthese des klassischen Modernismus ab. Gleichzeitig unterminierte die ökonomische Transformation, die sich im Gefolge der Globalisierung vollzog, die gesellschaftlichen Stützpfeiler sozialdemokratischen Planens. Das Ende des Kalten Kriegs bahnte der »friedlichen Revolution« von 1989 den Weg, die den Kommunismus stürzte; nun blieb als Modell für die Transformation Osteuropas einzig die demokratische Modernisierung übrig. Neue globale Herausforderungen im wirtschaftlichen Wettbewerb, »Armutsmigration« und internationaler Terrorismus machten jedoch rasch diesem Triumph ein Ende. Um 2000 sah sich Europa vor der Aufgabe, seine eigene Version des Wohlfahrtskapitalismus gegen die Hegemonie des amerikanischen Modells und die aufsteigenden asiatischen Konkurrenten zu verteidigen. Indem sie die Hoffnungen und Enttäuschungen, die mit diesem Streben nach Fortschritt verbunden waren, ins Schlaglicht rückt, liefert unsere Perspektivierung eine neue Interpretation des kontinentalen Ringens mit dem Fortschritt während des 20. Jahrhunderts.

Auch wenn sich der Fokus des Interesses inzwischen auf andere Regionen der Erde verschiebt – der Fall Europa bleibt wichtig, denn er repräsentiert ein drastisches Beispiel für die Fehlschläge und Erfolge, die beim Umgang mit der Modernisierung geschehen können. Aufstieg, Fall und Wiedergeburt des Alten Kontinents im 20. Jahrhundert bieten eine hochdramatische Erzählung, vorangetrieben von außergewöhnlichen Individuen, voller überraschender Kehren und Schicksalswendungen. Einerseits kann man sie lesen als Warnung vor den unheilvollen Folgen, die eine radikale Veränderung der Gesellschaft durch diktatorische Systeme anrichtet. Das stalinistische Russland und das nazistische Deutschland hinterließen eine Spur von Leid und Tod, und zwar in einem schier unvorstellbaren Ausmaß. Andererseits kann das Exempel Europas auch ermutigen, denn es bezeugt, dass Gesellschaften, die an den Rand der Selbstzerstörung gerieten, sich regenerieren können, wenn sie aus den Lektionen ihrer mörderischen Vergangenheit lernen, dass sie um einer besseren Zukunft willen kooperieren müssen.8 Nur gar zu deutlich zeigen sich die Verheerungen, die eine autodestruktive Kriegsführung und ein ausbeuterischer Kapitalismus angerichtet haben. Daher führt die europäische Erfahrung letztendlich vor Augen, wie wichtig es ist, die Stabilität der Demokratie durch friedliche Kooperation nach außen und einen leistungsfähigen Wohlfahrtsstaat im Inneren zu bewahren. Die entscheidende Einsicht, die aus jenem Jahrhundert der Turbulenzen zu ziehen wäre, lautet also, dass die Dynamik der Moderne zu zügeln ist, damit ihr wohltätiges Potenzial freigesetzt werden kann.

TEIL I

Fortschrittsversprechen, 1900–1929

Globale Herrschaft


Südafrikanische SüdafrikaDiamantenmine, 1911

Das diamantene Thronjubiläum Königin VictoriasVictoria I., der sechzigste Jahrestag ihres Machtantritts, bildete den symbolischen Höhepunkt des europäischen Imperialismus. Kolonialminister Joseph ChamberlainChamberlain, Joseph hatte die Idee zu diesem prächtigen Festival of the British Empire gehabt; es kamen auch elf Premierminister aus den selbstverwalteten dominions. Ein zeitgenössischer Film hat dieses Ereignis festgehalten; auf dessen flimmernden Bildern ist kaum zu erkennen, dass LondonLondon schier unterging in Fahnen, Girlanden und Scharen neugieriger Menschen, zurückgehalten von Soldaten mit hohen Pelzmützen. Militäreinheiten aus dem gesamten Empire paradierten zu Fuß oder auf Pferden durch die Straßen. Sie trugen farbenfrohe Uniformen, so das Kontingent der kanadischen Reiterpolizei ihre roten Waffenröcke und indische Regimenter die traditionelle Tracht ihrer Heimat. An der Spitze des Zuges fuhr die bald achtzigjährige KöniginVictoria I. in einer Pferdekutsche. Die Prozession hielt vor der Sankt-Pauls-Kathedrale, wo ein Gottesdienst unter freiem Himmel stattfand. Auch andernorts in England und nicht minder in den Kolonien wurde der Tag mit Reden und Feuerwerk festlich begangen. Das diamantene Jubiläum stellte die militärische Macht des Imperiums zur Schau und ebenso die Zuneigung vieler seiner Untertanen zu ihrer betagten Monarchin.1

