Nationalismus

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Nationalismus
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Rabindranath Tagore

NATIONALISMUS

Aus dem Englischen von

Joachim Kalka

Mit einem Vorwort von

Pankaj Mishra


VORWORT

NATIONALISMUS IN JAPAN

NATIONALISMUS IM WESTEN

NATIONALISMUS IN INDIEN

VORWORT

1921 besuchte Rabindranath Tagore zum ersten Male Deutschland. Der Nobelpreis, der ihm 1913 verliehen worden war, hatte den indischen Dichter und Essayisten zu einer internationalen Berühmtheit gemacht – und, mit seinen langen Gewändern und seinem wallenden Haar, zu einer Ikone des mystischen Ostens. Große Menschenmengen besuchten in aller Welt seine Vorträge und Ansprachen. In Deutschland hatte Kurt Wolff vor dem Eintreffen des Dichters bereits acht Bände seiner Gesammelten Werke herausgebracht.

Tagores Ruhm machte jedoch auf Thomas Mann keinen großen Eindruck, er mag ihn sogar etwas irritiert haben. Mann lehnte es ab, einen Aufsatz über Tagore zu schreiben, und nahm eine Einladung, ihn kennenzulernen, nicht an. In einem Brief an Hermann Graf Keyserling gab er an, er stelle sich Tagore als allzu »pazifistisch-indisch« vor, »beseelt von einer etwas anämischen Humanität«. Als er dem indischen Besucher ein paar Wochen später im Hause Kurt Wolffs in München begegnete, notierte er in sein Tagebuch: »Der Eindruck einer feinen alten englischen Dame verstärkte sich.« Was Mann insbesondere irritiert haben mag, war, dass der langhaarige Inder »meine Identität wohl nicht aufgefaßt« hatte.

In all diesen Punkten täuschte sich Mann wahrscheinlich. Tagore hatte als junger Mann in Indien Deutsch gelernt; er bewunderte Goethe und Lessing und übersetzte einige Gedichte Heines ins Bengali. Er hatte die Entwicklung in Deutschland genau genug verfolgt, um bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts vor den gefährlichen Entwicklungen dort zu warnen. Er wusste wohl, wer Mann war, auch wenn er das Buch nicht gelesen hatte, das dieser drei Jahre zuvor unter dem Titel Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) veröffentlicht hatte.

In diesem langen, weitschweifigen Pamphlet hatte Mann die Werte des kosmopolitischen Humanismus, die Tagore teuer waren, vehement kritisiert. Er hatte seinen eigenen Bruder Heinrich als »Zivilisationsliteraten« angegriffen: Das Wort sollte demokratisch gesinnte Autoren bezeichnen, die ihren Lesern nicht ohne Pedanterie beibrachten, fortschrittlich und zivilisiert zu sein wie die Franzosen, und so die Deutschen zu »Selbstekel und Einfremdung, kosmopolitischer Hingabe und Selbstentäußerung« zwangen. Jahrzehnte später räumte Mann seine intellektuelle Torheit ein; er sagte von einem Artikel Goebbels’, er entspreche in etwa dem, »wie ich vor 30 Jahren geschrieben habe«.

Auch fast ein Jahrhundert später sind die prononcierten Gegensätze zwischen Mann und Tagore instruktiv. Der deutsche Romancier nahm die Perspektive des aufsteigenden, aber in seinem Ehrgeiz frustrierten imperialen Nationalstaats ein. Der indische Autor, der in einem kolonisierten Land lebte, sprach aus der Erfahrung heraus, einem solchen mächtigen imperialen Nationalstaat unterworfen zu sein – Großbritannien. Es ist nicht überraschend, dass die feine alte englische Dame im Nationalismus ein krankhaftes neues Element in den menschlichen Beziehungen sah, während Mann den Nationalstaat noch als zentrales Ideologem der Moderne fetischisierte, eben als sich der Nationalismus anschickte, in sein extremstes Stadium zu treten.

