Extra Krimi Paket Sommer 2021

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X.

Es dämmerte schon, als Glasauge ins Zimmer schlüpfte und geräuschlos die Tür verriegelte. Vor einer halbe Stunde war sie aufgewacht, einer der üblichen Angstträume hatte sie geweckt, in deren Mittelpunkt immer er stand, das Monster, die Maschine. Er trank nicht, rauchte nicht, schwätzte nicht, ermüdete nicht, jemand hatte ihn darauf programmiert, die Papiere zu finden, um jeden Preis, und das würde er erledigen, stur wie ein Panzer, unerbittlich wie ein Roboter. Manchmal hielt sie ihn für einen Killer, dann zweifelte sie wieder, weil er ihr so unsäglich dumm vorkam.

»Vielleicht gibt es diese Papiere gar nicht«, hatte sie einmal zu bedenken gegeben und seinem Glasaugenblick standgehalten, obwohl ihre Lippen zitterten. Eine Antwort bekam sie nicht, hatte sie auch nicht erwartet. Aber mit wem sollte sie reden?

Die anderen, vom Verfassungsschutz, vom Bundesnachrichtendienst, vom Zollkriminalamt, hatten sie doch längst entdeckt, sie und das zweite Team, aber das schien ihn nicht zu stören. War er so verblendet, so beschränkt, dass er die Gefahr nicht erkannte? Warum griffen die anderen nicht zu? Dafür musste es einen Grund geben, doch von ihm würde sie keine Silbe erfahren.

Schritte kamen näher, sie unterdrückte einen Schluchzer. Jeden Abend fiel er über sie her, regelmäßig wie eine Maschine, ein schweigendes Monster. Auf was hatte sie sich da eingelassen? Und das alles nur, weil er nicht aufgepasst und übersehen hatte, dass die Frau doch im Haus war, vor der er dann in Furcht oder Panik weglief, statt auch sie umzulegen. Doch dazu hatte er keinen Auftrag gehabt, und den Bericht hatte er auch nicht gefunden! Eine Leiche, zwei Leichen, lebenslänglich war ihm so oder so gewiss.

Unter seinen Stößen jammerte sie vor Schmerzen auf.

Sonntag, 24. September

Sauna und Gymnastik betrachtete Rogge als konzessionierte Formen von Masochismus, aber Schwimmbecken liebte er, zumal dann, wenn er sie wie jetzt ganz allein für sich hatte. Auch den Frühstücksraum betrat Rogge als Erster.

Nach dem Frühstück zahlte er und quälte sich noch einmal zur Von-Haaren-Allee durch. Auch am heiligen Sonntag litt das Viertel unter akuter Parkplatznot, Rogge lief kreuz und quer, bis er das Coupé entdeckte, und stiefelte anschließend zum Haus. Diesmal schnarrte der Offner und er betete, dass Opa Vorwerk nicht am Türspion klebte.

Fuhrmann sah aus, als plage ihn ein veritabler Kater. Unrasiert, ungekämmt, in einem schmuddeligen Trainingsanzug, die Augen rot unterlaufen, sichtlich nicht ausgeschlafen. Er mochte Mitte vierzig sein und Rogge schätzte, dass er nüchtern und gewaschen, in einem ordentlichen Anzug noch gut genug aussah, um etwas unbedarfte Frauen in Onkels Tom Hütte zu beeindrucken. Fuhrmanns weicher Mund verriet Gemeinheit. In Onkel Toms Hütte war er Rogge gestern nicht aufgefallen, allerdings zuckte Fuhrmann zusammen, bevor Rogge etwas gesagt hatte.

»Morgen«, brummte Rogge. »Kann ich Sie einen Moment sprechen?«

»Um was geht es denn?«

Ohne dieses erschrockene Zucken hätte Rogge die höfliche Platte mit dem Immobilienfonds aufgelegt, aber dieses Augenflackern verkündete etwas, das ihn interessierte. Angst?

»Müssen wir das im Treppenhaus klären?«

»Ich habe - Besuch.«

»Na und?«

Fuhrmann zögerte, drehte unruhig den Kopf in die Wohnung, willigte endlich kleinlaut ein: »Meinetwegen.«

Der Flur musste dringend gestrichen werden und der Kokosläufer wies Löcher auf. Fuhrmann ging eilig voran, um eine Zimmertür zu schließen, und Rogge nölte breit: »Netter Besuch?«

»Es geht«, presste Fuhrmann heraus. Das Wohnzimmer verstärkte den ersten Eindruck, die Möbel waren zu alt, um noch als passabel durchzugehen, und noch nicht alt genug, um antiquarischen Wert zu beanspruchen. Nein, hier regierte die leere Brieftasche.