Zeitgenössische Propagandisten und auch spätere Kommentatoren wurden und werden nicht müde, die Verdienste des Empire zu preisen, von denen Kolonisatoren und Kolonisierte profitiert hätten. Schriftsteller wie H. Rider HaggardHaggard, H. Rider verfassten aufregende Geschichten, so die Abenteuer des Allan Quartermain, die in Afrika spielten und nachmals Anregung für die Indiana-Jones-Filme liefern sollten. Journalisten, darunter der junge Winston ChurchillChurchill, Winston, schilderten anschaulich begeisternde Siege der Kolonialtruppen gegen in Überzahl kämpfende Derwische, ohne deren Abschlachtung moralisch bedenklich zu finden. Ein Jahrhundert später hat das dschihadistische Chaos dazu geführt, dass wieder die Vorteile der imperialen Ordnung erörtert werden: Verglichen mit dem Problemwirrwarr, den spätere Konflikte zwischen Religionen oder Nationalstaaten ausgelöst hätten, habe sie doch funktioniert. Der britische Historiker Niall FergusonFerguson, Niall erklärt deshalb, das Empire habe »weltweit den Wohlstand gefördert«, indem es den liberalen Kapitalismus, die englische Sprache, die parlamentarische Demokratie und die Ideen der Aufklärung in Schulen und Universitäten verbreitet habe. Er sieht darin eine Frühform dessen, was er anglobalization nennt (gemeint ist die Globalisierung mit Großbritannien und den USAVereinigte Staaten als treibenden Kräften, namentlich nach dem Zweiten Weltkrieg). Mit Verweis auf das segensreiche Walten des britischen Weltreichs schließt FergusonFerguson, Niall, das »Empire und seine Folgewirkungen« hätten »die moderne Welt so tiefgehend geformt, dass wir deren Beschaffenheit fast als selbstverständlich nehmen«.2

Andererseits mehrten sich im Laufe des Jahrhunderts die kritischen Stimmen; ja, Imperialismus avancierte zu einem der verhasstesten Begriffe im Wortschatz der Politik. Literaten beschrieben die Ausbeutung und den Rassismus, die Europa anderen Teilen der Welt angedeihen ließ, in packenden Geschichten, so Joseph ConradConrad, Joseph in seiner Novelle Heart of Darkness (dt. Herz der Finsternis). Kritiker wie John A. HobsonHobson, John A. attackierten den Kolonialismus, denn er habe »seinen Ursprung im selbstsüchtigen Interesse bestimmter Kreise der Industrie und Finanz sowie bestimmter Berufsgruppen, die privaten Profit aus einer Politik imperialer Expansion ziehen wollen«. Während des Ersten Weltkriegs meinte der Revolutionär Wladimir I. LeninLenin, Wladimir I., der Imperialismus sei »seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus«, und die Kette der imperialistischen Ausbeutung könne an ihrem schwächsten Glied zerbrochen werden, nämlich seiner Heimat Russland. Da sie dringend einer theoretischen Rechtfertigung bedurften, um die europäische Herrschaft zu stürzen, übernahmen viele antikolonialistische Intellektuelle diese Kritik an der imperialistischen Ausbeutung für ihre nationalen Befreiungskämpfe. Da sie unverändert missbilligen, wie Amerika im Kalten Krieg Diktaturen in der »Dritten Welt« unterstützte, geißeln viele postkoloniale Wissenschaftler nach wie vor die schändlichen Konsequenzen des imperialistischen Rassismus und der Unterdrückung durch die Weißen.3

Die Intensität und Langlebigkeit der normativen Debatte um den Imperialismus unterstreichen, wie zentral die Imperiumsidee für die moderne europäische Geschichte ist. Jahrhundertelang beherrschte das Streben nach ressourcenreichen Besitztümern in Übersee das Handeln der westlichen Staaten; mit ähnlichen Motiven suchten die östlichen Monarchien benachbarte Territorien zu erwerben. Viele der Rohstoffe, die Europas Industrien verbrauchten, kamen aus den Kolonien, während ihre Fertigprodukte in die vom Mutterland kontrollierten Kolonialmärkte exportiert wurden. Viele Europäer zeigten ein Bewusstsein der Überlegenheit über die sogenannten »Eingeborenen«, während wertvolle Objekte aus der imperialen Kultur die Salons der europäischen Elite zierten. Aufgrund dieser ungleichen Interaktion war das Phänomen Imperium in den Metropolenländern allgegenwärtig. Parallel dazu lernten die Nichteuropäer die Weißen zuerst in deren Eigenschaft als imperiale Ausbeuter, Händler, Missionare, Beamte oder Offiziere kennen. Welche Auffassung sie von den Europäern hatten und was sie ihnen gegenüber empfanden, war daher zutiefst durch ihre Erfahrungen mit imperialer Dominanz und ökonomischer Ausbeutung geprägt.4 An der Wende zum 20. Jahrhundert bestimmte der Imperialismus nicht nur Europas Herrschaft über die Welt, sondern auch die Reaktion der Welt auf Europa.

Modernisierung war gleichermaßen Ursache wie Ergebnis des imperialen Projekts und eng mit ihm verbunden, wobei sich deutlich die Ambivalenz ihrer Dynamik zeigte. Einerseits beruhte die militärische Überlegenheit der Europäer über die einheimischen Völker auf dem technologischen Vorsprung in Waffen und Organisation, den ihnen die Moderne ermöglichte. Die Rastlosigkeit, neue Gebiete zu erforschen; die Gier, die Risikobereitschaft stimulierte; der Individualismus, der zur Auswanderung ermutigte; der Rechtsstaat, der Vertragstreue erzwingbar machte – all dies war zutiefst modern. Andererseits prägte die imperiale Unterdrückung die kolonisierten Gesellschaften; dabei verbreitete sich eine ausbeuterische Form der Modernisierung durch Gewalt oder Überzeugung auf dem ganzen Globus. Indem sie Plantagen, Handelshäuser, Regierungsapparate und Militärkasernen schufen, aber eben auch Schulen, Kliniken und Kirchen bauten, zerstörten die Imperialisten traditionelle Lebensmuster. Während die imperiale Inbesitznahme die Arroganzgefühle der Europäer und ihr Fortschrittsvertrauen verstärkte, zwang sie den Kolonisierten eine seltsame Mischung aus Unterdrückung und Verbesserung auf. Es ist daher von essentieller Wichtigkeit, die zutiefst problematische Verbindung zwischen Imperium und Moderne zu erkennen.5