Jack London – Gesammelte Werke

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Jack London – Gesammelte Werke
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Jack London

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Jack London

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020

1. Auflage, ISBN 978-3-962813-47-5

null-papier.de/577


null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

An der wei­ßen Gren­ze

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Das Mond­tal

Ers­tes Buch

Zwei­tes Buch

Drit­tes Buch

Der Ruhm des Kämp­fers

Der Ruhm des Kämp­fers

Der Me­xi­ka­ner Fe­li­pe Ri­ve­ra

Der Schrei des Pfer­des

Wer schlug zu­erst?

Das Ende vom Lied

Das Wort der Män­ner

Die Lie­be zum Le­ben

Der See­wolf

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Der Sohn des Wolfs

Das wei­ße Schwei­gen

Der Sohn des Wolfs

Die Män­ner von For­ty-Mile

In fer­nem Lan­de

Auf der Rast

Das Vor­recht des Pries­ters

Die Weis­heit der Rei­se

Das Weib ei­nes Kö­nigs

Eine Odys­see des Nor­dens

Der See­bau­er

Die glück­li­chen In­seln

Auf der Ma­ka­loa-Mat­te

Die Ge­bei­ne Ka­he­ki­lis

Koo­lau, der Aus­sät­zi­ge

Leb wohl Jack!

Alo­ha ʻOe

Der She­riff von Kona

Das Haus des Stol­zes

Die Trä­nen Ah Kims

Chun Ah Chun

Die Her­rin des Gro­ßen Hau­ses

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Drei Son­nen am Him­mel

Drei Son­nen am Him­mel

Die Hei­rat der Lit-Lit

Jees Uck

Braun­wolf

Ba­stard

Ne­go­re, der Feig­ling

Quar­tier für einen Tag

Der Kö­nig und sein Scha­ma­ne

Ein Sohn der Son­ne

Ein Sohn der Son­ne

Aloy­si­us Pank­burns wun­der Punkt

Die Teu­fel von Fua­ti­no

Die Witz­bol­de von Neu-Gib­bon

Eine klei­ne Abrech­nung mit Swi­thin Hall

Ein Abend in Go­bo­to

Fe­dern der Son­ne

Par­lays Per­len

In den Wäl­dern des Nor­dens

In den Wäl­dern des Nor­dens

Das Ge­setz des Le­bens

Nam-Bok, der Lüg­ner

Der Herr des Ge­heim­nis­ses

Die Män­ner des Son­nen­lan­des

Die Krank­heit des Ein­sa­men Häupt­lings

Keesh, der Sohn des Keesh

Li­gouns Tod

Li Wan, die Schö­ne

Der Bund der Al­ten

Jer­ry der In­su­la­ner

Vor­wort

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Kid & Co.

Ein Miss­griff der Schöp­fung

Die Ge­schich­te ei­nes klei­nen Man­nes

Eier

Die neue Stadt

Das Wun­der des Wei­bes

Kö­nig Al­ko­hol

1

2

3

4

5

6

7

8

 

9

Lock­ruf des Gol­des

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Mar­tin Eden

Ers­ter Band

Zwei­ter Band

Meu­te­rei auf der El­si­no­re

1

2

3

4

5

6

7

8

11

Mi­cha­el der Bru­der Jer­rys

1

2

4

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Nach­wort

Nord­land­ge­schich­ten

Ne­go­re, der Feig­ling

Der Kö­nig und sein Scha­ma­ne

Das Wort der Män­ner

Der Gott sei­ner Vä­ter

Das Vor­recht des Pries­ters

Die Weis­heit der Rei­se

Nam-Bok, der Lüg­ner

Der Bund der Al­ten

Jan, der Un­ver­bes­ser­li­che

Die große Fra­ge

Li­wan, die Schö­ne

Süd­see-Ge­schich­ten

Die Per­le

Der Wal­zahn

Mau­ki

Der blas­se Schre­cken

Otoo, der Hei­de

Die furcht­ba­ren Sa­lo­mon­in­seln

Der un­ver­meid­li­che wei­ße Mann

Feu­er auf See

Wolfs­blut

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Drit­ter Teil

Vier­ter Teil

Fünf­ter Teil

In­dex

Dan­ke

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An der weißen Grenze

1

Alle Lu­ken des Damp­fers wa­ren of­fen. Quiet­schen­de, krei­schen­de und pol­tern­de Krä­ne tauch­ten mit spit­zen Ha­ken in sei­nen Bauch ein. Unabläs­sig hol­ten sie Kis­ten und Las­ten der Gold­grä­ber her­vor und schwan­gen sie hin­über in of­fe­ne Leich­ter, die zu bei­den Sei­ten längs des Schif­fes la­gen. Tau­send Men­schen has­te­ten auf Deck um­her und tra­ten ein­an­der auf die Füße. Die Schau­er­leu­te wa­ren im Streik, und die Pas­sa­gie­re muss­ten selbst ihre La­dung lö­schen. Es war kei­ne Ord­nung. Grup­pen­wei­se strit­ten sie sich um das Ei­gen­tums­recht an be­stimm­ten Las­ten, die mit »Punkt 2« oder »Punkt 2 Strich« ge­zeich­net wa­ren. Dann und wann kam es zu Schlä­ge­rei­en.