»Was wollen Sie?«

»Können Sie sich das nicht denken?«

»Sie waren gestern Abend in Onkel Toms Hütte, nicht wahr?«

»Ja, bis zu der Schlägerei.«

»Spionieren Sie mir nach?«

»Was heißt schon spionieren. Ich weiß gerne, mit wem ich’s zu tun habe.« Dabei lächelte Rogge in sich hinein, das war nicht gelogen.

Fuhrmann wich einen Schritt zurück. »Ich hab doch schon gesagt, dass ich nicht alles auf einmal zurückzahlen kann.«

Rogge musterte ihn stumm. Gelobt sei Opa Vorwerk, man sollte viel mehr alte Männer bei der Polizei anstellen. Oder als Hausmeister und Informanten engagieren, zwecks Kontrolle der Mieter. Endlich gähnte er: »Sie haben ein sehr großes Auto.«

»Das brauche ich doch.«

»Ein kleineres tät's auch. Überlegen Sie sich das mal.« Damit machte Rogge auf dem Absatz kehrt, er hörte, dass Fuhrmann ihm folgte, trotzdem klinkte er die Tür auf.

Im Bett hatte sich eine junge Frau mit verquollenen Augen aufgerichtet, die erschrocken aufgickste und das Deckbett vor den üppigen Busen presste. Die Wurzeln ihrer blonden Haare schimmerten dunkel.

Rogge drehte sich um, Fuhrmann zitterte vor Wut, wagte aber nicht, etwas zu sagen.

»Dafür ist offenbar immer noch Geld da!«, grummelte Rogge. »Na, wie Sie wollen, jede Geduld hat mal ein Ende.«

Auf halber Treppe hörte er, wie eine Sperrkette ausgehängt wurde, und deshalb beschleunigte Rogge. Nichts gegen Opa Vorwerk, aber man sollte von Neugier profitieren, sie nicht füttern.

Im Grunde passte nichts zusammen. Der eine hatte viel Geld und war ein ordinärer Zuhälter. Der zweite schien ein ordentlicher Kerl zu sein und gluckte um Frau und Nachwuchs herum. Der dritte riss in billigen Schuppen Frauen auf und fürchtete den Schuldeneintreiber. Zu wem wäre eine Inge Weber freiwillig ins Auto gestiegen? Wenn eine Amnesie nicht auch Geschmack und Prinzipien völlig veränderte - zu keinem.

Da hatte er sich wohl in eine Sackgasse verrannt. Sein Verstand befahl Stopp, das Auto fuhr automatisch weiter, und als er auf den Tacho schaute, zitterte die Nadel über der Zahl 150. Diesen Ausflug hätte er sich sparen können!

Zum Ausgleich klappte es jetzt wie am Schnürchen. Rogge bog in Stockau in die Brückenstraße ein und hielt vor dem zweistöckigen Haus mit dem Arztschild. Als er seinen Wagen abschloss, kam ein Paar auf ihn zu, den Mann hatte er schon einmal gesehen.

Der Mann war breitschultrig und hatte ein freundliches, zerfurchtes Gesicht mit einem Paar zuverlässiger Augen. Er strahlte Gelassenheit und Humor aus. Die Frau neben ihm war höchstens einen Zentimeter kleiner und kaum schmaler als er und das enge, völlig schmucklose dunkelgraue Kleid enthüllte eine eckige, fast männliche Figur. Ihre Haare trug sie extrem kurz geschnitten, wie eine knapp sitzende Kappe, was ihr nicht stand und ihre scharfen Züge betonte. Ein reizloses Gesicht voller Unzufriedenheit.

»Wollen Sie zu uns?«, fragte der Mann gemütlich.

»Wenn Sie Dr. Fuhrmann sind - ja.«

»Der bin ich. Meine Frau. Sie sind Herr Rogge, nicht wahr, der Kriminalbeamte aus dem Bären?«

»Es hat sich wohl herumgesprochen«, seufzte Rogge und gab der Frau die Hand. »Guten Tag, gnädige Frau.«

»Guten Tag«, erwiderte sie hart und er begriff, dass sie ihn mit einem Blick taxiert und für unsympathisch befunden hatte. Ihre Augen waren klein und ihr Blick stechend. Warum fixierte sie ihn so böse? Ihr Händedruck fiel verboten kräftig aus.

