Loe raamatut: «Ten Mile Bottom», lehekülg 2

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Kapitel 3

In der nächsten Woche kam mich meine Mutter jeden Tag besuchen. Sie setzte sich neben mich, fragte mich, wie es mir ging, und erzählte von ihrem Tag, dass die Nachbarn einen Welpen hatten, von der neuen Auswahl an Fusion-Salaten in ihrem Lieblingsrestaurant und dem Wetter. Sie versuchte nicht erneut, mich als selbstsüchtigen Mistkerl zu beschimpfen, aber ich wusste nicht, ob es daran lag, dass Renee sie zurechtgewiesen hatte, oder weil sie Gewissensbisse hatte, da sie ihren Sohn angegriffen hatte, der hilflos auf der Intensivstation lag.

Aber es lag in ihren Augen. Jedes Mal, wenn ich sie ansah, konnte ich es sehen. Die Anschuldigung. Die Enttäuschung. Das Bedauern. Ich versuchte, ihren Blick so oft es ging zu meiden, zwang mich, höflich zu nicken, wenn sie redete und mir jeden Tag zum Abschluss von ihr die Hand tätscheln zu lassen. Und die ganze Zeit über wünschte ich, sie würde sich nicht die Mühe machen, zu kommen.

Die Sache war, dass sie es nicht tat, weil sie sich so um mich sorgte. Sie tat es, weil sie schlecht dastehen würde, wenn sie es nicht täte. Was würden die Krankenhausmitarbeiter denken? Und ihre Freunde? Was würde sie den Nachbarn sagen, wenn sie nach mir fragten?

Sie kam aus Pflichtgefühl. Wenn meine Mutter etwas über alle Maßen hasste, dann, mit einem schlechten Gewissen ins Bett zu gehen.

Renee kündigte sich mit einem leisen Klopfen an, ehe sie hereinkam und sich neben das Bett setzte. Ein paar Strähnen ihrer blonden und mit türkisen Strähnen durchzogenen Haare hatten sich aus dem lockeren Pferdeschwanz gelöst, den sie sich wahrscheinlich in Eile gebunden hatte, aber in ihren blauen Augen lag ein Funkeln, das ich seit einer Weile nicht mehr gesehen hatte. Unsere Gesichtszüge waren sich so ähnlich – breiter Mund und strahlendes Lächeln, rundes Gesicht, kleine Nase und markantes Kinn. Aber während ich die dunklen, dichten, welligen Haare und die fast schwarzen Augen unseres Vaters geerbt hatte, war Renee mit ihren glatten blonden Haaren, den blauen Augen und der blassen Haut, die beinahe durchscheinend war, eine Kopie unserer Mutter.

Doch als ich sie ansah, konnte ich nicht umhin zu denken, dass wir nicht verschiedener hätten sein können. Renee hatte immer eine reine, aufrichtig gute Seele gehabt, von der ich nicht einmal träumen konnte, und sie zeigte sich in ihrem ganzen Verhalten.

»Hast du mit ihnen gesprochen?«, fragte ich hoffnungsvoll. Ich hatte sie gebeten, ihr entwaffnendstes Lächeln zu benutzen, um mich so schnell wie möglich hier raus zu bekommen

»Ja«, sagte sie und schenkte mir dieses entwaffnende Lächeln. Zu schade, dass ich es zu oft gesehen hatte und immun dagegen war. »Doktor Bailey kommt nachher, um dich zu untersuchen und wenn er zufrieden ist, unterschreibt er die Entlassungspapiere und dann kannst du gehen.«

»Gott sei Dank«, murmelte ich und schmiegte mich tiefer in die Kissen. Ich schloss die Augen und stellte mir bereits meine kommende Freiheit vor.

Ich hatte es satt, eine scheinbare Ewigkeit wie ein Invalide behandelt zu werden. Eigentlich war es nur etwas mehr als eine Woche, seit ich von der Intensivstation verlegt worden war, aber ich ging bereits die Wände hoch.

»Hast du Aiden erreicht?«, fragte ich.

Die lange Pause sorgte dafür, dass ich ein Auge öffnete und sie ansah.

»Ja«, sagte sie schließlich.

»Und?«

Sie biss sich auf die Lippen, wandte den Blick ab und kämpfte offensichtlich mit ihrem Instinkt, mir die Wahrheit zu sagen.

