Extra Krimi Paket Sommer 2021

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»Ich verschmachte auch, liebe Jasmin, aber jetzt muss ich euer trautes Beisammensein brutal beenden. Geben Sie mir bitte den Nichtsnutz.«

Kili knötterte: »Ich hab keine Bereitschaft...«

»Der gute Pfadfinder ist allzeit bereit. Du holst meine Dienstwaffe aus dem Präsidium, vergiss deine eigene nicht und in meinem Schreibtisch unten rechts liegen zwei Totschläger. Handschellen, Feldstecher, den üblichen Krams.«

»He, was ist los? Willst du einen Bürgerkrieg anzetteln?«

»Wenn’s Not tut, auch das. Und dann wartest du auf dem Revier in Herlingen auf mich.«

»Chef, hat das nicht Zeit? Jasmin ist ...«

»Jasmin liebt und verehrt Männer, die ihre Pflicht über ihr Vergnügen stellen. Frag sie ruhig!«

Nebenan hatte der Schichtleiter das Chaos unter Kontrolle bekommen: »Den Oberkommissar finden Sie bestimmt in seinem Garten ...«

Wibbeke kroch auf den Knien unter einem riesigen Busch herum und schnitt vertrocknete Halme und Zweige. Über eine Unterbrechung schien er nicht böse zu sein, teilte sogar großzügig den Kaffee aus seiner Thermosflasche und hörte sich schweigend an, was Rogge berichtete. In den Nachbargärten wurde noch fleißig gewerkelt, die beiden Männer saßen in der Sonne und genossen die Wärme.

»Glauben Sie, dass Brockes auf Sie geschossen hat?«

»Keine Ahnung. Trauen Sie’s ihm denn zu?«

»Tja«, murmelte Wibbeke unschlüssig. »Wenn ich da nur ... ich will’s mal so formulieren: Dass Benno eifersüchtig wird, weil sich die Gertrud so gut mit Ihnen versteht, kann ich mir ja noch vorstellen. Aber dass er deshalb auf Sie schießt - Nee, also, bei allem Schwachsinn, den ich Benno zutraue, das will mir nicht in den Kopf.«

»Vielleicht gibt’s noch einen anderen Grund?«

»Möglich. Aber welchen?«

»Vergessen Sie nicht, dass sich Olli und Benno ganz gut verstehen.«

»Ja, das stimmt wohl. Ich würde mal sagen: gleiches Kaliber.« Wibbeke brummte gereizt. »Olli hat gesungen wie die Nachtigall. Und den armen Eckard gewaltig reingeritten.«

»Aber weil Olli einen festen Wohnsitz hat ...«

»... ist er wieder draußen.« Wibbeke kicherte bösartig. »Ich bezweifele nur, dass er sich an diesem Wohnsitz noch lange freuen wird.«

»Die schöne Angi rafft sich auf?«

»So munkelt man.« Dabei lachte Wibbeke still in sich hinein, sein Bauch wackelte. Erst jetzt schien er zu bemerken, dass dicke Erdklumpen an seiner Hose klebten, er bückte sich und klopfte sie ab. Als er sich wieder aufrichtete, schimmerte eine Spur Feindseligkeit in seinem Blick: »Herr Rogge, ist Ihnen auch aufgefallen, dass sich Angi und Gertrud gut verstehen? Und haben Sie sich schon mal gefragt, ob die Ehefrau nie etwas von der Hehlerei des Ehemannes bemerkt hat?«

Während Rogge vor dem Revier hin- und hertigerte und auf Kili wartete, kaute er mehr an Wibbekes Tonfall als an seinen Worten herum. Der versteckte Vorwurf beschwerte ihn nicht, aber ihm missfiel, dass Wibbeke plötzlich bereit schien, seine gute Meinung über Gertrud zu ändern. Hegte Wibbeke einen bestimmten Verdacht oder ärgerte er sich nur, dass ein Fremder etwas aufgedeckt hatte, was in seinem Bezirk geschehen war? Michael würde nicht ewig bleiben, Rogge musste noch mit Gertrud reden.

Kili brummte. Jasmin hatte sich über ihn lustig gemacht, jawohl, herzlos und ungeschminkt, und Rogge hatte ihm eine mühsam herbeigeführte Chance durchkreuzt.

»Hatte sie die Schuhe schon ausgezogen?«, erkundigte Rogge sich sarkastisch.