Der Ers­te Of­fi­zier ging durch das To­hu­wa­bo­hu und mach­te ein hei­te­res Ge­sicht, als gin­ge ihn die gan­ze Sa­che nichts an.

»Gold­grä­ber sind eine leicht ver­derb­li­che Fracht«, sag­te er zu Fro­na Wel­se. »Sie zit­tern um jede Mi­nu­te …«

»Und ich erst!« rief Fro­na. »Ich zit­te­re auch um jede Mi­nu­te. Da, schaun Sie da hin­über! Dort, wo der Fluss mün­det, zwi­schen den Kie­fern, se­hen Sie das große Block­haus? In dem bin ich ge­bo­ren!«

»Dann al­ler­dings, dann hät­te ich auch Eile«, lach­te er. »Also dann wol­len wir Ih­nen mal ein biss­chen un­ter die Arme grei­fen.«

Sie war das ein­zi­ge jun­ge Mäd­chen an Bord, un­ter mehr als tau­send Män­nern. Er lots­te sie ga­lant an die Re­ling, wo ver­zwei­fel­te Pas­sa­gie­re stan­den und mit Schrift­stücken wink­ten. Sie brüll­ten ihre Fracht­zei­chen und fluch­ten wie die Hei­den.

»Der Pro­vi­ant­meis­ter sagt, ent­we­der ist er schon ver­rückt ge­wor­den, oder er wird es au­gen­blick­lich«, er­zähl­te der Ers­te Of­fi­zier, wäh­rend er Fräu­lein Wel­se über die Lauf­plan­ke half.

»Da­bei geht es bei uns noch ganz fried­lich her. Se­hen Sie da drü­ben den ›Stern von Beth­le­hem‹?«

Er zeig­te auf einen Damp­fer, der eine Mei­le ent­fernt vor An­ker lag.

»Die Hälf­te von den Pas­sa­gie­ren da drü­ben hat Pack­pfer­de be­stellt. Die wol­len nach Ska­guay und dem Wei­ßen Pass. Dort soll es neue Gold­fun­de ge­ben. In ei­nem Jahr will je­der von ih­nen Mil­lio­när sein. Ihre Pfer­de ste­hen am Strand und gra­sen fried­lich, und die Leu­te kom­men nicht vom Schiff weg. Da ist eine Art von Meu­te­rei aus­ge­bro­chen.«

»He, Sie!« rief er ei­nem Ru­der­boot zu, das sich vor­sich­tig am äu­ßers­ten Ran­de des schwim­men­den Wirr­warrs hielt.

Eine win­zi­ge Bar­kas­se, die mit he­ro­i­schem Mut an ei­ner mäch­ti­gen Schu­te zerr­te, ver­such­te, dem Ru­de­rer den Weg ab­zu­schnei­den, aber der Mann leg­te sich ein­fach vor ih­ren Bug. Er be­kam einen Stoß und fiel der Län­ge nach in sein Boot. Das Boot dreh­te sich und stopp­te jetzt den gan­zen Ver­kehr.

Eine paar lan­ge Ka­nus, voll­ge­la­den mit Wa­ren, Gold­grä­bern und In­dia­nern, dräng­ten an ihm vor­bei zum Strand und ver­hed­der­ten sich in­ein­an­der. Als der Ru­de­rer wie­der auf die Füße kam, ließ er einen Ha­gel von Flü­chen auf alle Ka­nu­leu­te und Leicht­er­schif­fer nie­der­fah­ren. Ein Mann auf dem Leich­ter beug­te sich zu ihm hin­über und schwur, dass er nie einen arm­se­li­ge­ren Sohn ei­ner Hün­din ge­se­hen hät­te, wäh­rend die Wei­ßen und In­dia­ner in den Ka­nus in ein brül­len­des Hohn­ge­läch­ter aus­bra­chen.

»Scher dich zum Sa­tan!« rief ei­ner aus dem Kanu, »hät­test du lie­ber ru­dern ge­lernt!«

Die Faust des Ru­de­rers krach­te ge­gen das Kinn des an­de­ren, der be­täubt auf einen Wa­ren­sta­pel fiel. Er war da­mit aber noch nicht zu­frie­den. Weiß vor Wut, woll­te er sich in das Kanu hin­über­schwin­gen und wei­ter auf den Mann ein­dre­schen, der be­haup­tet hat­te, er könn­te nicht ru­dern. Ein Gold­grä­ber im sel­ben Kanu, der in all dem nur Zeit­ver­geu­dung sah, nes­tel­te an sei­ner Re­vol­ver­ta­sche, und man konn­te große Din­ge er­war­ten. Aber dann wur­de dem Ru­de­rer aus dem Kanu her­aus ein Rie­men über den Schä­del ge­schla­gen, so­dass er für den Au­gen­blick kampf­un­fä­hig war, das Kanu be­kam sei­nen Weg wie­der frei, und ge­ra­de als Mord und Tot­schlag un­ver­meid­lich schie­nen, war die klei­ne Mei­nungs­ver­schie­den­heit plötz­lich zu Ende.

