Loe raamatut: «Ohne Obdach», lehekülg 2

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In meinem Zimmer treffe ich auf einen großen bärtigen Mann. Er war wohl die letzten zwei Wochen unter sehr schwierigen Umständen unterwegs, bis er hier landete. Jetzt stinkt das Zimmer extrem nach irgendeinem Deo. Nachts wird es unruhig. Noch ein Neuer kommt. Xavier und der Mitarbeiter vom Nachtdienst bringen ihn rein. Er telefoniert eine ganze Weile mit seinem Handy unter der Bettdecke. Am Morgen erfahre ich, dass seine Frau ihn nicht rein gelassen hat, weil er betrunken war. Er ist so schnell wieder fort, wie er gekommen ist. Wo mag Abdullah geblieben sein? Warum ist er so überstürzt abgereist?

Übersehen werden

Um sieben Uhr werde ich wach. Es ist Samstag und arbeitsfrei. Ich will nach Galliac, in der Hoffnung, dass es dort sowohl mit dem Internet als auch mit dem Betteln besser klappt. Ich will trampen. Gleich das erste Auto hält, ein freundlicher Mann nimmt mich mit seinem ziemlich klapprigen Gefährt mit und bringt mich bis dicht ans Stadtzentrum. Da gibt es eine alte Abteikirche. Sie ist offen. Ich nehme mir Zeit für die Stille. Dann spiele ich eine Stunde vor der Tür Mundharmonika. Es kommen nur wenige Leute, niemand gibt etwas. In der Stadt finde ich eine Mediathek, zu der eine Cyberbasis gehört. Dort kann man ins Internet. Ich frage und darf gratis an einen Computer. Ich finde eine Nachricht von G. vor, die sehr erleichtert ist und kann ein Lebenszeichen versenden. Besser läuft es mit dem Mundharmonikaspiel dann vor einem kleinen Supermarkt. Ich spiele wieder Volkslieder, die ich als Kind im Posaunenchor gelernt habe und Choräle, eben meine Musik. Darin bin ich authentisch. Gern könnte ich mehr und anderes, wünschte mir die Fähigkeit, bekannte Melodien aufzugreifen, zu improvisieren. Aber ich kann das nicht. Ich komme auf fast vier Euro, bis ich von einem Verkäufer vertrieben werde. „Bonne chance!“12 wünscht er mir. Es ist sicher nicht böse gemeint, aber es ist mir dennoch irgendwie ein Hohn, da er mich gerade von meiner winzigen Einkommensquelle abschneidet. Oder musste er mich vertreiben und meint es ernst?