»Renee?«

Sie seufzte. »Er wird es dir selbst sagen.«

»Und wann soll das sein?« Ich wurde mit jeder Sekunde genervter. Aiden, mein sogenannter bester Freund, hatte mich noch nicht einmal besucht. Er hatte weder geschrieben noch angerufen oder auch nur einen Raben mit einer verfickten Nachricht geschickt. Seit wir uns in der Schule kennengelernt hatten, waren wir unzertrennlich und trotzdem hatte er keinen Bock, sich nach mir zu erkundigen, wenn ich in einem verfickten Krankenhaus war.

»Nach dem Entzug.«

Super.

Es wäre nicht mein erstes Mal, also wusste ich, was ich zu erwarten hatte, und trotzdem hasste ich die Vorstellung daran, es wieder zu tun. Jeden Morgen geweckt werden, Meditation, biologisch angebautes, unverarbeitetes Essen, über Gefühle sprechen… Keines dieser Dinge sprach mich irgendwie an. Aber leider gab es keinen Weg drum herum.

»Da wir gerade davon sprechen«, sagte Renee und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Mum und ich haben darüber gesprochen und wir möchten, dass du dieses Mal in eine andere Entzugsklinik gehst.«

Ich funkelte sie wütend an, aber sie ignorierte mich.

»Oh?« Ich legte so viel Gift wie möglich in diese einzelne Silbe.

»Für dich ist das vielleicht ein Witz, Finn, aber für mich nicht«, sagte Renee und richtete ihren stählernen Blick auf mich. Ihre Stimme schwankte nicht, als sie sprach, aber in ihren Augen schimmerten Tränen. »Du gehst den Entzug wie einen Erholungsurlaub an und wenn du wiederkommst, hat sich nichts verändert. Du musst das ernst nehmen.«

»Das tue ich!«

»Tust du nicht! Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat! Ich werde meinen Bruder nicht verlieren, weil er zu dumm und zu stur ist, um auf sich aufzupassen!«

Sie stand auf, ihre Brust hob und senkte sich schwer und sie ging zum Fenster. Schweigen breitete sich im Raum aus, während sie nach draußen starrte und ich mich auf die Kissen sinken ließ und sie beobachtete.

Was sollte ich sagen? Sollte ich ein Versprechen machen, das ich ganz sicher nicht halten würde? Ich liebte Renee mehr als irgendjemanden sonst und hasste es, sie so aufgewühlt zu sehen, aber ich konnte ihr nicht versprechen, dass ich nie wieder Alkohol trinken oder Drogen nehmen würde. Scheiße, wenn sie mich nicht regelmäßig mit Schmerzmitteln vollpumpen würden, würde ich mich jetzt nach einer Dröhnung sehnen.

Ich war ein armseliges Exemplar von einem Menschen und wir beide wussten es. Und trotzdem, aus einem bizarren Grund liebte sie mich noch immer.

Als sie sich umdrehte, waren ihre Augen gerötet, aber sie weinte nicht. Sie wedelte hilflos mit den Händen, während sie versuchte, die Worte zu finden, die ich hören musste.

»Du hast auf dem dreckigen Fußboden einer Nachtclub-Toilette eine Überdosis genommen und dein Herz ist auf dem Weg zum Krankenhaus stehen geblieben. Du bist gestorben, Finn«, sagte sie und der Kummer auf ihrem Gesicht ließ mich zusammenzucken.

»Was?«

»Du. Bist. Gestorben«, wiederholte sie und trat ans Bett heran. »Sie haben gesagt, dass du einen Herzstillstand hattest, als die Sanitäter kamen, und sie dich wiederbeleben mussten. Sie haben dich auf dem Weg zum Krankenhaus kaum am Leben halten können.«

Ich war zu geschockt, um etwas zu sagen, und mental und körperlich zu müde, um einen Sinn darin zu erkennen. Glücklicherweise hatte sie Mitleid mit mir und ging nicht weiter ins Detail.

»Bitte, Finn«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Versuch es. Für mich.«

Ich konnte nicht Nein sagen.

Kapitel 4

Die Entzugsklinik, die Renee und Mutter für mich ausgesucht hatten, war eher ein mittelalterliches Kloster als eine moderne Einrichtung, die sich um die Reichen und Rücksichtslosen kümmerte.