Der Schiff­s­of­fi­zier warf einen ver­stoh­le­nen Blick auf das Mäd­chen … viel­leicht wur­de sie ohn­mäch­tig, und er muss­te sie auf­fan­gen? Aber ihr Ge­sicht war voll ver­gnüg­ter Span­nung. Sie war noch hüb­scher ge­wor­den.

»Es ist mir ja lieb, dass der Re­vol­ver nicht ge­knallt hat«, sag­te sie, »aber so was macht doch Spaß, fin­den Sie nicht?«

In­zwi­schen war der Ru­de­rer wie­der auf die Bei­ne ge­kom­men und leg­te sein Boot an die Schiffs­wand.

»Eine Dame an Land!« schrie der Of­fi­zier. »Wie viel?«

»Zwan­zig Dol­lar.«

»Der Kerl ist ein Räu­ber«, sag­te der Of­fi­zier zu Fro­na. »Zwan­zig Dol­lar für die paar hun­dert Me­ter! Für einen Mann wür­de er wahr­schein­lich fünf­und­zwan­zig for­dern. Rich­ti­ge See­räu­be­rei! Ei­nes schö­nen Ta­ges wird er da drü­ben hän­gen an ei­ner von den Kie­fern.«

»Hal­ten Sie’s …«, rief der von un­ten.

»Sie ha­ben ver­dammt gute Ohren!«

»Mit den Flos­sen bin ich auch nicht lang­sam, wenn Sie’s dar­auf an­kom­men las­sen.«

»Und ganz be­son­ders schnell mit dem Maul!«

»Muss ich auch, bei mei­nem Ge­schäft, sonst käm’ ich nicht weit un­ter all den Hai­fi­schen. Ich soll ein Räu­ber sein? Was seid ihr denn dann? Tau­send Pas­sa­gie­re auf­ein­an­der ge­packt wie die Öl­sar­di­nen … und für nichts ge­sorgt! Be­zah­len lasst ihr euch zwei­mal so­viel wie in der ers­ten Klas­se, und füt­tern tut ihr sie mit Zwi­schen­deck­fraß! Möch­te wis­sen, wer von uns ei­gent­lich See­räu­ber ist!«

»Also, mein ver­ehr­tes Fräu­lein …«, sag­te der Of­fi­zier zu Fro­na. »Al­les Gute! Ich hät­te Sie gern an Land be­glei­tet. Aber Sie se­hen ja selbst: ein biss­chen muss ich doch hier noch zu­se­hen. Die Leu­te ha­ben das gern. Je­den­falls kön­nen Sie sich dar­auf ver­las­sen, dass ich für Ihr Ge­päck sor­ge.«

Sie drück­te ihm die Hand und klet­ter­te in das Boot. Es schwank­te stark, im Au­gen­blick wa­ren die Bo­den­bret­ter über­spült, und ihre Füße stan­den im Was­ser. Sie blieb ganz ru­hig, setz­te sich auf die Steu­er­ducht und zog die Bei­ne hoch.

»Das geht ja nicht!« rief der Of­fi­zier von oben. »Kom­men Sie zu­rück, Fräu­lein Wel­se! So­bald es mög­lich ist, las­se ich Sie mit ei­nem von un­se­ren Boo­ten an Land brin­gen.«

 

Er klet­ter­te die Strick­lei­ter hin­un­ter und woll­te das viel zu leich­te Boot mit Ge­walt zu­rück­hal­ten, aber der Ru­de­rer hat­te für so­viel Rit­ter­lich­keit kein Ver­ständ­nis und schlug ihm über die Knö­chel.

»Willst mir mei­nen Pas­sa­gier aus­span­nen? Hast wohl Sehn­sucht nach dem Him­mel?«

»Ein fei­er­li­cher Ab­schied!« rief Fro­na Wel­se ihm mit strah­len­dem Ge­sicht zu. »Ha­ben Sie tau­send Dank, Sie sind ein Rit­ter!«

»Das ist ein Weib!« sag­te der Rit­ter vor sich hin und rieb sei­ne ge­trof­fe­nen Fin­ger­knö­chel. Er hat­te plötz­lich Sehn­sucht, im­mer in die­se grau­en Mäd­chen­au­gen zu se­hen, hat­te Lust, sei­nen Be­ruf über Bord zu wer­fen und mit ihr nach Klon­di­ke zu zie­hen.