Eigentlich bin ich zufrieden. Wenn ich übermorgen bis Toulouse trampen würde, reicht es vielleicht für die Fahrt durch die Stadt bis in den Vorort. Ich probiere es um 14 Uhr noch einmal vor der Abteikirche, vergeblich. Nun stehe ich in einer Einkaufsstraße an einer anderen Kirche. Es kommen immer mal ein paar Menschen die Straße entlang. Aber sie schauen über mich hinweg bzw. an mir vorbei, selbst jene, die die Kirche betreten. Ich werde die nächsten Stunden hier bleiben. Ein Aushang informiert, dass es eine Abendmesse gibt. Mal sehen, was da passiert. Es ist weiterhin ungemütlich kalt. Die Leuchtschrift an der Apotheke gegenüber behauptet es seien sechseinhalb Grad. Es wird 17.30 Uhr, nur noch eine Stunde bis zur Messe, sechs Grad, ich friere. Dann geht es los, eine Gruppe Farbiger kommt an, fröhlich mit diversen Instrumenten. Nach und nach strömen immer mehr Leute herbei, Halbwüchsige in Pfadfinderuniformen und viele Erwachsene. Eine Münze wird mir in die Kappe getan. Fast alle sehen über mich hinweg. Zwei Frauen grüßen mich. Eine Frau ruft mich zu sich und bittet, dass ich sie die Treppe hoch begleite, dann lässt sie mich stehen. Ich glaube, das Schlimmste ist, immer wieder übersehen zu werden. Dass fast alle mir nichts geben wollen, finde ich nicht so tragisch. Doch dieses Über-einen-Hinweg-sehen, das ist schwierig. Du bist nichts. Du bist nicht. Mit den letzten Ankommenden gehe ich in die Kirche und besuche die Messe. Fröhlich geht es zu mit lebhafter Musik. Die Kollektenschale kommt. Mein erster Impuls ist, in meine Mütze zu greifen und die erste Münze zu nehmen, die ich in die Hand bekomme. Ich bin richtig erleichtert, dass es nur ein Zwanzig-Cent-Stück ist. Dann der nächste Gedanke: Leere deine Mütze in den Korb. Heute brauchst du nichts mehr! Das ist zu viel. Das bringe ich nicht übers Herz, bzw. durch die Hände. Das so mühsam gesammelte Geld! Da fällt es mir schwer zu vertrauen, dass der morgige Tag wieder für das Seine sorgen wird. Es wird nochmals gesammelt. Da gebe ich mir einen Ruck und schütte die Mütze in den Korb. Aber es hat nicht mehr die Kraft, wie beim ersten Anlauf. Beim Friedensgruß während der Eucharistie reichen mir die Umstehenden die Hand. Sie alle werden am Ausgang wieder an mir vorbei gehen, ohne mich zu sehen. Nur eine junge Frau gibt mir einen Euro. Es ist die größte Münze, die ich an diesem Tag bekommen habe. Ein paar Münzen waren noch in der Jackentasche. Mir bleiben drei Euro. Es ist kalt und dunkel. Ich muss nach Lisle-sur-Tarn zurück. Ich entscheide mich zu laufen, um die Zugfahrkarte im Wert von 2,20 Euro zu sparen. Es sind gut zehn Kilometer. Auf dem Weg aus der Stadt kommt plötzlich ein Mann auf mich zu und spricht mich an. Es ist ein Hüne. Ich verstehe nicht, was er von mir will. Ich habe Angst und beeile mich, fort zu kommen. Ich glaube, er wollte Geld. Doch meinen geringen Schatz will ich nicht teilen, habe ihn ja gerade erst dem nicht genommenen Zug abgetrotzt.

Solange ich durch den Vorort und das Industriegebiet von Gaillac laufe, versuche ich Autos zu stoppen. Aber wer hält schon gern im Dunkeln an! Nach dem letzten Kreisverkehr schluckt mich die Finsternis. Ich laufe auf der linken Seite. Eines der entgegenkommenden Autos wendet und hält mit Warnblinklicht an. Der Mann sagt mir etwas vom Relais in Lisle-sur-Tarn und gibt mir eine Warnweste und eine kleine Dynamotaschenlampe und schon ist er wieder weg. Das berührt mich. Ich brauche zwei Stunden von der Kirche bis nach Hause. In mir ist die Erfahrung des Übersehenwerdens. Ich kann mir gut vorstellen, dass das eines der wesentlichen Probleme ist. Wie bin ich denn früher selbst in Berlin unterwegs gewesen? Mir fällt ein Penner in der S-Bahn ein, den man zwar übersehen konnte, aber überriechen ging nicht. Ich habe damals einen weiten Bogen um ihn gemacht. Wie werde ich wohl später, nach dieser Zeit, anderen Obdachlosen begegnen?