»Was können wir für Sie tun?«

»Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, Herr Doktor.«

»Über was? Über Olli?«

»Indirekt, ja. Sie haben gehört, was ...?«

»Natürlich. Sogar der Pfarrer hat eben darüber gepredigt.« Dabei schüttelte der Arzt den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. »Lene, macht es dir etwas aus, wenn Herr Rogge und ich in die Praxis gehen?«

»Nein«, fauchte sie. Natürlich machte es ihr etwas aus und an jeder anderen Stelle als auf der offenen Straße hätte sie ihm seinen Wunsch glatt abgeschlagen. Ohne ein weiteres Wort an Rogge zu verschwenden, schwenkte sie zur Seite und marschierte auf die Haustür zu. Sie ging ruckartig, als versage sie sich jede Form von Verbindlichkeit oder Weiblichkeit, und diese Bewegung kam ihm bekannt vor.

»Kommen Sie, Herr Rogge.«

In der Praxis zerrte Fuhrmann die Jalousien hoch, und nachdem er im Sprechzimmer hinter seinem Schreibtisch umständlich Platz genommen hatte, schien er sich wohler zu fühlen.

»Was wollen Sie wissen?«

»Herr Doktor Fuhrmann, haben Sie einen Bruder Eberhard, der in Hannover wohnt?«

Dem Arzt blieb der Mund offen stehen, mit allen möglichen Fragen hatte er gerechnet, doch nicht damit. Nach einer Weile schluckte er heftig, als müsse er zu sich kommen, und stammelte: »Ja, den habe ... Ja, Eberhard.« Mühsam riss er sich zusammen; »Warum fragen Sie mich das?«

»Haben Sie bitte noch etwas Geduld? Ich will's Ihnen nachher gerne erklären.«

»Ja ... ja ...« Er hatte sich von seiner Überraschung noch nicht erholt.

Rogge musterte ihn scharf: »Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal getroffen?«

»Wann? - Wann war - im vorigen Jahr.«

»Hier in Stockau?«

»Ja, hier im Haus. Er kam - das war im Mai. Oder Juni.«

Zeitlich stimmte es, die erste Hürde war genommen. Deshalb griente Rogge verlegen: »Ich weiß, was Ärzte übers Rauchen denken, aber würden Sie mir gestatten ...?«

»Sicher.« Komischerweise gab die Bitte seines Besuchers Fuhrmann die alte Sicherheit zurück und er stand auf. »Wir müssen aber das Fenster öffnen. Wenn meine Patienten riechen, dass hier geraucht wird, tun sie noch weniger, was ich Ihnen vorschreibe. Aber für ganz schlimme Sünder habe ich sogar einen Aschenbecher.«

 

Bevor Fuhrmann sich wieder setzte, schüttelte er ratlos den Kopf: »Eberhard ...«

»Herr Dr. Fuhrmann, ich komme gerade aus Hannover. Ich habe dort mit Ihrem Bruder gesprochen. Es tut mir Leid, wenn ich Sie jetzt verletze: Er lebt mehr als bescheiden, reißt Frauen in billigen Lokalen auf und hat Schulden.«

»Sie erzählen mir nichts Neues.« Das klang so gequält wie bitter.

»Wie stehen Sie zu Ihrem Bruder?«

»Wie ich zu ihm stehe? - Wir schätzen uns nicht sonderlich.«

»Dann besucht er Sie also nicht regelmäßig?«

»Regelmäßig? - Ach nein. Er kann mich nicht leiden und meine Frau hasst ihn beinahe.«

»Warum war er dann im vorigen Jahr hier?«

Der Arzt lehnte sich zurück, sein Gesicht wurde verschlossen, darauf wollte er nicht antworten.

»Gut, ich wilPs Ihnen sagen. Er hat sich Geld von Ihnen geliehen.«

»Wirklich? Wie kommen Sie denn darauf?« Hinter dem gutmütigen Spott schwang etwas anderes mit.

»Heute Morgen hat er mich für einen Geldeintreiber gehalten.« Rogge lächelte zerknirscht. »Ich hab den falschen Eindruck nicht korrigiert, was nicht die feine Art ist, aber so hat er mir unfreiwillig eine wichtige Auskunft gegeben: Ich hab doch gesagt, ich kann nicht alles auf einmal zurückzahlen, so hat er sich verteidigt.«

»Ja?«

»Er fährt einen großen Wagen, etwas zu teuer für seine Verhältnisse, nicht wahr?«

»Eberhards Lebensprinzip: Mehr scheinen als sein.«

»Ja. Er zahlt oder stottert ab, gerade genug, dass ihn seine Gläubiger nicht zwingen, den großen Wagen zu verkaufen. Aber so unregelmäßig, dass er sich vor mir gefürchtet hat.«

»Gut möglich. Mein Bruder steckt immer in Schwierigkeiten, das ist sein Markenzeichen.«

»Er hat Sie also im Vorjahr um Geld angebettelt.« Es war ein Schuss ins Blaue, aber Fuhrmann ließ das Gespräch treiben, wehrte sich nicht, weil er in Gedanken bei einer ganz anderen Sache war, weit weg.