In seinem beeindruckend einsichtsvollen Buch Nationalismus – das aus drei Vorträgen besteht, die Tagore im Jahre 1916 in den USA und in Japan gehalten hatte – stellt der Autor eine einfache Frage: »Was ist so eine Nation?« Seine Antwort schneidet durch alle Idealisierungen hindurch: »Eine Nation, im Sinne der politischen und wirtschaftlichen Vereinigung eines Volkes, ist das Aussehen, das eine ganze Bevölkerung annimmt, wenn sie für einen mechanischen Zweck organisiert wird.« Im Gegensatz zu den gewöhnlichen menschlichen Beziehungen in der Gesellschaft, die »als solche keinen weiteren Zweck« haben, reguliert und diszipliniert die moderne westliche Nation ihre Bevölkerung und lenkt ihre kollektive Energie auf bestimmte materielle Ziele.

Für ein Buch, das von einem angeblich verträumten Dichter geschrieben worden ist, enthält Nationalismus eine überraschende Fülle solcher präziser Definitionen. Ob die Nation aus einem ethnischen, kulturellen oder sprachlichen Zusammenhang hervorgeht – sie ist für Tagore eindeutig modern, westlich, exklusiv, größer als die Summe ihrer Teile und ausgestattet mit einer kalten, instrumentellen Rationalität, welche der Staat propagiert. Die Nation ist stets der Nationalstaat, in intensiver wirtschaftlicher und militärischer Konkurrenz mit anderen Nationalstaaten gefangen. Als solcher repräsentiert der Nationalstaat den »organisierte(n) Eigennutz eines ganzen Volkes …, jene(n) Zug an ihm, der am wenigsten menschlich und geistig ist«; »die nationale Maschinerie des Geschäfts und der Politik« stößt »säuberlich gepresste Bündel an Menschheit aus, die ihren Zweck und ihren hohen Marktwert haben«.

Tagore ist sich klar über das völlig Neue dieses organisierten Eigennutzes. »Noch nie gab es so fürchterliche Eifersucht, einen solchen Verrat am Vertrauen; all dies nennt man Patriotismus, und dessen Glaubensbekenntnis heißt Politik.« Mehr noch, »diese Idee der Nation, die heute allgemein akzeptiert wird, möchte den Kult des Egoismus als moralische Pflicht verkaufen … sie führt nicht nur Raubzüge durch, sie bedroht das Lebenszentrum der Menschheit.« Sie hat eine neue politische Zivilisation errichtet, wo die Nationen in einer »Atmosphäre des Misstrauens, der Gier und der Panik leben«. Eine solche Zivilisation »ist raubtierhaft und kannibalisch, sie nährt sich von den Ressourcen anderer Völker«, und sie »versucht alle Anzeichen von Größe außerhalb der eigenen Grenzen zu ersticken.«

In demselben Jahr, da Lenin den Imperialismus als das letzte Stadium des Kapitalismus identifizierte, sah Tagore den manisch konkurrierenden Nationalismus als den Motor für die kollektive Mobilisierung, die Reglementierung und das gierige Raufen um Territorien, die Europa in den Ersten Weltkrieg getrieben hatten. Er schrieb:

Doch wenn mit Hilfe der Wissenschaft und der Perfektionierung der Organisationsformen diese Macht zu wachsen anfängt und Reichtümer erzeugt, dann überschreitet sie ihre Grenzen mit erstaunlicher Schnelligkeit. Denn dann stachelt sie alle benachbarten Länder mit der Gier nach materiellem Wohlstand auf, mit der sich hieraus ergebenden gegenseitigen Eifersucht, mit der Angst, die das mächtige Wachstum eines jeden Landes nun zwangsläufig auslöst. Es kommt die Zeit, da diese Macht nicht mehr innehalten kann, denn die Konkurrenz wird schärfer, die Organisation wuchert immer weiter und die Selbstsucht gelangt zur Alleinherrschaft.

Mit seiner hellsichtigen Wahrnehmung der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts ist Tagore ein Vorläufer jener europäischen Autoren und Denker – Mann, Valéry, Musil, Jaspers, Hannah Arendt und viele andere –, die sich im Zeitalter zweier Weltkriege und des Genozids mit dem Zusammenbruch der Zivilisation im Herzen des modernen Westens auseinanderzusetzen versuchten. Mit seiner Betonung der mechanischen, organisatorischen Seite des Nationalstaates nahm Tagore auch eine Kritik vorweg, die von Foucault, Agamben und Esposito ausführlich theoretisch fundiert worden ist, die Kritik der regulativen und disziplinierenden Bio-Macht des modernen Staates.