Sonntag. Ich will in die Messe, aber ohne vor der Tür zu betteln. Ich bin frühzeitig da. Die alte Dame aus dem Pfarrhaus winkt mich zu sich ran und spannt mich ein beim Einräumen und bittet um Hilfe, die völlig verkorksten Altarkerzen in Gang zu bringen. Sie hatte mit dem Dorn des Leuchters versehentlich eine Kerze auseinander gesprengt. Ich tue, was ich kann. Die Reparatur gelingt notdürftig. Im Gottesdienst wendet sich der alte Priester den Erstkommunionkindern zu. Er geht mit den Kindern sehr warmherzig und freundlich um. Sie werden gesegnet. Nach dem Gottesdienst ist eine Taufe. Es gibt eine kleine Extrafeier, an der über die große Taufgesellschaft hinaus keiner teilnimmt. Ich bleibe – etwas abseits. Als alle gegangen sind, gehe ich zum Priester und erkläre ihm, dass ich im Relais wohne, aber morgen nach Toulouse wolle. Mir würden sieben Euro für die Fahrkarte fehlen, ob er mir helfen könne. Er wirkt hart, ganz anders als den Kindern gegenüber. Die Warmherzigkeit ist wie weggeblasen, aber er greift in die Kollektenschale und gibt mir zehn Euro. Ich will ihm mein Kleingeld dafür geben. Er lehnt das ab. Beim Verlassen der Kirche werfe ich das Geld, das ich nicht brauche, in den Opferstock und hoffe, dass das keine Kränkung war. Mir fällt der Mutter-Teresa-Spruch an seiner Bürotür ein. Aber werde ich immer den Ansprüchen, die ich an mich selber habe, gerecht? Und ich will auch gar nicht, dass er Christus in mir sucht und mir deshalb hilft. Doch ich möchte von ihm als Mensch gesehen werden.

Was ist mit dem Vertrauen, dass jeder Tag für sich sorgen werde? Das scheint ja ein wesentliches Thema des Weges zu sein. Passt es dazu, dass ich heute schon für die Fahrkarte, die ich morgen brauche, gesorgt habe? Dazu habe ich – wenn auch nicht sehr herzlich – mehr bekommen, als ich brauchte. So werde ich gleich morgen früh nach dem Frühstück den Zug nehmen können. Auf dem Weg zum Relais treffe ich einen älteren Herrn, der offenbar in dieser Straße wohnt. Er hat mich vor ein paar Tagen angesprochen. Wir haben mühsam einige Worte gewechselt. Er hat sehr freundlich auf meine Auskunft reagiert, dass ich zurzeit im Relais wohne. Heute nickt er mir zu. Ich bin SDF und dazu noch Deutscher, es macht ihm offenbar nichts aus. Das ist die Freundlichkeit, die ich mir von dem Priester gewünscht hätte. In der Begegnung mit Obdachlosen braucht es wohl die richtige Mischung: Wahrnehmen und offen sein und zugleich keine bohrenden Fragen stellen.

Für den Sonntagnachmittag ist ein Ausflug geplant. Wir mussten uns vorher schon entscheiden, ob wir mitkommen. Ich sage zu. Das Haus wird für die Zeit geschlossen. Alle Fensterläden werden zugemacht. Ob das hier nötig ist? Wir fahren in einem Kleinbus des Hauses, begleitet von einem älteren Herrn, nach Galliac. Das Abteimuseum dürfen wir kostenlos besichtigen und spazieren nachher noch durch einen sehr schönen Park. Am Abend kommt wieder ein Neuer in unser Zimmer. Er wirkt wie ein braver Familienvater, sitzt da und löst Sudokus. Er und der andere Mitbewohner unterhalten sich über die Qualität der Unterkünfte. Dieses Relais kommt bei dem, der den Tag zuvor gekommen war, ziemlich schlecht weg wegen der „jungen Leute“. Er ist lange schon ohne festen Wohnsitz, was ihm äußerlich nicht anzusehen ist. Er erzählt von Emmaus, den Einrichtungen der Fondation Abbé Pierre13: Einzelzimmer, Privatsphäre und fünfzehn Euro in der Woche Taschengeld. Dann zeigt er einen Steckschlüssel, den er einem Eisenbahner mal weggenommen habe. Damit öffne er sich auf Abstellgleisen alte Bahnwaggons, um darin zu schlafen.

In der Nacht schließt der Neue unser Zimmer von innen ab. Ich habe zu tun, es im Dunkeln aufzubekommen, als ich auf die Toilette muss.