Jedes Mal, wenn ich mein Zimmer verließ, erwartete ich, eine Nonne hinter mir zu hören, die eine Glocke schlug und Schande rief, bis ich all meine Sünden gestand. Ich hatte der Psychiaterin den Witz erzählt, aber sie hatte ihn nicht verstanden. Genauso wenig wie irgendeine andere Anspielung auf Game of Thrones. In der zweiten Woche gab ich es auf, sie zum Lächeln bringen zu wollen. Am Ende der dritten Woche war ich nicht sicher, ob ihre Gesichtsmuskeln überhaupt in der Lage waren, ein Lächeln zu formen. Ich hatte auf Doktor Sheltons Gesicht noch nie einen anderen Ausdruck gesehen als die sorgsam aufrechterhaltene, hochprofessionelle, ausdruckslose Maske.

Es war beschissen, dass es mir etwas ausmachte. Der Entzug machte mich noch nervöser als sonst. Alle anderen Patienten in diesem Höllenloch hielten Abstand zu mir, weil ich alle finster anstarrte, die Blickkontakt zu mir suchten. Man konnte mit Sicherheit sagen, dass die Gruppentherapie- und Meditationssessions nicht so gut liefen und ich wurde dazu verbannt, allein zu meditieren – mit Doktor Sheltons persönlicher Empfehlung.

Als würde es mein Verlangen ersticken, das flüchtige Glück zu spüren, wenn die Drogen meine Sinne betäubten, und meine Gedanken zum Schweigen zu bringen, wenn ich eine Wand anstarrte und so tat, als würde ich meinen Kopf leeren und mich nur auf den Moment konzentrieren.

Nachts konnte ich nicht schlafen. Ich starrte an die Decke, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ich die Umrisse der kargen Möbel in meinem Zimmer ausmachen konnte. In diesen Momenten war das Flüstern in meinem Kopf am lautesten und die Sehnsucht nach den betäubenden Wirkungen der Drogen und des Alkohols am schlimmsten. Ich zitterte und hatte jede Nacht Krampfanfälle, anfangs nur wegen der physischen Folgen des Entzugs und später, lange nachdem das Gift meinen Körper verlassen hatte, wegen der Hilflosigkeit und Verzweiflung.

Wenn der Morgen kam, blieb die Erleichterung aus. Nur Erschöpfung und Elend stellten sich ein.

Ich hasste es. Aber Widerstand würde zu nichts führen. Doktor Shelton musste meine Entlassungspapiere unterschreiben und das würde nur passieren, wenn sie überzeugt war, dass ich weder für mich selbst noch für andere eine Gefahr darstellte. Dass ich wieder in die große, beängstigende Welt gehen und nicht mit dem Gesicht voran in das erste schwarze Loch der Versuchung fallen würde, das mir über den Weg lief.

Tja, krasser Scheiß, Doktor. Ich machte mir nicht vor, dass ich stark genug war, der Verlockung eines benebelten Geistes zu widerstehen – eines glückselig ruhigen Geistes – und sah auch nicht wirklich einen Grund, warum ich widerstehen sollte. Aber ich musste die Ärztin vom Gegenteil überzeugen. Fürs Erste musste ich so tun, dass es mich interessierte, was mit mir passierte.

***

Während der ersten vier Wochen durfte mich niemand besuchen. Kein Fernsehen, kein Handy, kein Internet, keine Zeitung oder irgendeine andere Verbindung zur Außenwelt. Ich konnte mir ein vorab abgesegnetes Buch aus der kleinen Bibliothek ausleihen und das war auch schon die ganze Unterhaltung, die mir gestattet wurde.

Ich war ohnehin nicht in der Stimmung, mich mit jemandem zu unterhalten oder von den Problemen der Welt zu hören. Ich hatte mich beinahe selbst davon überzeugt, bis der erste Tag der fünften Woche kam und meine Illusionen zerstörte. Während ich im Gemeinschaftszimmer saß, wo sich die Leute meistens versammelten, um gesellig zu sein, hielt ich den Atem an und hoffte jenseits aller Vernunft, dass Renee mich besuchen würde und fürchtete, stattdessen meine Mutter zu sehen, während sich die Tür öffnete und schloss und mehr und mehr Besucher hereinströmten.