»Wenn Sie's schon wissen ... fünfundzwanzigtausend.«

»Sie haben’s ihm geliehen?«

»Was man Eberhard leiht, ist so gut wie verschenkt.«

»Obwohl Sie ihn nicht sonderlich schätzen?«

»Ach Gott, schließlich ist er mein Bruder. Und wozu - wir haben keine Kinder, wem sollte ich’s vererben?«

»Ihre Frau war einverstanden?«

»Sie weiß nichts davon«, erwiderte Fuhrmann ruhig. »Ich möchte auch nicht, dass sie’s erfährt.«

»Das war im Mai oder Juni vorigen Jahres?«

»Ja.« Fuhrmann blickte auf seine gefalteten Hände.

»Wie oft ist er hier gewesen?«

»Einmal. Um sich das Geld zu holen.«

»Das stimmt nicht, Herr Dr. Fuhrmann. Er ist mehr als einmal in Stockau gewesen.«

Rogge hielt es ihm ganz freundlich, fast besorgt vor und Fuhrmann hob den Kopf. »Warum soll das nicht stimmen, Herr Rogge?«

»Es gibt Zeugen dafür, dass er mehr als einmal hier war.«

»Zeugen?«, wiederholte der Arzt resigniert.

»Ja.« Drei, vier Züge rauchte Rogge schweigend, Fuhrmann rang mit sich, als müsse er mit sich ins Reine kommen, eigentlich wollte er was verbergen, aber zugleich schämte er sich dessen.

»Er war ein paar Mal hier«, gab Fuhrmann endlich zu und sah Rogge prüfend an.

Nein, ein schlechtes Gewissen wegen seiner Lüge hatte er nicht; was ihn beschäftigte, konnte mit seinem Bruder Zusammenhängen, vielleicht wusste oder ahnte er etwas und wünschte nicht, dass der Kriminalbeamte davon erfuhr. Ein weniger beunruhigter Mann hätte sich längst erkundigt, was diese Fragen nach seinem Bruder mit den Aktivitäten des Bärenwirtes zu tun hatten.

»Würden Sie mir den Grund nennen?«

»Geld. Was denn sonst! Er hatte sich ganz tief in die Schei..., er hat Probleme. Und ein paar brutale Geldeintreiber waren die kleinere Sorge, die er hatte.« Unvermittelt lachte der Arzt böse auf. »Aber immer Auftritte wie Graf Kotz der Große, Blumen für meine Frau, Pralinen für Monika, diskreter Hinweis auf großartige Geschäfte, die er gerade angeleiert hatte.«

»Wer ist Monika?«, fragte Rogge leise und spürte, wie ihm ein Ring den Brustkorb einschnürte.

»Monika Ziegler. Meine Helferin.«

»Ihr Bruder hat im vorigen Jahr Monika Ziegler kennen gelernt?«

»Sicher. Und ich kann Ihnen flüstern, er hat sie mächtig beeindruckt.«

Mit letzter Kraft behielt Rogge sein Gesicht unter Kontrolle. Fuhrmann hatte nichts bemerkt, er schien mehr mit sich selbst zu reden als mit Rogge, der heftig die Zigarette ausdrückte, um seinen Kopf zum Aschenbecher senken zu können.

»Na ja, was kann’s schon verderben - vier Mal ist er hier gewesen und hat mich um Geld erleichtert.« Jetzt schnitt Fuhrmann eine Grimasse, aber die Verachtung galt nicht Rogge. »Zweimal offen, zweimal heimlich, weil Lene mir die Pistole auf die Brust gesetzt hatte - dieser Mensch, Schwager hin oder her, käme ihr nicht mehr ins Haus.«

»Das letzte Mal - das war im September?«

»Ja«, bestätigte Fuhrmann zerstreut. »Danach hat er Ruhe gegeben.«

»Wenn er Sie besuchte, ob offen oder heimlich - ist er dann über Nacht geblieben?«

»Wo denken Sie hin!«, spottete Fuhrmann zornig. »Hier übernachten? Lene hätte mir was gehustet! Nein, er kam am späten Nachmittag und ist abends immer wieder zurückgefahren. Ein schnelles Auto leistet er sich ja.«