Was noch wichtiger ist: Tagore sah unsere eigene Epoche des aggressiven nichtwestlichen Nationalismus voraus. Er ließ nie ab, Japan, den mächtigsten asiatischen Staat seiner Ära, wegen der Übernahme des Nationalismus westlichen Stils zu kritisieren: jener politischen Zivilisation, die auf Exklusivität beruht »und die ganze Welt überwuchert hat wie ein unaufhaltsames Unkraut«. Er wäre in seiner Sichtweise durch das Schicksal Japans bestätigt worden, als das Land in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vom Nationalismus in den suizidalen Militarismus schlingerte. Heute aber regiert in Tagores eigenem Land eine Partei, die den hinduistischen Suprematismus predigt und sich von Nazis und Faschisten inspirieren lässt; sie mehrt ihre Macht, indem sie Minderheiten verteufelt und grotesk übertriebene Phantasien von indischer Stärke verbreitet.

Die indischen Wähler wählten unbegreiflicherweise Narendra Modi, einen des Massenmordes verdächtigen Politiker, trotz seiner erwiesenen Absurdität und Inkompetenz wieder; hier bleibt Tagores Erklärung plausibel: »Das Volk akzeptiert diese allgegenwärtige Bewusstseinssklaverei fröhlich und stolz, weil es das nervöse Bedürfnis hat, sich in eine Maschine der Macht zu verwandeln, eine sogenannte Nation, und anderen Maschinen in ihrer kollektiven Weltlichkeit nachzueifern.«

 

Tagores Kritik dieses mimetischen Nationalismus begann mit der einfachen Idee, dass es für Asiaten keinen Grund gebe, anzunehmen, »der Aufbau einer Nation nach europäischem Muster sei die einzige Form von Zivilisation und das einzige Ziel des Menschen«. Er war in frühen Jahren von militanten indischen Nationalisten fasziniert gewesen. Doch kam er zu der Überzeugung, dass »meine Landsleute ihr wahres Indien dadurch erlangen werden, dass sie gegen eine Erziehung kämpfen, die behauptet, ein Land sei etwas Größeres als die Ideale der Menschheit.«

Er spürte durchaus die schiere Potenz des Nationalismus: »Die Idee der Nation ist eine der mächtigsten Drogen, die je erfunden wurden. Unter ihrem betäubenden Einfluss kann das ganze Volk einem systematischen Programm des aggressivsten Egoismus folgen, ohne sich im mindesten der moralischen Perversion dieses Vorgangs bewusst zu sein – tatsächlich wird es gefährlich zornig, wenn man darauf hinweist.«

Tagore selbst sah sich mit viel Empörung und Feindseligkeit konfrontiert, als er asiatischen Studenten unangenehme Wahrheiten über den Nationalismus sagte. Thomas Manns Misstrauen erstreckte sich quasi über die ganze Welt; Studenten in China, Nationalisten in Indien und Japan und auch besiegte Deutsche wandten sich gegen Tagore. Bei einer Veranstaltung in China wurde er von Studenten ausgebuht und mit Rufen verhöhnt wie: »Geh fort, Sklave eines verlorenen Landes! Wir wollen hier nicht Philosophie, wir wollen Materialismus!«

Gegen Ende seines Lebens (er starb 1941) warnte Tagore: »Die sorgfältig gehegte, aber schädliche Pflanze des nationalen Egoismus samt auf der ganzen Welt. Die Schuljungen des Ostens jubeln über die Ernte aus diesen Samenkörnern – weil diese Ernte der Antipathie mit ihrem sich endlos wiederholenden Zyklus einen sonoren westlichen Namen trägt.« Heute, da der Ansteckungsstoff des konkurrierenden Nationalismus sich immer rascher auf der ganzen Welt und in allen von Tagore bereisten Ländern ausbreitet, haben dessen Warnungen vor dem »kollektiven Egoismus der Völker, der ihre Herzen überall verhärtet« wieder besondere Bedeutung, und die traumatische Geschichte der hundert Jahre, die seit der Niederschrift seines Buches vergangen sind, hätte uns lehren müssen, wie töricht es war, diese Warnungen zu ignorieren.