Tja, Renee kam nicht. Genauso wenig wie meine Mutter. Da die Hälfte des offenen Tages vorbei war, verlor ich die Hoffnung, dass sich jemand um mich scherte und stand auf, um den Raum, der von Gelächter und Unterhaltungen erfüllt war, zu verlassen. Die Tür öffnete sich erneut und mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich sah, wie Aiden hereinkam.

Wie angewurzelt und mit großen Augen sah ich zu, wie er die Tür hinter sich schloss und mich in dem überfüllten Zimmer sofort entdeckte. Er ging auf mich zu, mit langen, selbstbewussten Schritten, mit denen er die Distanz in Sekundenschnelle überbrückte.

Er hatte sich verändert. Nicht so sehr körperlich, obwohl er sich die Haare geschnitten und viel Gewicht verloren hatte, sodass seine Gesichtszüge schärfer wirkten. Irgendetwas in ihm hatte sich am meisten verändert, aber ich konnte nicht sagen, was es war.

Die Leute hatten immer gesagt, dass wir uns so ähnlich sahen, dass wir Brüder sein könnten, und das stimmte vermutlich. Wir waren beide schlank und etwa gleich groß, mit dunklen Haaren, die ohne großzügig aufgetragene Stylingprodukte in alle Richtungen abstanden, und wir hatten beide ein rundes Gesicht, das uns viel jünger aussehen ließ, als wir eigentlich waren. Für mich war der größte Unterschied unsere Augen. Nicht nur die Farbe – meine kühl und schwarz und Aidens warm und haselnussbraun –, sondern was sich dahinter verbarg. In Aidens Blick sah ich immer eine Güte, die ich in meinem nie gefunden hatte.

Aiden durchquerte den Raum und nahm mich, ohne zu zögern, in den Arm. Er umarmte mich so heftig, dass ich spürte, wie etwas in mir zerbrach.

»Finney«, sagte er erleichtert.

»Du hast dir die Haare geschnitten«, war alles, was ich herausbrachte.

Aiden lachte leise, dann ließ er mich los. Sein Blick suchte meinen und plötzlich war ich mir bewusst, wie schlimm ich aussehen musste. Verlegen wandte ich den Blick ab und deutete mit einem Nicken auf die Schiebetüren.

»Wollen wir ein Stück gehen?«

Aiden nickte und folgte mir. Ein paar Leute hatten sich ebenfalls entschieden, den Tag draußen zu verbringen und den Sonnenschein im späten April zu genießen. Die sanfte Brise war angenehm auf meiner Haut und in meinen Haaren, die ich in den letzten Monaten nicht mehr gebändigt und bei denen ich auf jegliches Styling verzichtet hatte. Mittlerweile sah ich auch kaum noch in den Spiegel.

Ich spürte Aiden neben mir und mein Geist beschwor ein Bild von ihm herauf: seine Haare, die meinen so ähnlich waren und sich in der Brise bewegten, wie er die Hand hob, um sie beinahe unbewusst glatt zu streichen. Aber als ich mich umdrehte, verschwand das gedankliche Bild meines Freundes und wurde von seinem neuen Kurzhaarschnitt und seinen hervortretenden und scharfen Zügen ersetzt, denen die weichen, dunklen Locken fehlten, die sein Gesicht umrahmten. Ich war wehmütig und ein wenig traurig.

»Du hast abgenommen«, sagte er, als er mich ansah.

Ich schnaubte. »Genau wie du.«

Er lachte spöttisch, nickte leicht und stimmte ohne Zögern zu, dass wir beide kaputte Loser waren.

»Setzen wir uns«, sagte er, nahm meine Hand und zog mich zu einer leeren Bank in der Nähe. Ich protestierte nicht, obwohl ich mich nicht wirklich darauf freute, ihn anzusehen, während wir redeten. Aidens warme Augen waren der Grund gewesen, warum ich so oft vom Abgrund zurückgetreten war; ich hatte mich einmal danach gesehnt, wie er sich so vollständig auf mich konzentrierte, dass er den Rest der Welt ausschloss. Das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. Jetzt erfüllte mich der Gedanke an Aidens stechenden Blick mit Schrecken.

Wir setzten uns. Aiden drehte sich zu mir, wie ich es erwartet hatte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah weiter geradeaus, als wäre der grüne Rasen vor uns das Interessanteste, was ich je gesehen hatte.