*

Ein falscher Rie­men­griff … Platsch! hat­te Fro­na eine di­cke Hand voll Was­ser mit­ten im Ge­sicht.

»Nur nichts übel­neh­men«, ent­schul­dig­te sich der Boots­mann. »Man tut, was man kann, aber es kommt nicht im­mer viel da­bei her­aus.«

»Scheint mir doch so«, lach­te sie gut­mü­tig.

»Ich mach’ mir gar nichts aus der See«, sag­te der Mann bit­ter, »aber man muss se­hen, wie man’s wie­der zu ein paar Dol­lars bringt. Wäre schon längst in Klon­di­ke, hab’ aber ver­fluch­tes Pech ge­habt. Auf dem ›Win­di­gen Arm‹ hab’ ich mei­ne gan­ze Aus­rüs­tung ver­lo­ren … bei­na­he hat­te ich den Kram schon über den Pass hin­über­ge­schafft.«

Aber­mals: Schwupp, Platsch! Sie schüt­tel­te sich das Was­ser aus den Au­gen und frös­tel­te, als eine nas­se La­dung ihr den war­men Rücken hin­un­ter­rann.

»Sie wer­den’s schaf­fen!« sag­te der Mann. »Sie sind aus dem rich­ti­gen Holz für die­ses Land ge­schnitzt. Wol­len Sie ganz hier­blei­ben?«

Sie nick­te freund­lich.

»Sie wer­den’s schaf­fen! Also, wie ge­sagt, mei­ne Aus­rüs­tung ist da oben zum Teu­fel ge­gan­gen, und jetzt muss ich all das Zeugs neu zu­sam­men­brin­gen. Kann man da bil­li­ger ru­dern als für zwan­zig Dol­lar die Fahrt? Wis­sen Sie, Fräu­lein, schlim­mer als die an­de­ren bin ich auch nicht. Was mei­nen Sie, für die­se alte Ba­de­wan­ne ha­ben sie mir hun­dert Dol­lar aus den Zäh­nen ge­ris­sen. Drü­ben in den Staa­ten ist sie kei­ne zehn wert. So ist es hier mit al­lem. Auf dem Weg nach Ska­guay zahlt man Ih­nen für einen al­ten Huf­na­gel einen Vier­tel­dol­lar. Ein Mann geht in die Knei­pe und trinkt einen Whis­ky, schmeißt zwei Huf­nä­gel auf die The­ke, und es ist o.k. Huf­nä­gel sind da oben Schei­de­mün­ze.«

»Sie müs­sen ein tüch­ti­ger Kerl sein, dass Sie gleich noch ein­mal an­ge­fan­gen ha­ben! Wie hei­ßen Sie ei­gent­lich? Vi­el­leicht be­geg­nen wir uns wie­der ein­mal.«

»Ich? Wie ich hei­ße? Also Del Bi­shop, Gold­grä­ber. Wenn wir uns wie­der be­geg­nen, dann müs­sen Sie von vorn­her­ein wis­sen … mein letz­tes Hemd geb’ ich für Sie her, Fräu­lein! Ent­schul­di­gen Sie, ich mei­ne na­tür­lich, den letz­ten Bis­sen Brot geb’ ich für Sie.«

»Dan­ke«, sag­te sie. »Das kam von Her­zen. Das hört man gleich.«

Er hielt einen Au­gen­blick mit Ru­dern inne und fisch­te aus dem Was­ser zu sei­nen Fü­ßen eine alte Kon­ser­ven­do­se her­vor.

»Schöp­fen Sie lie­ber!« be­fahl er und warf ihr die Dose zu. »Leck war die Kis­te schon vor­her, aber vor­hin hat sie noch eins ab­be­kom­men.«

Fro­na mach­te sich ge­hor­sam an die Ar­beit. So oft sie sich bück­te, ho­ben und senk­ten sich die Ber­ge mit ih­ren Glet­schern am Ho­ri­zont. Hin und wie­der ruh­te sie aus und sah nach dem von Men­schen wim­meln­den Strand, auf den sie zu­steu­er­ten, und dann wie­der auf die Bucht, in der an zwei Dut­zend große Damp­fer an­ker­ten. Von je­dem die­ser Schif­fe ging ein Strom von Leich­tern, Käh­nen, Ka­nus hin und her zum Lan­de. Sie dach­te an die Hör­sä­le, in de­nen sie vor ein paar Wo­chen noch zu Fü­ßen ih­rer Leh­rer ge­ses­sen hat­te. Die­se Welt hier war ihr lie­ber … vor der hat­te sie Re­spekt.

»Aber Sie ha­ben mir Ihren Na­men noch nicht ge­sagt«, mahn­te Bi­shop höf­lich.