Es gibt immer noch Nachtfrost. Gut, dass ich nicht unter irgendeiner Brücke schlafen muss. Am Morgen um 6 Uhr klingelt Frank, seine Aussperrung ist abgelaufen, er darf zurück ins Haus.

Ich frühstücke noch und verabschiede mich bei der Hausmutter. Von den Sozialarbeitern ist noch keiner da. Ich richte einen Gruß aus und will einfach nur nach Hause. Für die Mitarbeitenden bin ich ein Durchreisender gewesen wie sicher viele, die auftauchen und von denen man später nichts mehr hört. Es waren nur wenige Tage. Ich bin voller Eindrücke, als hätte ich eine lange Reise hinter mir.

Vom Bahnhof aus laufe ich zu Fuß. Am Ortsausgang hält eine Frau an und nimmt mich mit. G. ist überrascht. Sie hat noch nicht mit mir gerechnet. Etwas Fremdes ist in der Luft. Es braucht mehr als einen Tag, bis sich das legt.

Deutschland – Erfahrungen als Durchreisender

Ich bin in meinem Heimatland Brandenburg und breche von hier aus auf, um durch Deutschland zu ziehen. Mit einem Wochenendticket in der Tasche sitze ich im Zug und will bis Hof kommen. Genau kann ich nicht sagen, was mich dorthin zieht. Ich kenne diese Stadt nicht, war noch nie dort. Mit Hof verbinde ich allenfalls einige interessante Predigten, die ich immer wieder von einem dortigen Pfarrkollegen im Internet fand. Andreas, ein Freund, hat mich am Morgen zum Bahnhof gebracht. Die restlichen Scheine, die ich im Portemonnaie hatte, habe ich ihm in die Hand gedrückt. Er ist auf dem Weg zum Gottesdienst. Er soll sie in die Kollekte legen. Ich will wieder nur mit ein paar Münzen auf den Weg gehen und hoffe, dass mir das Vertrauen gelingt, dass jeder Tag für das Seine sorgt. Gut verwahrt im Rucksack ist noch ein Bahnticket von Stuttgart nach Toulouse für die geplante zweite Unterbrechung dieser besonderen Zeit. Außer diesem Fixpunkt gibt es keinen Plan. Eine Erwägung war auch, in dieser Zeit quer durch beide Länder zu ziehen. Doch ich habe sie verworfen und die Rückfahrt organisiert, um nicht in den nächsten vier Wochen unter dem Druck zu stehen, soundso viele Kilometer am Tag schaffen zu müssen, um zur verabredeten Zeit zu Hause zu sein. Angesichts der Erfahrungen meiner ersten Etappe habe ich mein Handy in der Tasche. So kann ich mal ein Lebenszeichen absetzen, falls ich nirgendwo ins Internet komme.

Hof hat eine Bahnhofsmission. Ich nehme sie wahr, will aber erst mal in die Stadt. Die große Kirche zieht mich an, sie ist katholisch. Eine Passionsandacht wird angeboten. Sie wird runter gelesen, nichts spricht mich an. Bin ich überheblich in meinem Urteil? Eine Messe schließt sich an. Die Predigt ist lebensfern. Ich schweife ab. Hänge mit meinen Gedanken in vergangenen Lebensphasen zwischen Rechtfertigung und Selbstvorwürfen. Ob ich mir irgendwann verzeihen kann? Ob es mir gelingt, den ganzen Kram mal loszulassen? Die Orgel spült die überwiegend aus älteren Leuten bestehende Gemeinde hinaus. Ich frage in der Kirche nach der Notunterkunft. Der Messdiener ist bereit, mich hinzufahren. Es ist ein erwachsener Mann. Ich dachte immer, diese Aufgabe übernähmen nur Kinder und Jugendliche. Er kann sich gar nicht vorstellen, dass man ohne Wohnung leben kann. Dann will er wissen, ob ich denn ab und zu zur Kirche gehe. Ja, antworte ich.