»Schuhe? Du hast es nicht mit einem Anfänger zu tun!«

»Umso besser. Wir müssen einen Schläger überrumpeln. Er hinkt, aber täusch dich nicht, er soll verdammt schnell sein.«

»Deswegen die Nahkampfausmstung, ich kapiere. Vielleicht kann mir Jasmin nachher die Wunden verbinden und dabei ihr weiches Herz entdecken.«

»Offenbaren, Kili.«

»Ein Chef hat immer das letzte Wort.«

Als sie in die Zufahrt der alten Schäferhütte einbogen, sah Rogge, dass sich eine Gardine bewegte. Wenigstens war jemand zu Hause.

Kili schaute sich um und schauderte: »Das ist ja ein grässlicher Stall.«

Benno öffnete die Tür, bevor sie ganz herangekommen waren, und stierte sie an. »Was wollen Sie?«, knurrte er und versperrte den Eingang.

»Mit Ihnen reden.«

»Ich wüsste nicht worüber.«

»Entweder lassen Sie uns herein oder wir nehmen Sie mit aufs Revier.« Rogge erklärte es ganz freundlich, aber Benno schaute auf Kili, der wie zufällig seine Waffe herausholte und durchlud, und wurde blass.

»Was soll das ...?«

»Das wirste alles hören. Drinnen, Benno.« Damit schob Kili ihn zur Seite und Benno gab nach.

Er hatte plötzlich Angst und verstand die Welt nicht mehr.

Der Wohnraum lag direkt hinter der Tür, es stank nach ranzigem Fett, links führte eine Tür in eine Küche, von der Rogge nur den bis mit Geschirr obenhin voll gestellten Ausguss sehen konnte. Das Mobiliar schien sich Benno auf dem Sperrmüll zusammengeklaubt zu haben und überall flog etwas herum,

Socken, Hemden, Handtücher, Zeitungen. Auf dem wackligen Tisch standen zusammengequetschte Bierdosen und eine fast leere Flasche Apfelkorn.

»Also, was wollen Sie?« Benno dachte nicht daran, ihnen Platz anzubieten, aber Kili räumte schon einen Sessel leer und hielt dabei einen schwarzen Spitzen-BH in die Höhe. »Schönes Stück, Benno.«

»Das geht Sie nichts an!«

»Abwarten. Mein Boss hat ein paar Fragen an dich. Hängt ganz von dir ab, wie lang wir brauchen.«

Aus Kili wurde der Riese nicht schlau, er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und runzelte die Stirn. Kili sah aus und trat auf, als sei er einem Modejournal für Männer entsprungen, tadelloser hellgrauer Anzug, dunkelblaues Hemd, Seidenkrawatte, nicht einmal das obligate Ziertuch in der Brusttasche fehlte. Solche Lackaffen stieß Benno normalerweise mit einer Hand aus der Wäsche, aber dieser Laffe legte demonstrativ die Waffe auf den Tisch und juchzte dabei so fröhlich, dass man nicht wusste, was ihm gleich noch einfiel. Benno ahnte nicht, dass es Kili gerade auf diesen Eindruck anlegte. Benno ließ sich auf einen der quietschenden Sessel nieder und griff nach einer Bierdose.

»Nicht werfen!«, mahnte Kili.

»Was wollen Sie eigentlich?«

Rogge verbiss sich das Lachen, Kilis Show war immer wieder schön, nicht ganz den Vorschriften gemäß, aber erfolgreich.

»Also, es geht um den 15. September vorigen Jahres.«

»Was?«

»Vor fast einem Jahr. An dem Abend haben Sie sich oben auf der Feltenwiese herumgetrieben.«

Sichtlich angewidert inspizierte Kili Bennos trautes Heim. Als sein wachsender Ekel ein bestimmtes Maß erreicht hatte, zog er den Totschläger aus der Jackentasche und begann ihn mit dem Taschentuch zu polieren. Benno verschluckte sich vor Schreck und hustete.

»Ich warte, Herr Brockes.«

»Vor einem Jahr? Wie soll ich heute noch wissen, wo ich vor einem Jahr war.« Über diese Replik freute Benno sich und nahm zur Belohnung schnell einen Schluck.

»Oh, ich glaube, diesen Abend haben Sie nicht vergessen.«

»Doch.«

»Kaum. Wir haben einen Zeugen aufgetrieben, der Sie an diesem Abend dort gesehen hat. Und auch das, was Sie getan haben.«

Kili gähnte, Rogge hatte ihm erzählt, was er Monika Ziegler versprochen hatte, und deshalb mussten sie dieses Schmierentheater spielen.