»Wie geht's dir?«, fragte Aiden zögerlich, als wüsste er nicht alles über mich. Er hatte schon immer nach nur einem Blick in meine Richtung sagen können, wie ich mich fühlte.

»Wo warst du?«, fragte ich, anstatt zu antworten, und die Verärgerung schlich sich in meine Worte.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Aiden nickte, als hätte er gewusst, dass ich das sagen würde. Tja, Small Talk war noch nie meine Stärke gewesen.

»Ich hatte einen Herzinfarkt«, sagte er nüchtern.

Mein Kopf wirbelte so schnell zu ihm herum, dass es in meinem Nacken schmerzhaft knackte. Ich ignorierte es.

»Du hattest was?«, sagte ich mit offenem Mund. Er schenkte mir ein liebevolles Lächeln, ehe er seine Worte wiederholte.

»Ich hatte einen Herz…«

»Ich hab dich verdammt noch mal gehört!«

Er nickte erneut, leckte sich über die Lippen und wandte den Blick ab. Aiden wurde nur selten wütend oder verlor die Kontrolle über seine Emotionen, deshalb war ich es gewohnt, dass er ruhig auf meine regelmäßigen Ausbrüche reagierte. Aber in diesem Moment ließ mich seine entspannte Körpersprache noch mehr rotsehen.

»Ist das dein verfickter Ernst?«, schrie ich. Aiden sah sich um, um nachzusehen, ob irgendwelche Leute in der Nähe waren, aber es wäre mir sogar scheißegal, wenn mich die ganze Welt hören könnte. »Du verschwindest beinahe zwei Monate, keine Anrufe oder Nachrichten oder auch nur ein Zettel unter meinem Kissen, und dann marschierst du hier rein, dünn und blass und mit raspelkurzen Haaren und sagst mir ohne Vorwarnung, dass du einen Herzinfarkt hattest? Was zur Hölle, Aiden?«

»Wie sollte ich es denn sonst einleiten?«, sagte er und ein seltener Hauch von Verärgerung mischte sich unter seine Worte.

Normalerweise hatte ich für jede Gelegenheit eine geistreiche und sarkastische Antwort parat. Nicht dieses Mal. Ich öffnete und schloss meinen Mund ein paar Mal, ohne dass mir eine passende Einleitung für Ich hatte einen Herzinfarkt einfiel. Aiden ließ mich eine Weile wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappen und wartete geduldig, dass ich entweder alles herausschrie oder mich so weit beruhigte, dass er etwas sagen konnte. Ich verschränkte erneut die Arme, lehnte mich auf der Bank zurück, zog sicherheitshalber einen Schmollmund und wartete, dass er anfing zu reden.

Aiden nagte einige Sekunden an seiner Unterlippe, als würde er seine Gedanken sammeln oder vielleicht die richtigen Worte suchen, um mich nicht wieder aufzuregen, ehe er das Wort ergriff. »Die Nacht, in der du die Überdosis hattest? Erinnerst du dich an irgendwas?«

»Nicht wirklich, nicht, nachdem wir auf der Toilette die zweite Dröhnung genommen haben.« Ich durchsuchte mein Gedächtnis nach weiteren Hinweisen, was in dieser Nacht passiert war, aber ich hatte es erfolglos tausendmal getan, nachdem ich im Krankenhaus aufgewacht war. »Ich glaube, wir sind zur Bar gegangen und hatten ein paar Shots?«

»Ja.« Er nickte und sah mich dann mit einem traurigen Lächeln an. »Wir hatten viele Shots. Wir haben getanzt. Dann wolltest du noch eine Dröhnung und ich konnte dich nicht aufhalten. Wir haben uns gestritten und du bist mit einem Typen zur Toilette gegangen. Ich war selbst ziemlich hinüber, also hab ich dich gehen lassen.« Ein Muskel zuckte an Aidens Kiefer und ich war ziemlich sicher, dass Schuld hinter seinen Worten lag.

Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bevor ich dich gesucht habe. Ich war so was von high und bin durch den Club gestolpert, aber ich kann mich noch glasklar an den Moment erinnern, als ich dich auf dem Boden hab liegen sehen. Ich bin neben dir auf die Knie gegangen und hab um Hilfe geschrien. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich hab absolut keine Ahnung, wie man jemanden wiederbelebt oder auch nur den Puls checkt. Zum Glück ist kurz nach mir jemand reingekommen und muss einen Krankenwagen gerufen haben, denn in dem einen Moment hatte ich deinen Kopf auf dem Schoß und mein ganzer Körper hat vor Angst gezittert, dass du tot sein könntest und im nächsten sind die Sanitäter reingestürmt, haben mich aus dem Weg geschoben und dich auf eine Liege geschnallt.«

Aiden atmete tief ein und laut wieder aus. Er schien einen Moment zu brauchen, um sich zu sammeln, genau wie ich. Bis jetzt hatte ich nicht genau gewusst, was an diesem Abend passiert war, und ich erinnerte mich immer noch an nichts, aber so, wie er darüber sprach, die Qual in seinen Augen…

»Also.« Aiden räusperte sich, sah mich an und der Schmerz in seinen Augen ließ mich zusammenzucken. »Ich bin nicht ganz sicher, was passiert ist, nachdem sie dich weggebracht haben. Ich erinnere mich, dass ich ziemlich neben mir stand, aber auf eine seltsame Art und Weise, nicht nur wegen der Drogen. Ich erinnere mich auch an viel Schmerz und eine seltsame Art von außerkörperlicher Erfahrung, bei der ich meine Gliedmaßen nicht kontrollieren konnte und zu Boden gegangen bin.«

Ich war dankbar für Aidens Pause. Ich wollte ihm eine Hand auf den Mund legen, damit er aufhörte zu reden, aber wie könnte ich? Ich hatte ihm das angetan. Ich. Das Mindeste, was ich tun konnte, war, zu hören, was er zu sagen hatte.

Aber… ich wusste nicht, ob ich es konnte. Es fühlte sich an, als hätte ich den absoluten Tiefpunkt erreicht und nichts könnte mich je wieder an die Oberfläche bringen.

»Finney«, sagte er und legte seine Hand auf meinen Arm. Ich drehte mich zu ihm. Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter, als er mir in die Augen sah, und ähnelte beinahe dem runden Babygesicht, an dessen Anblick ich so gewöhnt war. Beinahe. Er hatte so viel Gewicht verloren, dass seine Gesichtszüge wahrscheinlich nie wieder so weich und unschuldig sein würden wie zuvor. »Was mir passiert ist, ist nicht deine Schuld.«

Ich schnaubte. Ich hatte in so wenigen Worten noch nie eine so große Lüge gehört.

»Ich bin vierundzwanzig, ein Erwachsener, und treffe meine eigenen Entscheidungen«, fuhr er fort und grub seine Finger in meinen Arm. »Genau wie du.« Er wandte den Blick ab. »Offensichtlich können wir die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können definitiv etwas für die Zukunft tun.«

Oh, um Himmels willen, erspar mir die aufmunternden Worte.

Meine Worte mussten deutlich zu hören gewesen sein, als ich die Augen verdrehte, denn Aiden zog seine Hand zurück und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich.

»Du kannst so nicht weitermachen, Finn«, sagte er.

Ich sagte stur einfach gar nichts, sondern zog nur eine Braue nach oben. Je mehr Leute mir sagten, dass ich mein Leben nicht so leben konnte, wie ich es wollte, desto selbstzerstörerischer wurde ich.

Aiden erkannte das. Er erkannte immer alles, verdammt. Aber in diesem Moment sah ich, wie sich etwas in seinen Augen veränderte, ein Geheimnis, das an die Oberfläche drang, das er verborgen hatte, unsicher, ob er es mir sagen sollte. Er hatte ein Ass im Ärmel und würde es auf den Tisch legen.

»Ich kann so nicht weitermachen. Ich brauche eine Auszeit von…« Er deutete zwischen uns, um uns, ich wusste es verdammt noch mal nicht, aber ich begriff, was er meinte.

»Du meinst von mir.« Ich war darauf vorbereitet, dass er ging. Ich wollte, dass er ging. Ich wollte seinen Rücken sehen, wollte sehen, dass sein dämlicher Haarschnitt und sein bevormundender Blick aus meinem Leben verschwanden. Ich wollte aufstehen, aber er hielt meinen Arm fest und zog mich zurück.