In der Notübernachtung des örtlichen Diakonischen Werkes informiert man mich, dass ich als „Selbstzahler“ übernachten dürfe. Das kostet 6,20 Euro – mit Frühstück mehr. Mit einem Übernachtungsschein der Bundespolizei sei es aber für eine Nacht umsonst. Wenn ich länger bleiben wolle, müsse ich selbst zahlen oder mich um einen Kostenträger wie das Sozialamt bemühen. Zwei Euro sind noch in meiner Tasche, also los zur Dienststelle der Polizei im Bahnhof. Dort stellt man fest, dass mein Ausweis auf der Fahndungsliste steht, o Schreck! Mir waren vor einigen Monaten in Stuttgart alle Papiere gestohlen worden. Nach längerer Zeit kam mein Ausweis zurück. Die dortige Polizei hat offenbar vergessen, ihn aus der Fahndung zu nehmen. Zum Glück glaubt man mir, dass ich identisch bin mit der Person, die die Plastikkarte beschreibt. Sie löschen den Vermerk in ihrem Computersystem. Hoffentlich wissen das die künftigen Computer auch, denn in Deutschland läuft ohne Ausweis nichts, wenn man auch nur die geringste Hilfe in Anspruch nehmen will, wie ich in den nächsten Wochen erfahren werde.

In der Notübernachtung hat ein Zivi Bereitschaftsdienst. Ich bekomme eine Tütensuppe warm gemacht und eine alte Scheibe Graubrot dazu. Das Zimmer hat zwei Doppelstockbetten und eine Sanitärzelle. Trotz des Rauchverbots riecht es verraucht. Auf den ersten Blick sind die Betten sauber, doch mit dem zweiten sehe ich allerhand kleine schwarze Krümel. Ein Laken ist total zerlöchert. Es ist wohl besser, meinen leichten Schlafsack zu nehmen. Ganz angenehm ist das nicht, aber ich habe ein Dach über dem Kopf und die Möglichkeit zur Körperpflege. Für den Moment bin ich ganz froh, allein hier schlafen zu dürfen, obwohl ich ja auch das Milieu kennenlernen und mit Betroffenen in Kontakt kommen will.

Morgen will ich weiter nach Süden, denn der Weg zum Sozialamt ist für mich verschlossen. Eine Fahrkarte nach Nürnberg kostet zwanzig Euro. Ich muss an Geld kommen oder trampen, mal sehen wie das Wetter ist.

Der Morgen fühlt sich depressiv an. Ich hasse diesen grauen Schleier, der sich immer wieder auf meine Seele legt. Ich erbitte das mir zugesagte Frühstück. Eine Frau hat Dienst. Sie kontrolliert erst das Dienstbuch, ob mir wirklich ein Frühstück zusteht. Dann gibt es Nescafé, zwei Scheiben von dem alten Brot von gestern Abend, Butter und eine Marmelade. Höflichkeit ist im Raum, aber keine Freundlichkeit, Wärme schon gar nicht. Auf in die Stadt. Die evangelische Lorenzkirche, an der ich zufällig vorbei komme, ist zu. Der Mann, der das Grundstück pflegt, vertröstet mich auf morgen. Dann nehme ich mir eine stille Zeit halt in der katholischen Kirche. Wo finde ich nur diese Hospitalkirche, wo diese ansprechenden Predigten her kamen? Ob ich den Pfarrer mal sehen kann? Wer sucht, der findet. Doch auch diese Tür ist zu. Ein freundlicher Orgellehrer und seine Schülerin lassen mich schließlich ein.

Später in der Stadt setze ich mich an eine Bushaltestelle und beginne Mundharmonika zu spielen. Eine junge Frau kommt aus einem Fotogeschäft und fragt, ob sie mich fotografieren darf. Ich stimme zu. Auf Nachfrage erzählt sie, dass sie Praktikantin sei und eine Präsentationsmappe erarbeite. Sie sammle Gesichter besonderer Menschen. Eigentlich könnte sie mir ja was geben, denke ich. Doch in mir zögert etwas, sie zu fragen. Schließlich ist sie Praktikantin und hat sicher kein wesentliches Einkommen.