Pankaj Mishra

NATIONALISMUS IN JAPAN

Die schlimmste Form der Sklaverei ist die Niedergeschlagenheit. Sie bannt die Menschen in ein Gefängnis der Hoffnungslosigkeit, weil sie ihr Selbstvertrauen verloren haben. Immer wieder hat man uns einreden wollen (nicht ohne eine gewisse Berechtigung), Asien lebe in der Vergangenheit – es sei ein üppiges Mausoleum, das alle seine Schätze zeige, um die Toten unsterblich zu machen. Asien, hieß es, werde niemals den Weg des Fortschritts einschlagen, allzu störrisch blicke es zurück. Wir haben diese Vorwürfe hingenommen und nach und nach selbst daran geglaubt. In Indien aber ist ein großer Teil der gebildeten Bevölkerung müde, sich dieses Vorwurfs ewig zu schämen – und nun versuchen die Menschen mit allen Mitteln, welche die Selbsttäuschung ihnen einflüstert, den Vorwurf umzumünzen in einen Vorwand zur Prahlerei. Wer freilich prahlt, versteckt nur seine Beschämung, er glaubt nicht wirklich an sich selbst.

Während alles stillstand und wir Asiaten uns wie in einem Akt der Selbsthypnose eingeredet hatten, es könne niemals anders sein, erhob sich plötzlich Japan aus seinen Träumen, ließ mit Riesenschritten Jahrhunderte der Untätigkeit hinter sich und überholte mit Spitzenleistungen die Gegenwart. Das hat den Bann gebrochen, unter dem wir lange wie betäubt gelegen hatten – dabei hatten wir doch schon diese Betäubung für die natürliche Daseinsbedingung gewisser Rassen in gewissen geographischen Zonen gehalten. Wir hatten vergessen, dass in Asien große Reiche gegründet worden waren, dass Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Literatur hier blühten und dass hier die Wiege aller großen Religionen der Welt stand. Insofern kann man nicht behaupten, dass der Boden und das Klima Asiens notwendigerweise für geistigen Stillstand sorgen und alle Fähigkeiten verkümmern lassen, welche die Menschen voranbringen.

So senkte sich die Dunkelheit auf alle Länder Asiens. Die Zeit schien nicht mehr voranzurücken, und Asien ließ ab, neue Nahrung zu sich zu nehmen, es nährte sich von der eigenen Vergangenheit, was im Grunde bedeutet: sich selbst aufzufressen. Die Stille war wie der Tod, und die große Stimme schwieg, die einst Botschaften der ewigen Wahrheit verkündet hatte, Botschaften, welche die Menschen über viele Generationen hinweg vor Befleckung bewahrten, wie der Luftozean den Erdball rein hält und alles Unsaubere von ihm nimmt.

Aber das Leben hat seinen Schlaf, seine Phasen der Untätigkeit, in denen es seine Bewegung einstellt, nichts mehr zu sich nimmt, von seinen Reserven zehrt. Dann wird es hilflos, die Muskeln erschlaffen, und es ist einfach, dieses Leben wegen seiner Reglosigkeit zu verhöhnen. Im Lebensrhythmus muss es jedoch Pausen der Erneuerung geben. Das Leben verströmt sich immer in seinen Aktivitäten, verbrennt all seine Energie. Dies aber kann nicht immer so weitergehen, stets folgt ein passives Stadium, in dem alle ausgreifenden Aktionen eingestellt werden, in dem man auf Abenteuer verzichtet, um auszuruhen und sich allmählich zu erholen.

Der Geist verfährt sparsam – er bildet gern Gewohnheiten heraus und bewegt sich in eingefahrenen Geleisen, was ihm die Mühe erspart, jeden Schritt neu zu überdenken. Einmal herausgebildete Ideale machen ihn träge. Er hat Angst, das, was er sich angeeignet hat, durch neuerliche Mühen aufs Spiel zu setzen. Er will völlige Sicherheit genießen, indem er seinen Besitz hinter den Verteidigungsmauern der Gewohnheit birgt. Das heißt aber eigentlich, dass er auf den vollen Genuss seines Besitzes verzichtet. Es ist eine Art Geiz. Die lebendigen Ideale dürfen den Kontakt mit dem stets wachsenden und veränderlichen Leben nicht verlieren. Ihre wahre Freiheit finden sie nicht innerhalb der Grenzmauern der Sicherheit, sondern auf der weiten Landstraße des Abenteuers, mitsamt den vielen Risiken neuer Erfahrungen.