Rogge lächelte flüchtig. Hier war noch längst nicht alles ausgesprochen, natürlich verheimlichte der Arzt etwas, aber Rogge hatte erfahren, was er wissen musste, und deshalb erhob er sich: »Vielen Dank, Herr Dr. Fuhrmann, ich will Sie nicht länger aufhalten.«

Beim Anblick der Frau in der Tür fiel Rogge nur das Wort farblos ein. Eine blasse Frau, die man anschaute und sofort wieder vergaß. Dazu etwas ängstlich, fast wie geduckt, immer besorgt, sie könne etwas falsch machen. Die Kittelschürze schien ihr am Leib festgewachsen.

»Meine Tochter ist nicht da«, sagte sie unruhig. Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, seinen Dienstausweis gründlich anzugucken.

»Oh, das ist schade. Wissen Sie, wo ich sie finde?«

Jetzt zeichnete sich trotzige Verlegenheit in ihrem Gesicht ab. Sie hatte sandfarbene, strohige Haare und vor zwanzig Jahren lautete wahrscheinlich das größte Kompliment, das man über sie verbreitete, ganz niedlich. Aber das war lange her.

In der Wohnung rumorte jemand, sicherlich ihr Mann, und

seinetwegen würde sie Rogge nicht hereinbitten. Deshalb trat Rogge näher heran und senkte die Stimme: »Sie ist draußen auf dem Scherkenhof, bei Jo Thelen, nicht wahr?«

Die Frau nickte verstohlen und drehte unwillkürlich den Kopf zur Seite.

Papa Ziegler schätzte es wohl nicht, wenn sich seine einzige Tochter mit einem gescheiterten Elektriker herumtrieb. Frauen gehörten ins Haus und sein Verhältnis mit Angi Lohse, der schönen Bärenwirtin, betrachtete er bestimmt als sein gutes Recht.

»Vielen Dank, Frau Ziegler.«

Man konnte den Scherkenhof auch auf einer schmalen geteerten Straße erreichen; mühsam war nur das Entziffern der Hinweisschilder, die alle so aussahen, als hätten Generationen von Schulkindern sie als Zielscheiben für ihre Katapulte genutzt, und zwar erfolgreich. Kaum ein Hofname war wegen der abgeplatzten Farbe oder Löcher deutlich zu lesen und der Rost erledigte den Rest.

Zwei große Hunde trotteten gemütlich auf Rogge zu, als er ausstieg, und beschnüffelten ihn gründlich. Erst nach der Inspektion bellte jeder einmal kräftig. Auf das Signal hin kam ein großer Mann aus dem Haus geschlendert.

»Guten Tag, mein Name ist Rogge. Ich müsste unbedingt einmal mit Monika Ziegler sprechen - wenn sie hier ist.«

»Sie hilft in der Küche. Wollen Sie nicht hereinkommen?«

»Nein, vielen Dank, es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie Monika herausschicken würden.«

»Mach ich!«, versprach der Mann etwas verwundert.

Monikas Lippen begannen zu zittern, als sie Rogge erkannte. »Guten Tag, Herr Rogge.« Sieh mal an, seinen Namen hatte sie also behalten.

»Tach, Monika. Ich muss mit Ihnen einmal unter vier Augen sprechen.«

»Das passt - wir sind gerade beim Kochen ...«

»Tut mir Leid, aber es muss sein.«

»Ja - ja ... Ich sag nur Jo Bescheid.«

»Unter vier Augen, Monika!«, warnte er und sie nickte kläglich.

Offenbar dauerte es länger, Jo Bescheid zu sagen; denn Rogge wartete fast zehn Minuten, bis Monika Ziegler wieder herauskam, den Reißverschluss ihres Anoraks hochziehend. Jetzt ähnelte sie auf fatale Weise ihrer Mutter, blass und unscheinbar.

»Gehen wir ein paar Schritte? Ich bin heute Morgen ein ganzes Ende Autobahn gefahren, von Hannover bis hierher, ich muss mir die Füße vertreten.«

Den schnellen Blick von der Seite konnte sie nicht unterdrücken und Rogge sah, wie sich ihr Gesicht verkrampfte.

»Ja, ich habe mich mit Eberhard Fuhrmann in Hannover unterhalten.«

Jetzt lief sie wie ein Automat, der Fuß vor Fuß setzte, und ihre Furcht war fast körperlich zu greifen. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen.