»Ja. Von dir. Und von all unseren anderen Freunden.«

Ich konnte nicht glauben, dass er es wirklich gesagt hatte. Mein sanfter, freundlicher Aiden, der einzige Mensch, der immer für mich da gewesen war, bei mir gewesen war, verließ mich.

»Und du musst dasselbe tun.«

Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Ein enttäuschtes, ungläubiges Lachen platzte aus mir heraus, aber während ich lachte, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen.

»Tu, was du für dich für am besten hältst, Kumpel, aber sag mir nicht, wie ich mein Leben leben soll.«

Und da war es. Der harte Ausdruck in seinen Augen, die Anspannung in seinen Kiefermuskeln. Der Moment, in dem er sich bereit machte, mich zu zerstören.

»Renee hatte eine Fehlgeburt, als du die Überdosis hattest«, sagte er, ohne Bedauern in den Augen. Da lag nur Entschlossenheit.

Ich zuckte von ihm zurück, als hätte er mich tatsächlich geschlagen. Meine Ohren klingelten und zum ersten Mal in meinem Leben war mein Kopf ohne die Hilfe illegaler Substanzen vollkommen leer.

»Sie wird mich dafür hassen, dass ich es dir gesagt habe. Sie hat mich schwören lassen, es geheim zu halten, aber ich glaube, du musst es wissen«, fuhr Aiden fort, als hätte er nicht gerade meine gesamte Welt in tausend Stücke zerschlagen. »Wir lieben dich, Finney, aber du musst anfangen, auf dich achtzugeben. Renee ist deine kleine Schwester und trotzdem hat sie ihr ganzes Leben lang auf dich aufgepasst. Sie wäre am Boden zerstört, wenn dir etwas passiert.«

Ich hörte seine Worte, konnte aber nicht reagieren. Eine Weile war mein Kopf wunderbar leer und wurde dann von Anschuldigungen, Schuldgefühlen, Erinnerungen an Renee und mich als Kinder, Teenager und Erwachsene überflutet. Und dann glitten meine verräterischen Gedanken in Richtung der Zukunft, in der ich Renee als Mum sah, wie sie mit einem kleinen Mädchen spielte und das Lächeln der beiden so strahlend und glücklich war.

Bis ich alles ruiniert hatte. Mein bester Freund hatte mit vierundzwanzig einen Herzinfarkt, weil ich ihn mit mir nach unten gezogen und ihn dann zu Tode erschreckt hatte; meine Schwester hatte ihr ungeborenes Kind verloren, weil ich beinahe gestorben war und sie vor Sorge krank gemacht hatte.

Nie hatte ich mich mehr wie ein nutzloses, rückgratloses Stück Scheiße gefühlt.

»Du wolltest immer nur die großen Dinge«, sagte Aiden, nahm meine Hand und sah mich so zärtlich an, dass mir Tränen in die Augen stiegen. »Du dachtest immer, dass es keinen Zweck hat, ein Buch zu schreiben, wenn es nicht auf der ganzen Welt auf den Bestseller-Listen steht. Kein Zweck, vier Jahre an der Uni zu studieren, wenn du nicht mit Auszeichnung bestehst. Du strebst immer nach dem höchstmöglichen Punkt und setzt dich selbst zu sehr unter Druck, um sicherzugehen, dass du ihn erreichst.« Aiden hielt inne, um sich über die Lippen zu lecken, und tätschelte meine Hand. »Aber die Sache ist, sobald du dort angekommen bist, kannst du nicht mehr höher. Du kannst nur noch nach unten stürzen.«

Ich sah Aiden in die Augen, versuchte, meine Stimme wiederzufinden und etwas zu sagen, aber ich konnte nicht. Ich war am Ende meiner Kräfte, hatte keine Worte, keine Wut, keine Schuldgefühle mehr. Ich war leer und zerbrochen und verloren und ich brauchte etwas, irgendetwas, um mich wieder in der Gegenwart zu verankern, bevor ich ohne Rettungsleine davontrieb.

Ich fing an zu weinen.

Es war einer dieser gewaltsamen, hässlichen Ausbrüche; nicht unterdrücktes Schluchzen, das mich innerlich erschütterte und meine Seele schmerzen ließ. Ich war mir vage bewusst, dass Aiden mich hielt, aber ich war nicht sicher. Ich hatte solche Schmerzen, dass alles andere einfach nicht mehr existierte.

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