Eines Morgens schaute die Welt überrascht auf, als Japan die Mauern seiner alten Gewohnheiten in einer einzigen Nacht durchbrach und triumphierend aus ihnen heraustrat. Dies geschah in so unglaublich kurzer Zeit, dass es eher wie ein Kostümwechsel wirkte als wie der Aufbau neuer Strukturen. Japan zeigte die zuversichtliche Kraft der Reife und gleichzeitig die Frische, das unendliche Potential eines neuen Lebens. Man äußerte die Befürchtung, dies sei nur ein bizarrer historischer Zufall, ein Gaukelspiel der Epoche, eine Seifenblase: makellos gerundet und glänzend, aber hohl und substanzlos. Doch Japan hat eindeutig bewiesen, dass seine plötzlich enthüllte Macht kein kurzlebiges Phänomen ist, kein Zufallsprodukt, das aus dem Dunkel kommt und gleich wieder dem Vergessen anheimfällt.

In Wahrheit ist Japan alt und jung zugleich. Japan besitzt das Erbe der alten Kultur des Ostens – jener Kultur, die den Menschen lehrt, wahren Reichtum und wahre Macht in der Seele zu suchen, der Kultur, die dem Menschen trotz aller Verluste und Gefahren Selbstbeherrschung schenkt, die lehrt, sich ohne Kalkül und ohne Hoffnung auf Gewinn aufzuopfern, des Todes nicht zu achten und all die vielen Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die wir den anderen Menschen als soziale Wesen schulden. Kurz, Japan ist aus dem uralten Osten hervorgegangen wie eine Lotosblüte, die in ungezwungener Anmut emporwächst und mit der Tiefe verbunden bleibt, der sie entspringt.

Japan, Kind des alten Ostens, hat aber auch furchtlos alle Gaben der Moderne für sich beansprucht. Es hat seine Kühnheit bewiesen, indem es mit alten Gewohnheiten gebrochen hat, nutzlosen Anhäufungen jenes trägen Geistes, der Sicherheit hinter Schloss und Riegel sucht. So ist Japan in Verbindung mit der neuen Zeit getreten und hat die Verantwortung einer modernen Zivilisation mit Eifer und Geschick auf sich genommen.

Das ist es, was das übrige Asien ermutigt hat. Wir haben gesehen, dass Leben und Kraft in uns sind; es muss nur die tote Kruste aufgesprengt werden. Wir haben gesehen, dass es Tod bedeutet, Schutz bei den Toten zu suchen, und dass Leben nur heißen kann, das ganze Risiko des Lebens einzugehen.

Ich kann nicht glauben, dass Japan das geworden ist, was es nun ist, indem es den Westen bloß nachgeahmt hat. Das Leben lässt sich nicht nachahmen, Stärke lässt sich nicht lange imitieren – denn eine Imitation ist lediglich ein Zeichen von Schwäche. Sie hindert unsere wahre Natur, sie ist uns immer im Wege. Es ist, als bekleideten wir unser Skelett mit der Haut eines anderen, was zu ständigen Konflikten zwischen Knochen und Haut führen muss.

In Wahrheit gehört die Wissenschaft nicht zur Natur des Menschen, sie ist nur Wissen und Übung. Wer die Gesetze des materiellen Universums kennt, verändert damit nicht seine tiefere Menschennatur. Man kann sich Wissen von anderen leihen, nicht aber ein Temperament.

Solange wir noch im Nachahmungsstadium unseres Lernprozesses sind, können wir zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen nicht unterscheiden, zwischen dem, was übertragbar ist und was nicht. Es ist so etwas wie der Glaube des primitiven Geistes an die magischen Qualitäten der zufälligen äußeren Form einer großen Wahrheit. Wir haben Angst, etwas Wichtiges und Wirksames zu verlieren, wenn wir den Kern ohne seine Hülse essen. Doch während unsere Gier darauf zielt, alles unterschiedslos zu verschlingen, kann unsere Natur nur das assimilieren, was ein lebender Organismus wirklich benötigt. Überall wird das Leben seine Wahl treffen und etwas annehmen oder ablehnen, wie es seiner inneren Verfassung entspricht. Der lebende Organismus wird nicht wie seine Nahrung; er verwandelt die Nahrung in seinen eigenen Körper. So erstarkt er, und nicht durch bloße Akkumulation oder durch Aufgabe seiner persönlichen Eigenart.