»Was wir jetzt bereden, bleibt unter uns. Deine Eltern erfahren nichts und auch Jo Thelen nicht. Aber du musst jetzt alles erzählen. Einiges kann ich mir schon zusammenreimen, nicht alles, aber doch den größten Teil.« Ein Bluff, zugegeben, und sogar ein ausgesprochen hässlicher, aber Rogge wollte diesen Schutzpanzer durchbrechen. »Du hast im vorigen Jahr den Bruder deines Chefs kennen gelernt?«

Nach einer Weile nickte sie und schaute auf ihre Schuhspitzen.

»Er hat dich ziemlich beeindruckt, nicht wahr?«

»Ja.« Ein Hauch nur, aber immerhin.

»Wie weit ist das zwischen euch gegangen, Monika?«

Eine Minute Schweigen. Eine zweite Minute.

»Hat er dich oben auf der Feltenwiese vergewaltigt?«

»Woher wissen Sie ...« Angesichts der Panik in ihrer Stimme schämte er sich. Doch sie hatte sich verraten, sie würde selbst einsehen, dass sie nun reden musste. Zwei Minuten, drei Minuten.

»Nein, er war es nicht.«

»Wer dann?«

Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Geduld, mahnte Rogge sich und musterte sie von der Seite; sie wagte nicht, ihn anzusehen, und ihr Gesicht war kalkweiß. Es musste einen Grund geben, warum sie den Täter nicht nennen wollte, und ihre Furcht brachte ihn auf den richtigen Gedanken: »Der Mann hat gedroht, dir was anzutun, wenn du ihn anzeigst?«

»Ja.«

»Monika, ich verstehe, dass du Angst hast. Trotzdem musst du jetzt reden. Wir nennen den Täter einfach mal den Mann, einverstanden? Du musst mir seinen Namen nicht verraten, er ist einfach der Mann. Okay?«

»Aber wenn Sie ihn verhaften, weiß er doch, dass ich ihn angezeigt habe.«

Komisch, dass er sie automatisch geduzt hatte! Bei Gertrud wäre ihm das nicht passiert. Aber der Wirbelwind Gertrud wirkte auch viel erwachsener als dieses verschreckte Kind neben ihm. »Nein. Ich kann ihn nur verhaften, wenn du vorher eine Aussage bei der Polizei gemacht und unterschrieben hast.«

»Und das muss ich nicht ...?«

»Nein, ich werde dich zu nichts zwingen.«

Wenigstens hob sie jetzt den Kopf. Ihn schaute sie immer noch nicht an, aber sie blickte geradeaus.

»Wo soll ich ...«

»Bei Eberhard Fuhrmann.«

Kili, die Kodderschnauze, pflegte in solchen Fällen zu lästern: Gib jedem die Zeit, seine Schleuse aufzukurbeln, und vergiss nicht, je fester und länger sie geschlossen war, desto eher ist sie verrostet und erfordert Kraft und Zeit. Es dauerte fast fünf Minuten, bis sie anfing zu erzählen.

Im Mai war Eberhard zum ersten Mal zum Doktor gekommen, da hatte sie ihn kennen gelernt, weil er sich ganz brav ins Wartezimmer gesetzt hatte und abwehrte, es handele sich um eine private Sache mit seinem Bruder, und deshalb wolle er nicht stören, kein Patient solle seinetwegen warten. Sie hatten sich sehr nett unterhalten.

Bei ihrem Tonfall seufzte Kogge heimlich. Bruder Eberhard hatte sie eingewickelt. En passant, weil er gerade nichts Besseres vorhatte. Wer wie er Frauen abschleppte, erkannte ein bequemes Opfer auf den ersten Blick.

Einen Monat später war Eberhard wieder gekommen und hatte Monika eine große Schachtel Pralinen mit gebracht. Ja, und abends hatten sie sich auf der Feltenwiese - getroffen. Ernsthaft hatte sie gar nicht geglaubt, dass Eberhard so lange in seinem großen Auto auf sie warten würde. Aber er hatte es getan. Weil sie - sie war erst hochgelaufen, als es schon dunkel wurde. Im Juli hatten sie sich wieder - getroffen. Auch im August, mehrmals, da waren der Doktor und seine Frau in Urlaub gefahren, und Hardy meinte, es wäre besser, wenn sein Bruder nichts von ihrer Liebe erführe. Ja, immer auf der Feltenwiese, wenn es dunkel geworden war. Eigentlich ging sie nicht gerne dort hoch, wegen - Sie hielt inne und Rogge lachte leise.