»Dann wissen Sie’s ja schon.«

»Ja, aber wir würden es gerne von Ihnen hören.«

»Kann mich nicht erinnern.«

»Das war der Abend, an dem auf dem Parkplatz diese Frau gefunden wurde, die ihr Gedächtnis verloren hat.«

»Schon möglich.«

»Und von dem Zeugen wissen wir, dass Sie genau zu der Zeit, als die Frau dort ankam, auf dem Parkplatz gewesen sind.«

Benno erstarrte. Kili schob spielerisch die Finger durch die Ringe des Totschlägers und hauchte auf die blanke Fläche. Rogge senkte den Blick und beobachtete Benno. Wenn sie ihn jetzt nicht bluffen konnten ...

»Mehr noch, Herr Brockes. Dieser Mercedes aus Hannover ist nicht direkt weggefahren, der Fahrer hat sich im Wald versteckt. Und hat Sie die ganze Zeit über genau beobachtet.«

Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, Himmel, wann entschloss er sich ...

In dem Augenblick schoss Benno hoch wie eine Rakete, der Tisch kippte um, er hatte zum Sprung angesetzt, aber Kilis Aufmerksamkeit unterschätzt, der mit einer Hand elegant, fast lässig, die rutschende Pistole aus Bennos Reichweite wischte und mit der anderen nach dem Heranhechtenden schlug. Der Totschläger traf Bennö genau unterhalb des Halses, das hielt das stärkste Schlüsselbein kaum aus, und Benno brüllte vor Schmerz, während er zu Boden krachte, dass die Dielen knackten und das ganze Häuschen erbebte. Ob Kili ihn wirklich für so gefährlich hielt oder irgendwie seine Wut über den verpatzten Nachmittag mit Jasmin rauslassen musste - plötzlich bewegte er sich sehr schnell und landete mit beiden Knien in Bennos Nieren und das Gebrüll ging in ein Geheul über, das Steine erweichen konnte. Dann klickten die Handschellen, Kili erhob sich und schnipste den Staub von den Hosenbeinen: »Ein selten dummer Bock, Chef. Willst du nicht ein paar Minuten frische Luft schnappen?«

»Ich brauche ihn lebend, Kili.«

»Das halte ich für einen Fehler. Dreck gehört in die Mülltonne.«

»Vergiss nicht, wir sind Polizisten.«

»Klar, aber seine Aussage steht gegen unsere beiden. Was ist nun, Chef? Nur zwei Minuten.«

»Nein, erst mal sehen, ob er nicht vernünftig geworden ist.«

 

Was Benno von diesem Dialog mitbekommen hatte, war nicht klar, er wimmerte und schluchzte leise.

»Steh auf, du Hurensohn.«

»Ich kann nicht ...«

»Wetten, dass du kannst?« Kili hob einen Fuß und Brockes wälzte sich herum: »Nein, nein ...«

»Na siehst du, geht doch.«

Rogge schwieg. Er verabscheute Gewalt, und das nicht nur, weil die Dienstvorschrift sie verbot. Aber er konnte den Spaziergang mit Monika nicht vergessen und deshalb gönnte er dem Hinkenden die Schmerzen, Gewalt war eine Sprache, die der verstand, vielleicht sogar die einzige. Auf allen vieren kroch Benno zum Sofa und quälte sich hinauf; die Handschellen saßen stramm.

»Lass mir die Waffe hier und sieh dich mal um. Mich interessiert vor allem ein Gewehr.«

»Mach ich, Chef, und falls er muckt - nur ein Wort und ich bin da.«

»Also, Brockes, der 15. September.« Rogge steckte die Waffe in die Jackentasche.

Der Zeuge lag Brockes schwer im Magen, vor allem, dass Rogge von dem Mercedes, der da weggefahren war, etwas wusste.