Japan hat seine Nahrung aus dem Westen importiert, aber nicht seine Natur. Japan kann sich nicht in den wissenschaftlichen Details verlieren, die es im Westen erworben hat, und in einer bloß geliehenen Maschinerie aufgehen. Es hat seine eigene Seele, die sich gegenüber allen technischen Bedürfnissen durchsetzen muss. Dass dies in der Tat möglich ist und dass die Assimilation voranschreitet, das zeigen die Symptome robuster Gesundheit, die Japan jetzt aufweist. Und ich hoffe sehr, dass Japan nie aus bloßem Stolz auf seine Anleihen im Ausland den Glauben an die eigene Seele verliert. Denn ein solcher Stolz ist eigentlich eine Demütigung, er führt am Ende zu Armut und Schwäche. Es ist der Stolz eines Dandys, der sich mehr Gedanken über seinen Hut macht als über seinen Kopf.

Die ganze Welt wartet, was diese große östliche Nation mit den Möglichkeiten und Verantwortungen anfangen wird, die sie aus den Händen der Moderne angenommen hat. Wenn es um eine bloße Reproduktion des westlichen Modells ginge, dann blieben diese großen Erwartungen unerfüllt. Denn es gibt ernste Fragen, welche die westliche Zivilisation aufgeworfen, aber nie wirklich vor der Welt beantwortet hat. Der Konflikt zwischen dem Individuum und dem Staat, zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Mann und Frau; der Konflikt zwischen der Gier nach materiellem Gewinn und dem geistigen Leben des Menschen, zwischen dem organisierten Egoismus einzelner Nationen und den höheren Idealen der Menschheit; der Konflikt zwischen all der komplizierten Hässlichkeit, die von großen wirtschaftlichen und staatlichen Organisationen untrennbar ist, und den natürlichen Instinkten des Menschen, die nach Einfachheit, Schönheit und Muße verlangen – diese Widersprüche müssen auf eine noch nie erträumte Art harmonisiert werden.

Wir haben gesehen, wie der große Strom der Zivilisation in dem Müll erstickt, der ihm durch zahllose Kanäle zugeführt wird. Wir haben gesehen, dass diese Zivilisation trotz aller vielgepriesenen Menschenliebe zur größten Bedrohung der Menschheit geworden ist, weit schlimmer als die Ausbrüche nomadischer Barbarei, unter denen die Menschen in früheren Zeitaltern litten. Wir haben gesehen, dass diese Zivilisation, die immer das Lied der Freiheit singt, schlimmere Formen der Sklaverei hervorgebracht hat, als es sie je in früheren Gesellschaftsformen gegeben hat – eine Sklaverei, deren Ketten unzerbrechlich sind, entweder weil sie unsichtbar bleiben oder weil sie Namen und Anschein der Freiheit selbst tragen. Wir haben gesehen, wie der Mensch unter dem Eindruck der ungeheuren Dreckigkeit dieser Zivilisation jeden Glauben an die heroischen Lebensideale verloren hat, die ihn groß gemacht haben.

 