 

»Wegen Andrea Wirksen. Ja, ich weiß Bescheid, sie ist eine kleine Hure.«

Monika Ziegler zuckte zusammen, fuhr aber tapfer fort. Ja, wegen Andrea. Sie hatte immer aufgepasst, Andrea hatte sie nie gesehen. Und im September, als der Doktor aus dem Urlaub zurück war, hatte sie sich zum letzten Mal mit Hardy - getroffen. Wieder in seinem Auto, oben auf der Feltenwiese. Hardy hatte Monika in der Praxis zugeflüstert, er habe ein Geburtstagsgeschenk für sie, das wolle er ihr - nachher überreichen.

»Wann hast du denn Geburtstag, Monika?«

»Am 16. September.« Rogge schnappte nach Luft, aber sie hatte nichts bemerkt. Also war sie - sie hatten sich wieder - getroffen. In seinem Auto, auf der Feltenwiese. Hardy schwor ihr, er Würde gern bleiben, sie in der ersten Sekunde ihres Geburtstages küssen, aber er müsse fort, es habe Krach mit seinem Bruder gegeben, ganz scheußlichen Streit, und deswegen bekomme sie ihr Geschenk jetzt schon. Sie hatte trotz seines Protestes das Päckchen ausgepackt, eine goldene Armbanduhr, und dann - und dann - sie kämpfte mit den Tränen. Hardy wollte schon beim ersten Mal mit ihr schlafen, aber sie konnte doch nicht, sie nahm keine Pille und Hardy hatte kein Kondom dabei, sie hatte Angst, aber er wollte so gerne, und wenn sie Angst vor einem Kind hätte, dann könnte sie doch - sie hatte sich ausgezogen und - getan, um was er sie bat.

Schweigend ging Rogge neben Monika her.

Ja, sie hatte es getan. Und dann fuhr Hardy fort, er war immer über den Parkplatz auf die Autobahn gefahren, sie schaute dem Auto noch nach, als der - Mann plötzlich neben ihr auftauchte. Und sie zu Boden warf und sie - sie wollte schreien, aber der Mann hatte ihr den Mund zugehalten, sie hatte sich aus Leibeskräften gewehrt, aber er war ja viel kräftiger als sie. Und dann war der Mann auf gestanden und hatte ihr gedroht: Wenn sie nur einen Mucks verraten würde, ginge es ihr schlecht. Außerdem würde er allen Menschen erzählen, was sie in dem Auto getrieben hatte, ihren Eltern, Jo, ihrem Chef.

Monika machte sich nicht klar, was sie damit preis gab: Sie kannte ihren Vergewaltiger also genau.

Sie hatte geweint und versprochen, den Mund zu halten, und der - Mann war weggegangen.

»Wohin, Monika?«, fragte er gleichmütig.

»Zum Parkplatz.«

»Und wann ist das alles passiert?«

»Abends. Im Dunkeln.«

»Am Tag vor deinem Geburtstag?«

»Ja.«

»Weißt du noch, wie spät es war?«

»Ich bin ins Dorf hinuntergelaufen und da hab ich die Gertrud vor dem Bären getroffen, es war fast Mitternacht.«

»Und weil es dir so schlecht ging, hast du der Gertrud alles erzählt?«

»Ja.« Sie musste sich doch - ihr Höschen war zerrissen und das Blut an ihren Beinen ...

Gertrud hatte den Hauptschlüssel für das Gästehaus geholt und einen Slip, und Monika hatte sich in einem der Bäder gewaschen und Gertrud hatte den Riss in dem Kleid genäht. Und Gertrud hatte sie nach Hause gebracht, sie musste doch ihren Eltern erklären, wo sie so lange geblieben war ...

»Hast du Gertrud den Namen des - Mannes genannt?«

»Ja, ich war so durcheinander.«

Eine ganze Weile liefen sie stumm nebeneinander her. Rogge konnte sich nicht vorstellen, dass Gertrud herumgetratscht hatte, was Monika passiert war, das traute er ihr einfach nicht zu. Aber die Krakeeler-Truppe wusste Bescheid, an das höhnische Schweigen, als Monika den Bären betreten hatte, konnte er sich noch gut erinnern. Und an diese halb lüsternen, halb geringschätzigen Blicke, guck mal, die kann man sich nehmen, die lässt sich das gefallen, über die ist schon mal einer rübergerutscht ... Nein, Monika musste den Namen des Mannes nicht aussprechen, Rogge wusste, wer es gewesen war. An Monikas Stelle würde er Benno Brockes auch fürchten, der keine Hemmungen kannte, sie gnadenlos zu verprügeln, sollte sie ihn anzeigen.