»Ich hei­ße Wel­se«, ant­wor­te­te sie. »Fro­na Wel­se.«

Sein Mund stand of­fen, er starr­te sie an: »Dann ist ja … Ja­cob Wel­se … Ihr al­ter Herr?«

»Ja­wohl, wenn Sie nichts da­ge­gen ha­ben.«

Er spitz­te die Lip­pen, stieß einen Pfiff aus und ließ die Rie­men glei­ten. »Klet­tern Sie in den Stern und zie­hen Sie die Bei­ne hoch!« be­fahl er. »Ge­ben Sie mir die Dose.«

»Ar­bei­te ich denn nicht or­dent­lich?«

»Doch, sehr gut so­gar. Aber Sie sind … Sie sind …«

»Genau das­sel­be, was ich vor­her war. Ru­dern Sie wei­ter … das ist Ihre Ar­beit, und mei­ne be­sor­ge ich.«

»Alle Ach­tung, Sie wer­den’s schaf­fen«, mur­mel­te Bi­shop und beug­te sich wie­der über die Rie­men. »Ja­cob Wel­se ist Ihr al­ter Herr! Don­ner­wet­ter, das hät­te man wis­sen sol­len!«

Auf der san­di­gen Land­zun­ge, im Ge­wim­mel ge­schäf­ti­ger Men­schen, die wie Amei­sen hin und her ihre Las­ten tru­gen, schüt­tel­te sie dem Fähr­mann die Hand.

Er war sehr stolz. »Nicht ver­ges­sen, Fräu­lein, mein letz­ter Bis­sen Brot ge­hört Ih­nen.«

»Und Ihr letz­tes Hemd auch! Ver­ges­sen Sie das nicht.«

»Ganz be­stimmt!«

Als sie da­von­ge­gan­gen war, sah er ganz ent­rückt sei­ne Hand an, die sie ge­drückt hat­te.

»Das ist ein Mä­del … Don­ner­wet­ter!«

*

Das Trip­peln auf städ­ti­schem Pflas­ter hat­te ihre Füße nicht ver­dor­ben. Im Au­gen­blick fand sie hier auf hei­mi­schem Strand die leich­ten, lan­gen Wan­der­schrit­te wie­der, die an­de­re mit viel Mühe ler­nen müs­sen. Mehr als ein Gold­grä­ber sah mit der­sel­ben Be­wun­de­rung wie Bi­shop auf ihre lan­gen, elas­ti­schen Bei­ne, aber die meis­ten blick­ten ihr ins Ge­sicht und freu­ten sich über den of­fe­nen, ka­me­rad­schaft­li­chen Blick ih­rer Au­gen. Wenn ei­ner sie an­lä­chel­te, lä­chel­te sie zu­rück, er­mun­ternd, hei­ter, mit­füh­lend, je nach­dem, aber im­mer ka­me­rad­schaft­lich.

Für sie schi­en die Zeit rück­wärts ge­rollt, auf ein­mal war sie wie­der in je­nes Mit­tel­al­ter zu­rück­ver­setzt, in dem sie her­an­ge­wach­sen, in dem es kei­ne Bah­nen und Au­to­mo­bi­le, nur Kar­ren und brei­te Bücken als Ver­kehrs­mit­tel gab. Män­ner, de­nen man an­sah, dass sie bis­her nur mit der Ak­ten­map­pe un­term Arm spa­ziert wa­ren, beug­ten sich un­ter schwe­ren Las­ten. Ihre Bei­ne be­weg­ten sich schwer und stol­pernd, sie wa­ren die­se An­stren­gung nicht ge­wöhnt, und ihre Ge­sich­ter perl­ten von Schweiß. An­de­re lu­den ihr Ge­päck mit stil­lem Tri­umph auf vier­räd­ri­ge Kar­ren und scho­ben los, aber sie blie­ben ste­cken, wo der ers­te große Stein ih­nen den Weg ver­sperr­te. Nach et­li­chem Kampf füg­ten sie sich dann den für Rei­sen in Alas­ka gel­ten­den Grund­sät­zen, lie­ßen den Kar­ren ste­hen oder zo­gen ihn an den Strand zu­rück, um ihn zu ei­nem fa­bel­haf­ten Preis an die Chechaquos zu ver­kau­fen, die noch spä­ter als sie ge­lan­det wa­ren. Neu­lin­ge wan­der­ten mit zehn­pfün­di­gen Colt-Re­vol­vern, Pa­tro­nen­gür­teln und Jagd­mes­sern drauf­los, aber bald merk­ten sie, wie un­nütz die­se Mord­ge­päck­stücke wa­ren. Re­vol­ver, Pa­tro­nen und Mes­ser gar­nier­ten ihre Spur.