Ihr könnt deshalb nicht einfach leichten Herzens die moderne Zivilisation mit all ihren Tendenzen, Methoden und Strukturen akzeptieren und Euch in dem Glauben wiegen, diese seien unvermeidlich. Ihr müsst Euren östlichen Geist befragen, Eurer inneren Stärke folgen, Eurer Liebe zum Einfachen, Eurer Anerkenntnis sozialer Verpflichtungen, um diesem großen ungefügen Vehikel des Fortschritts, das mit misstönend kreischenden Rädern einherrollt, einen neuen Weg zu bahnen. Ihr müsst unbedingt die immensen Opfer an Menschenleben und an Freiheit verringern, welche diese Zivilisation jeden Augenblick fordert. Ihr habt lange Generationen hindurch auf Eure ganz eigene Weise gefühlt und gedacht und gearbeitet, auf Eure Art das Leben genossen und das Göttliche verehrt, und das alles lässt sich nicht wie ein altes Gewand abstreifen. Es ist in Eurem Blut, in Eurem Mark, in Eurem Fleisch, in Eurem Hirn, und es muss all das verändern, was Ihr in die Hand nehmt, auch wenn Ihr es nicht merkt, sogar wenn Ihr es nicht wollt. Einst habt Ihr die Probleme des Menschen zu Eurer eigenen Zufriedenheit gelöst, Ihr hattet Eure Lebensphilosophie und habt Eure eigene Lebenskunst entwickelt. All das müsst Ihr auch auf die gegenwärtige Situation anwenden, und dann wird sich eine Neuschöpfung ergeben, nicht lediglich eine Wiederholung – eine Schöpfung, die aus der Seele Eures Volkes kommt und von dieser Volksseele der Welt stolz als Beitrag zur Wohlfahrt der Menschheit dargeboten wird. Unter allen Nationen Asiens hat Japan die Freiheit, all das Material, das Ihr im Westen gesammelt habt, Eurem Genie und Eurem Bedürfnis entsprechend zu verwenden. Insofern ist Eure Verantwortung umso größer, denn mit Eurer Stimme wird Asien Antwort auf jene Fragen geben, welche Europa der Menschheitsversammlung vorgelegt hat. In Eurem Land werden die Experimente durchgeführt werden, mit denen der Osten die Aspekte der modernen Zivilisation verändern wird, mit denen er ihr Leben einhauchen wird, wo sie nur eine Maschine ist. Er wird das menschliche Herz an die Stelle kalter Effizienz setzen, weil ihm nicht so sehr an Macht und Erfolg gelegen ist als an harmonischem, lebendigem Wachstum, an Wahrheit und Schönheit.

Ich will Euch an die Zeiten erinnern, als das ganze östliche Asien von Burma bis Japan mit Indien durch Bande der engsten Freundschaft verbunden war, der einzig natürlichen Verbindung, die es zwischen Nationen gibt. Es gab eine lebendige Kommunikation der Herzen, es entwickelte sich ein Nervensystem, das Nachrichten über die tiefsten Bedürfnisse der Menschheit zwischen uns hin und her trug. Wir hatten keine Angst voreinander; wir mussten uns nicht bewaffnen, um uns gegenseitig in Schach zu halten; unsere Beziehungen beruhten nicht auf Eigeninteresse, auf der Durchsuchung und Plünderung der Taschen des Anderen; man tauschte Ideen und Ideale, Geschenke der höchsten Liebe wurden geboten und genommen; kein Unterschied der Bräuche und Sprachen hinderte uns daran, uns in herzlicher Aufrichtigkeit zu begegnen; kein Rassenstolz, keine dreiste Illusion physischer oder geistiger Überlegenheit behinderte unsere Beziehung; unsere Künste und Literaturen blühten im Sonnenschein dieser Vereinigung der Herzen auf, und Rassen, die verschiedenen Ländern und Sprachen angehörten und eine verschiedene Geschichte hatten, erkannten die höchste Einheit des Menschseins an und die tiefste Liebe. Sollten wir uns nicht auch daran erinnern, dass Eure Nation in eben jenen Tagen des Friedens und des guten Willens, als sich die Menschen im Dienst dieser hohen Ziele zusammenschlossen, jenes Elixier der Unsterblichkeit destillierte, das nun Eurem Volk dazu verholfen hat, in einer neuen Zeit wiedergeboren zu werden, ihm geholfen hat, seine alten abgelebten Strukturen zu überwinden, sich zu erneuern und unversehrt aus der wunderbarsten Revolution hervorzugehen, welche die Welt gesehen hat?