»Wollen wir umkehren, Monika?«

»Ja.«

»Es bleibt dabei - von mir erfährt niemand etwas. Auch der - Mann nicht. Aber eines überlege dir bitte: Wenn du den Mann nicht anzeigst, wird er noch andere Frauen überfallen. Ohne eine Aussage seiner Opfer können wir ihn nicht hinter Gitter bringen. Ich weiß, es ist scheußlich und sogar entwürdigend, in einem Prozess auszusagen und nach den intimsten Dingen befragt zu werden, aber ich weiß nicht, ob du das nicht durchstehen solltest. Wenn du dich zu einer Anzeige entschließt, rufe mich an. Ich schicke dir eine Polizistin aus meinem Kommissariat, sie ist ebenfalls vergewaltigt worden und hat den Prozess durchgestanden, sie versteht, wie du dich fühlst.«

»Ich kann nicht ...«

»Lass dir Zeit. Du hast mir schon sehr geholfen.«

Später musste Rogge sich ein Lächeln verkneifen, Jo Thelen eilte ihnen entgegen, und die Mischung aus Empörung und Besorgnis auf seinem Gesicht reizte zum Schmunzeln; Rogge hörte, wie Monika scharf nach Luft rang.

»Guten Tag, Herr Thelen.«

»Tach!«, knurrte der junge Mann und konnte sich nicht entscheiden, ob er Rogge an die Kehle springen oder Monika umarmen sollte.

»Tut mir Leid, dass ich Monika entführen musste. Aber Sie haben doch sicher gehört, was mit Olli geschehen ist?«

»Ja, sicher ...«, stammelte Jo, aus dem Konzept gebracht.

»Ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir den Täter suchen müssen.« Thelenx verstand die Welt nicht mehr und Rogge stieß Monika an: »Danke, das war ein guter Tipp. Daran hätten wir früher denken sollen.«

»An Olli?«

»Den Wirt, Jo«, antwortete Monika schnell und nur Rogge hörte die Mischung von Angst und Erleichterung aus ihrer Stimme heraus. »Der Kommissar hat mich nach Olli und Gertrud ausgefragt.«

»Olli und Gertrud?«

»Vielen Dank, und noch einen schönen Sonntag.«

Die beiden Hunde saßen vor der Tür und schauten Rogge gelangweilt zu, wie er rasch in sein Auto stieg. An Besucher, die nichts im Hofladen erwarben, verschwendeten sie nicht einmal ein kurzes Wuff.

Auf dem Revier in Herlingen herrschte Hochbetrieb. Zwei junge Kerle in abgerissenen Jeans und geflickten Lederjacken hatten am helllichten Tag einen dreisten Wohnungseinbruch riskiert und nur die Dauer des Gottesdienstes falsch eingeschätzt. So waren sie dem Vater und dem Schwiegersohn in die Hände gelaufen - oder besser: vor die Fäuste, die den Fall erst einmal privat bereinigten, bevor sie die Einbrecher aufs Revier schleppten; jetzt wuselte die ganze Familie einschließlich dreier Kleinkinder hin und her und kaute die Szene immer wieder laut und zunehmend begeistert durch. Ein junger Wachtmeister schimpfte: »Halt doch endlich still, du blöder Hurenbock!«, und mühte sich mit Verbandsmull und Pflaster ab. Der Schichtleiter schmunzelte, und als Rogge an den einen Kerl herantrat, der immer noch nicht geschnallt hatte, was ihm geschehen war, und wie beiläufig Jacken- und Hemdsärmel hochschob, grölte der Schichtleiter vor Vergnügen: »Na klar, wissen Sie, warum die nach Herlingen gekommen sind? - Die wollten endlich mal Jnen kalten Entzug erleben.«

»Ein echtes Sonntagserlebnis«, pflichtete Rogge bei. »Kann ich mal telefonieren?«

»Nebenan.«

An Kilis Apparat flötete eine Frauenstimme: »Bei Haindl.«

»Ich fiebere dem Tag entgegen, an dem Sie das bei weglassen.«

»Jens!« Sie schrie vor Entzücken leise auf und Rogge konnte sie sich gut vorstellen: Küsschen ins Telefon hauchend und dabei auf den vor Eifersucht zerspringenden Kili schielend. Jasmin - so hieß sie - war die Rache des weiblichen Geschlechts an seinem schürzenjagenden Adlatus. Ausnahmsweise strampelte der nämlich in einem Netz und Jasmin, Diplomingenieurin der Fachrichtung Maschinenbau, zahlte ihm genüsslich heim, was Kili allen Frauen durch seine Untreue bisher angetan hatte. »Wann sehen wir uns endlich wieder?«