Hier, an die­sem Strand, den da­mals noch kein Strom gold­gie­ri­ger Män­ner durch­flu­tet hat­te, war Fro­na Kind ge­we­sen. Hier hat­te sie im Gra­se ge­spielt und er­schau­ernd ge­hört, wie das Echo ihre Stim­me von Glet­scher zu Glet­scher trug und wi­der­hall­te. Über die­ses Gras stapf­ten jetzt zehn­tau­send Män­ner rast­los hin und her. Zehn­tau­send an­de­re wa­ren un­ter­wegs über den Chil­coot. Aber­mals Zehn­tau­send hat­ten die Päs­se schon über­wun­den und mar­schier­ten zu die­ser Stun­de die Gold­fel­der an.

Die Dyea stürz­te sich, wie in al­ten Ta­gen, rau­schend und to­send ins Meer, aber an ih­ren Ufern quäl­ten sich Män­ner in wo­gen­den Rei­hen an Tau­en und Rie­men, schlepp­ten schwer be­la­de­ne Boo­te her­an und lösch­ten die Fracht.

Die Tür zu dem La­den, in dem einst Bi­ber­fän­ger oder Pelz­händ­ler ihre be­schei­de­nen Ein­käu­fe ge­macht hat­ten, war jetzt von ei­ner lär­men­den Schar von Kun­den ver­sperrt. Wo einst ein ein­sa­mer Brief Mo­na­te und Jah­re dar­auf ge­war­tet hat­te, ab­ge­holt zu wer­den, sah Fro­na jetzt die Post in Hau­fen lie­gen. Auf­ge­reg­te Leu­te schri­en nach ih­rer Kor­re­spon­denz. Auch die Waa­ge vor der The­ke war um­la­gert. Ein In­dia­ner warf sei­nen Pa­cken auf das Wie­ge­brett, ein wei­ßer Be­am­ter krit­zel­te das Ge­wicht in sein No­tiz­buch, ein neu­er Pa­cken flog her­an, ver­schnürt und be­reit, auf dem Rücken ei­nes Man­nes über den Chil­coot zu rei­sen.

Zu Fro­nas Zei­ten war hin und wie­der ein­mal das Ge­päck ei­nes Gold­grä­bers oder Händ­lers für sechs Cent das Kilo über den Chil­coot trans­por­tiert wor­den. Der Chechaquo, des­sen Ge­päck ge­ra­de ab­ge­wo­gen wur­de, sah trau­rig in sei­ne Brief­ta­sche.

»Acht Cent«, bot er dem In­dia­ner.

Gro­ßes Hohn­la­chen.

»Vier­zig Cent«, ver­lang­te die Rot­haut.

Der Mann sah sich ängst­lich um, mit tief­trau­ri­gem Ge­sicht. Er las das Mit­ge­fühl in Fro­nas Au­gen und starr­te sie an.

»Stel­len Sie sich vor, Fräu­lein, drei Ton­nen Ge­päck hab’ ich und soll vier­zig Dol­lar für hun­dert Pfund be­zah­len! Das sind 2400 Dol­lar für drei­ßig Mei­len!« schrie er ganz ver­zwei­felt. »Was soll ich tun?«

Fro­na riet ihm: »Be­zah­len Sie die vier­zig Cent, sonst schmei­ßen sie Ih­nen den gan­zen Kram vor die Füße.«

Der Mann sag­te: »Dan­ke, Fräu­lein«, be­folg­te aber ih­ren Rat nicht, son­dern fing wie­der an zu han­deln. Der ers­te In­dia­ner trat vor und streif­te sich, ohne ein Wort zu sa­gen, die Tra­g­rie­men ab. Als der Gold­su­cher sich eben ent­schlos­sen hat­te nach­zu­ge­ben, er­höh­ten die Last­trä­ger ih­ren Preis auf 45 Cent. Er lä­chel­te trüb und nahm auch die­se For­de­rung an, aber in die­sem Au­gen­blick trat ein an­de­rer In­dia­ner zu der Grup­pe, flüs­ter­te ein paar Wor­te, und gleich dar­auf er­tön­te ein Hur­ra.

Im Handum­dre­hen hat­ten alle In­dia­ner ihre Las­ten ab­ge­wor­fen und lie­fen da­von, um die Nach­richt zu ver­brei­ten, von die­ser Stun­de an kos­te die Fracht nach dem Lin­der­mann­see fünf­zig Cent!

Über den Platz vor dem Hau­se gin­gen drei Män­ner, nach de­nen alle Ge­sich­ter sich dreh­ten und alle Häl­se sich reck­ten. Sie wa­ren schlecht ge­klei­det, ei­gent­lich zer­lumpt. In ei­nem zi­vi­li­sier­ten Ge­mein­we­sen hät­te der Dorf­po­li­zist ihre Pa­pie­re sehr ge­nau an­ge­schaut, denn er hät­te sie für Va­ga­bun­den ge­hal­ten.