Mit der Mundharmonika und meiner Mütze neben mir bettelt es sich viel leichter, als einfach nur so. Ich habe das Gefühl, auch etwas zu geben. „Haben Sie heute schon etwas gegessen?“ Vor mir steht eine freundliche Frau. „Hier, für eine Mittagsmahlzeit!“ In der Mütze liegen fünf Euro. Ich bin sprachlos und voll Freude.

Am Vormittag hatte mein Restbestand von zwei Euro mich gerettet. Ich musste dringend auf die Toilette. Doch die öffentliche öffnete ihre Tür nur gegen 50 Cent. Das gehört zu den Problemen, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Wo geht man als Obdachloser am Tag aufs Klo? So mancher McDonald‘s hat Drehkreuze vor den Toiletten eingeführt. Später komme ich auf eine geniale Lösung. Man muss nur in einem Bahnhof nach einem bereitgestellten Zug schauen, dessen Abfahrzeit noch nicht ran ist …

Das Bettelgeschäft läuft schlecht. Ich wechsle den Platz. Innerhalb der nächsten zwei Stunden werde ich übersehen, überhört, bis mir eine Frau 70 Cent gibt. Spiele ich so schlecht? Na ja, ich habe keine Hits drauf oder Evergreens und so. So komme ich jedenfalls nicht weiter. Ich gehe in eine Buchhandlung, schmökere ein wenig und falte regionale Landkarten auseinander, um für mich eine Richtung zu finden. Dann ist es da: ich will Richtung Bayreuth/Erlangen aufbrechen – heute halt zu Fuß die Saale entlang. Mit einem Brot aus dem Backshop im Rucksack laufe ich los auf einem Uferwanderweg und bin voller Erinnerungen an einen gemeinsamen Urlaub in Thüringen, in dem wir zu zweit an der Saale entlang geradelt sind.

Mein Blick hat sich verändert. Ich scanne die Landschaft und Grundstücke, wo mein nächster Schlafplatz sein könnte – dort eine Nische unter einer Brücke, da ein verfallener Hof und im Ortseingang von Schwarzenbach ein parkartiges Gelände, das einen Unterstand hat. Am Ortseingang ist ein Pflegeheim der Diakonie, im Ortszentrum neben der Kirche ein sehr schön restaurierter alter Pfarrhof. Mein Weg führt zum Bahnhof, um zu sehen, wie ich unter Umständen weiter kommen könnte. Dann zum EDEKA-Markt. Ich setze mich vor die Tür und spiele auf der Mundharmonika. Was dann los geht, ist überwältigend. In meiner Mütze sammeln sich so viele Münzen, wie ich es bisher noch nicht erlebt habe. Auch Jugendliche sind unter den Gebenden. Eine Frau schenkt mir dazu eine Brezel. Auf der anderen Seite des Eingangs arbeitet in einem Dönerwagen ein junger Türke. „Haben Sie Hunger?“ Er macht mir einen Döner. Die Bierdose lehne ich freundlich ab, habe mein Wasser dabei. Er fragt, ob ich Kinder hätte. „Ja, vier, aber die sind alle schon groß.“ Das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Das gäbe es bei uns nicht! Da kümmern sich die Kinder um die Eltern, wenn sie in Schwierigkeiten sind! Kein Sohn würde seinen Vater auf der Straße sitzen lassen!“ Ich muss ihn beruhigen, so entrüstet ist er und ich versuche, ihm klar zu machen, dass das für mich im Moment in Ordnung ist.