Die politische Zivilisation, die aus der Seele Europas hervorgegangen ist und die ganze Welt überwuchert hat wie ein unaufhaltsames Unkraut, beruht auf Exklusivität. Sie ist immerfort damit beschäftigt, die Fremden fernzuhalten oder auszurotten. Sie ist raubtierhaft und kannibalisch, sie nährt sich von den Ressourcen anderer Völker und sucht deren ganze Zukunft zu verschlingen. Sie hat immer Angst davor, dass andere Rassen ein hohes Niveau erreichen könnten, sie bezeichnet dies als Gefahr und versucht alle Anzeichen von Größe außerhalb der eigenen Grenzen zu ersticken, sie unterdrückt schwächere Menschenrassen und zwingt sie, ewig in ihrer Schwäche gefangen zu bleiben. Ehe diese politische Zivilisation an die Macht kam und ihr hungriges Maul weit genug aufriss, um ganze Kontinente zu verschlucken, hatten wir auch schon Kriege, Plünderungen, Herrschaftswechsel und deren böse Folgen, doch niemals bot sich der Anblick einer so furchtbaren und hoffnungslosen Fressgier, eines Schauspiels, bei dem so viele Nationen übereinander herfallen und einander verschlingen wollen, bei dem so riesige Maschinerien große Teile der Erde zu Hackfleisch verwandeln, bei dem eine so fürchterliche konkurrierende Eifersucht sich gegenseitig mit Zähnen und Klauen den Leib aufreißt. Diese politische Zivilisation ist wissenschaftlich, nicht menschlich. Sie ist mächtig, weil sie alle ihre Kräfte auf ein einziges Ziel konzentriert, wie ein Millionär, der Geld auf Kosten seiner Seele macht. Sie verrät den, der ihr vertraut, sie lügt ohne Scham, sie stellt in ihren Tempeln riesige Götzenbilder der Habgier auf und ist stolz auf die teuren Zeremonien, die dort stattfinden und als Patriotismus bezeichnet werden. Und es lässt sich prophezeien, dass das so nicht weitergehen kann. Es gibt auf der Welt moralische Gesetze, die sowohl für Individuen wie für Organisationsformen gelten. Man kann diese Gesetze nicht im Namen der Nation verletzen und gleichzeitig als Person ihre Vorteile genießen wollen. Die öffentliche Unterminierung ethischer Ideale übt nach und nach ihre Wirkung auf jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft aus, sie erzeugt geheime Schwäche und führt zu jenem zynischen Misstrauen allen heiligen Dingen gegenüber, welches das wahre Symptom der Greisenhaftigkeit ist. Man muss bedenken, dass diese politische Zivilisation, dieser Glaube an nationalen Patriotismus, noch nicht lange erprobt worden ist. Die Lampe des alten Griechenlands ist in dem Lande erloschen, wo sie entzündet wurde; die Macht Roms liegt begraben unter den Ruinen seines Imperiums. Doch die Zivilisation, deren Grundlage eine menschliche Gesellschaft ist und das geistige Ideal des Menschen, lebt immer noch in China und in Indien. Sie mag schwach und klein wirken, misst man sie am Maßstab der mechanischen Macht moderner Zeit, doch wie ein kleines Samenkorn enthält sie immer noch Leben und wird keimen und wachsen und ihre wohltätigen Zweige ausbreiten, wenn die Zeit kommt und der Regen der Gnade vom Himmel auf sie niedergeht. Ruinen von Wolkenkratzern der Macht aber und die zerbrochene Maschinerie der Gier kann nicht einmal Gottes Regen erwecken; denn sie gehörten nicht dem Leben an, sondern standen dem Leben immer entgegen – es sind Überbleibsel einer Rebellion, die an der Ewigkeit zerschellt ist.

Nun wirft man uns vor, die Ideale, die uns im Osten teuer sind, seien statisch; sie hätten nicht den Drang in sich, sich fortzubewegen, neue Perspektiven des Wissens und der Macht zu eröffnen; die philosophischen Systeme, auf welche sich die uralten Zivilisationen des Ostens stützen, würden trotz aller äußeren Gegenbeweise stur bei ihren subjektiven Gewissheiten verharren. Dies beweist nur, dass man bei unklarem Wissen dazu neigt, den Gegenstand des Wissens selbst der Unklarheit zu bezichtigen. Für einen westlichen Beobachter scheint unsere Zivilisation reine Metaphysik, wie für einen Tauben das Klavierspiel nur eine Bewegung der Finger scheint und keine Musik. Er kann sich nicht vorstellen, dass wir in der Wirklichkeit eine tiefe Grundlage gefunden haben, auf der wir unsere Institutionen aufbauen.

Leider bedürfen alle Beweise für die Wirklichkeit der Verwirklichung. Die Realität der Szene vor dir hängt ab von dem Umstand, dass du sehen kannst, und es ist schwierig für uns, einem Skeptiker zu beweisen, dass unsere Zivilisation nicht lediglich ein nebulöses System abstrakter Spekulationen ist, dass sie etwas errungen hat, das eine positive Wahrheit darstellt – eine Wahrheit, die dem Menschenherzen Schutz und Nahrung bietet. Sie hat einen inneren Sinn entwickelt – einen visionären Sinn, eine Vision der unendlichen Wirklichkeit in den endlichen Dingen.

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