»Der Fran­zo­sen-Louis!« flüs­ter­te ein Chechaquo sei­nem Kum­pan zu. »Be­sitzt drei El­do­ra­do-Claims in ei­nem Block! Sei­ne zehn Mil­lio­nen ist der schwer!«

Der Fran­zo­sen-Louis hat­te ir­gend­wo un­ter­wegs sei­nen Hut ver­lo­ren und durch ein aus­ge­fran­s­tes sei­de­nes Tuch er­setzt. Trotz sei­nen zehn Mil­lio­nen trug er das Ge­päck selbst auf sei­nem brei­ten Rücken.

»Der mit dem Bart ist der Strom­schnel­len-Bill, auch ei­ner von den El­do­ra­do-Kö­ni­gen.«

»Wo­her wis­sen Sie das?« frag­te Fro­na miss­trau­isch.

»Wo­her ich das weiß? Ich weiß es eben, ver­ste­hen Sie, Fräu­lein! Wenn ei­ner sein Bild alle fünf Mi­nu­ten in sämt­li­chen Zei­tun­gen hat, dann weiß man eben, wie er aus­sieht.«

»Wer ist der Drit­te?« frag­te sie. Ihr Be­richt­er­stat­ter stell­te sich auf die Ze­hen­spit­zen.

»Den kenn’ ich nicht«, ge­stand er be­trübt. Dann frag­te er sei­nen Ne­ben­mann.

»Du, der Ma­ge­re, mit dem aus­ra­sier­ten Voll­bart, der mit dem Lap­pen ums Knie, wer ist das?«

In die­sem Au­gen­blick aber stieß Fro­na einen Freu­den­schrei aus und stürz­te auf den Mann mit dem Voll­bart zu.

»Matt! Mein lie­ber, al­ter Matt!«

Der Mann schüt­tel­te ihr die Hand, aber sein Ge­sicht schi­en miss­trau­isch. Er hat­te kei­ne Ah­nung, mit wem er sprach.

»Du kennst mich nicht mehr, Matt? Un­ter­steh dich, mir zu sa­gen, dass du mich nicht mehr kennst! Wenn nicht so viel frem­de Leu­te hier wä­ren, be­kämst du jetzt auf der Stel­le einen Kuss, dass du’s nur weißt, al­ter Bär!«

»Na­tür­lich, ich ken­ne Sie na­tür­lich … aber wenn Sie mich tot­schla­gen, im Au­gen­blick kom­me ich nicht dar­auf …«

Sie zeig­te auf das Haus, in dem sie ge­bo­ren war.

»Jetzt hab’ ich’s!« rief er. Als er sie dann aber von oben bis un­ten ge­mus­tert hat­te, war er wie­der ent­täuscht. »Kann nicht sein. Muss mich ir­ren. In dem Stall da ha­ben Sie nie ge­wohnt.«

Fro­na nick­te hef­tig mit dem Kopf.

»Dann bist du’s also doch? Die klei­ne, blon­de Hexe, im­mer bar­fuß und mit blo­ßen Bei­nen? Die ich im­mer hab’ käm­men müs­sen?«

»Ja, ja!«

»Der klei­ne Sa­tan, der mit dem Hun­de­ge­spann durch­ge­brannt ist und mit­ten im Win­ter über den Pass woll­te, weil ihr der alte Matt er­zählt hat­te, dort drü­ben höre die Welt auf?«

»Matt, lie­ber al­ter Matt! Und weißt du noch, wie ich mit den Mäd­chen aus dem In­dia­ner­la­ger schwim­men ge­gan­gen bin?«

»Und ich dich gra­de noch an den Wu­scheln ge­kriegt hab’, wie du schon am Er­sau­fen warst!«

»Und wie du da­bei einen von dei­nen neu­en Gum­mi­schu­hen ver­lo­ren hast?«

»Na, ob ich das noch weiß! Gra­de erst bei dei­nem Va­ter ge­kauft, da im La­den, für zehn Dol­lar, Gott er­bar­me sich mei­ner.«

»Und dann bist du fort­ge­zo­gen … über den Pass ins Land hin­ein … und hast nichts mehr von dir hö­ren las­sen. Alle Welt hat ge­glaubt, du wärst tot.«

»Was du al­les noch weißt! Und warst doch so ein win­zi­ges Frau­en­zim­mer.«

»Acht Jah­re alt war ich.«

»Lass mich mal nach­rech­nen, Mä­del. Zwölf Jah­re war ich drin­nen im Land, heut’ zum ers­ten Mal wie­der an der Küs­te. Dann hast du jetzt also dei­ne zwan­zig auf dem Bu­ckel?«

»Und bin fast eben­so groß wie du, al­ter Matt!«

»Ein aus­ge­wach­se­nes, großes Mä­del und gar nicht so übel. So’n biss­chen mehr Fleisch könn­test du gern auf den Kno­chen ha­ben.«

»Mit zwan­zig braucht man kein Fett. Füh­le lie­ber hier!«

Sie streck­te ihm den ge­beug­ten Arm hin und zeig­te ihre Mus­keln.