Eine Grundfrage tat sich hier auf. Wie antworte ich auf Fragen, ohne Geschichten zu erfinden? Wie kann ich authentisch sein, ohne mich zu outen? Wie werde ich der Situation und den schwierigen Erfahrungen anderer Obdachloser gerecht, da ich doch jederzeit meinen Weg abbrechen kann? So einfach kann ich nicht sagen: „Ich bin obdachlos“. Das wäre für mich irgendwie ein Hohn gegenüber den tatsächlich Betroffenen. Stattdessen sage ich: „Zur Zeit lebe ich ohne Obdach“ oder „Im Moment lebe ich auf der Straße“. Der Unterschied ist wohl kaum zu hören. Aber für mich ist es stimmig. Wenn ich nach meiner Herkunft gefragt werde, antworte ich wahrheitsgemäß, dass ich mal Krankenpfleger war, gegenwärtig ohne Arbeit sei und eine Scheidung hinter mir habe.“ Dann hat kaum einer weiter gefragt. Sie reimen sich ihre Geschichten zusammen. Ich werde bald merken, dass das alle auf der Straße ähnlich machen. Wenn einer nicht erzählt, dringt man auch nicht weiter in ihn ein und denkt sich eben seinen Teil.

Meine Mütze hat sich gefüllt. Der Markt schließt bald. Gegenüber steht ein altes Haus mit toten Fensteraugen. Da müsste ich zur Not schlafen können. Doch zuerst will ich es beim Pfarrer versuchen, denn es ist ziemlich kalt. Ich atme auf, denn die Fenster sind erleuchtet. Es ist jemand da. Schmeckensbecher steht auf dem Schild an der Klingel. Auf das Läuten hin öffnet sich oben ein Fenster, ein Mann schaut herunter. Ob man hier als Durchreisender ein Nachtquartier finden könne? “Ja, kein Problem, ich komme runter.“ Er erscheint mit dem Schlüssel zum Gemeindehaus, fragt auch, ob ich etwas zu essen brauche. Das Haus ist frisch renoviert. Er entschuldigt sich fast, dass es keine Matratze dort gibt. Die müsse man sich mal beschaffen. Deshalb bietet er mir an, auf den Tischen zu schlafen, falls mir der Boden zu kalt sei. Er würde noch den Küster anrufen, dass der am Morgen nicht erschrickt. Ich habe es warm und trocken und habe eine Toilette. Besser kann es nicht kommen. Ich biete ihm als Dankeschön Arbeit an. Das lehnt er ab. „Das wäre ja Ausnutzung einer Notlage.“ Er gibt mir einen Schlüssel, damit ich mich sicher fühlen kann. In meiner Mütze zähle ich gut achtzehn Euro, welch ein Schatz!

Jetzt bin ich sicher, dass ich als nächstes nach Bayreuth will. An der Stadt bin ich immer nur vorbei gefahren. Das klingt so interessant. Da liegt etwas Fremdes drin und irgendwie auch Musik. Ob es dort eine Notunterkunft gibt? Es ist sicher gut, aus der Nische des dörflichen Umfeldes hinauszugehen in den städtischen Bereich.

Damit sie sich nicht zu sehr beunruhigt, schicke ich G. eine SMS. Plötzlich finde ich mich wieder als jemand, der sehnsüchtig auf Antwort wartet und damit geht es mir nicht sonderlich gut. Mist, vielleicht war die Idee, das Handy mitzunehmen, doch nicht so gut.

Am nächsten Morgen stehe ich um sieben Uhr auf, es ist warm. Gestern Abend hat irgendwas mit der Heizung nicht geklappt. Als ich um acht aufbrechen will, kommt Pfarrer Schmeckensbecher mit Kaffee und Obst. Er erzählt von der schönen Umgebung des Fichtelgebirges. Ich entschließe mich, mir Zeit zu nehmen, um etwas davon zu sehen. Das Beste ist, ein Stück zu trampen und dann einen der Berge zu besteigen. Doch an der Landstraße, die aus dem Ort führt, habe ich kein Glück. Als nach einer Stunde niemand angehalten hat, gebe ich auf. So laufe ich ins Zentrum zum Bahnhof, dann geht es eben mit dem Erlös vom gestrigen Abend ohne Ausflug in die Natur gleich mit dem Zug weiter.

Tasuta katkend on lõppenud.

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