»Don­ner­wet­ter!« Er griff tüch­tig zu. »Als ob du fürs täg­li­che Brot ge­schafft hät­test.«

»Das nicht, aber Keu­len­schwin­gen, Bo­xen, Fech­ten! Au­ßer­dem Schwim­men, zwan­zig Klimm­zü­ge hin­ter­ein­an­der! Und dann kann ich noch auf den Hän­den lau­fen!«

»Dann hast du dei­ne Zeit nicht schlecht an­ge­wen­det. Hier ha­ben die­se Kaf­fern er­zählt, du wärst fort­ge­reist, um da drü­ben Bü­cher zu büf­feln.«

»Das ist heu­te nicht mehr ganz so, Matt. Sie pfrop­fen ei­nem den Kopf nicht mehr so voll, dass die Bei­ne zu dünn wer­den, um ihn zu tra­gen. Aber du, was machst du, Matt? Was hast du in die­sen zwölf Jah­ren al­les ge­trie­ben?«

»Also schau mich an, Mä­del. Wie ich vor dir ste­he, bin ich Herr Matt­hew McCar­thy, Kö­nig Matt der Ers­te aus der El­do­ra­do-Dy­nas­tie. Mein Be­sitz ist un­be­grenzt, und ich hab’ mehr Gold­staub ge­macht, als ich je ge­träumt hät­te. Jetzt hab’ ich ge­nug, jetzt möcht’ ich wie­der mal einen an­stän­di­gen Whis­ky gra­ben. Ei­nen von der rich­ti­gen Sor­te, ehe ich st­er­be. Dazu fah­re ich rü­ber in die Staa­ten, denn hier her­aus kommt im­mer nur das ge­pansch­te Zeug. Au­ßer­dem will ich mich nach mei­nen Vor­fah­ren um­se­hen. Ich glau­be be­stimmt, dass ich wel­che habe. Wenn du im üb­ri­gen ein paar Pfund Gold­staub nö­tig hast, kannst du’s mir ja sa­gen.«

»Den hol’ ich mir selbst, wenn ich wel­chen brau­che.«

Der Ir­län­der Matt bahn­te sich jetzt sei­nen Weg durch die Men­ge der Chechaquos, die ehr­fürch­tig vor ihm zur Sei­te wi­chen, und in sei­nem Fahr­was­ser se­gel­te die leich­te, klei­ne Fro­na. In den Au­gen all die­ser Leu­te wa­ren sie bei­de eine Art Göt­ter des Nor­dens.

»Der El­do­ra­do-Kö­nig Matt McCar­thy und eine rich­ti­ge Wel­se, wirk­lich und wahr­haf­tig, eine Toch­ter von Ja­cob Wel­se!«

*

Sie trat aus dem glit­zern­den Bir­ken­wald her­aus und flog leicht über die be­tau­te Wie­se da­hin, wäh­rend die ers­ten Son­nen­strah­len auf ih­rem flat­tern­den Haar flamm­ten. Die Erde strotz­te von Feuch­tig­keit und quoll un­ter ih­ren Fü­ßen, und die nas­sen Pflan­zen schlu­gen ihr ge­gen die Knie, dass flüs­si­ge Dia­man­ten leuch­tend sprüh­ten. Die Mor­gen­rö­te färb­te ihre Wan­gen und fun­kel­te in ih­ren Au­gen, und sie glüh­te von Ju­gend und Lie­be. Denn da sie kei­ne Mut­ter ge­habt, war sie am Bu­sen der Na­tur auf­ge­wach­sen, und sie lieb­te die al­ten Bäu­me und die Sch­ling­pflan­zen lei­den­schaft­lich. Das un­deut­li­che Ge­mur­mel er­freu­te ihr Ohr, und der feuch­te Bro­dem der Erde stieg ihr süß in die Nase.

Dort, wo der obe­re Teil der Wie­se in ei­nem dunklen, en­gen Wald­weg ver­schwand, fand sie zwi­schen langs­ten­ge­li­gem Lö­wen­zahn und leuch­ten­den But­ter­blu­men ein Bü­schel Alas­ka-Veil­chen. Sie warf sich der Län­ge nach zu Bo­den, be­grub ihr Ant­litz in der duf­ten­den Küh­le und press­te die pur­pur­ne Pracht an sich. Sie schäm­te sich nicht. Sie war zu den kom­pli­zier­ten Le­bens­be­din­gun­gen der großen Welt, zu ih­rem Schmutz und zu ih­rer ver­derb­li­chen Hit­ze ge­wan­dert und war ein­fach, rein und ge­sund wie­der­ge­kehrt. Und sie freu­te sich des­sen, wie sie jetzt dalag und zu­rück­g­litt zu den al­ten Ta­gen, als die Welt mit dem Ho­ri­zont be­gon­nen und ge­en­det hat­te und sie über den Pass ge­reist war, um den Ab­grund zu schau­en.