Ja, er war oben gewesen. Rogge schaute an ihm vorbei und fragte nicht, was er auf der Feltenwiese getrieben hatte. Der Luxusschlitten war weggefahren und Benno war aus lauter Langeweile auf den Parkplatz gelaufen. Nur so, wirklich, ohne Grund. Ob er den Zuhälter für Andrea spielte und sich in der Nähe aufhielt, falls einer ihrer Freier schwierig wurde oder nicht löhnen wollte? Oder, auch das traute Rogge dem Kerl zu, Autos ausräumte, wenn Andrea es unbedingt im Gras treiben wollte? Auf dem Parkplatz war niemand gewesen, als Benno ankam. Kein Mensch, kein Auto. Bennos Blick flackerte und Rogge nickte nachdenklich. Jödel zum Beispiel, der unbedingt pinkeln musste: Ob der für die zwei, drei Minuten, die er im Wald verschwunden war, wirklich seinen Wagen abgeschlossen hatte? Viele Fahrer warfen wichtige Dinge einfach auf die Rückbank, da genügte ein schneller Griff, und wenn die Bestohlenen den Verlust bemerkten, waren sie weit weg und konnten sich nicht mehr daran erinnern, wann sie die Jacke, den Fotoapparat, die Aktentasche zuletzt gesehen hatten. Wenn Brockes sich als Parkplatzräuber betätigte, war er jedenfalls nicht aufgefallen, Rogge erinnerte sich an einen Bericht der Autobahnpolizei in Grems Akten, wonach auf dem Parkplatz Feltenwiese keine besonderen Ereignisse bekannt geworden waren. Benno hatte da einen Moment rumgestanden und überlegt, was er jetzt machen sollte. Und dann kam plötzlich dieser dicke BMW auf den Parkplatz gerollt, ein Riesenschlitten. Dunkelblau. Ein Siebener, aber so genau kannte Benno sich damit nicht aus. Und hielt vor den Tischen, eine halb nackte Frau stieg aus und setzte sich auf eine Bank. Ganz einfach so, die Fahrertür hatte sie nicht abgeschlossen, sie saß da wie ein Ölgötze und starrte geradeaus. Bewegte sich nicht, rührte sich nicht, also, die hatte sich von dieser Welt verabschiedet. Natürlich war Benno hingegangen, war ja wirklich komisch, so was, nicht? Setzt sich in Slip und BH auf eine Holzbank und lässt die Fahrertür weit offen. Aber sie hatte ihn nicht bemerkt, bestimmt nicht, und er, er hatte sie nicht angefasst, nein, ganz bestimmt nicht, ihm war sogar ziemlich mulmig zumute gewesen, nicht mal angesprochen hatte er sie, viel zu riskant. Tja, und dann - also, wie es genau passiert war, wusste er selbst nicht mehr, irgendwas musste bei ihm ausgerastet haben, plötzlich saß er in dem Wagen hinter dem Steuer, schlug die Tür zu, ließ den Motor an und brauste los. Wirklich, heute könnte er das gar nicht im Einzelnen erklären. Ehrlich nicht. Hatte sich einfach in das Auto geworfen, den Schlüssel gedreht und war losgefahren. Und die Frau hatte sich nicht gerührt, nicht den Kopf gedreht, nicht gerufen, war nicht aufgestanden, nichts. Mensch, Benno schwitzte richtig, als er auf die Autobahn bretterte. Nichts wie weg.

Rogge lächelte hässlich und Benno fuhr zusammen. Na ja, nun saß er da in dem Wagen, was hätte er machen sollen ...?

»Wohin haben Sie den BMW gebracht?«

Hierher. In Dreschbach/Bellhorner Berge runter von der Autobahn und hierher. In den Stall, den er als Garage benutzte. Bennos Augen funkelten hasserfüllt, aber auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen und deswegen regte sich Rogge nicht auf, sondern grinste nur dünn.

»Was haben Sie mit dem Wagen gemacht?«

»Verkauft.« Benno quetschte jeden Buchstaben heraus.

»Sie meinen - verschoben. Woher hatten Sie denn einen Abnehmer? Oder haben Sie schon häufiger gestohlene Autos verkauft?«

Nein, nie, es war der erste Wagen. Bestimmt. Und einen Abnehmer hatte Benno nicht, er hatte schließlich mit Olli gesprochen, im Vertrauen, und dieses Schwein von Wirt hatte die Hälfte des Geldes als Vermittlungsgebühr eingestrichen.

»Das Kennzeichen, Brockes.«

»Weiß ich nicht mehr. Eine Hamburger Nummer.«

»Wo sind die Schilder?«

»Die hab ich sofort abmontiert und am nächsten Tag auf die Müllkippe gebracht.«

»Und was ist mit den Wagenpapieren?«

»Mann Gottes, glauben Sie, die hätt ich aufgehoben? Ab in den Ofen.«

»Wem gehörte denn der Wagen?« Ganz ruhig, Jens, noch durfte der Kerl nicht abblocken oder aus Trotz zu mauern anfangen.

»Einem Zinneck. Hans Zinneck.«

»Den Namen hast du behalten?« Erst hinterher erschrak er, jetzt duzte er Benno auch schon, doch der Hinkende hatte nichts bemerkt.

»Ja, hab ich.«

»Zinneck - wie schreibt sich das?«

»Mit zwei n und ck.«

»Die Frau hatte doch sicher auch einen Führerschein dabei.«

»Ja, hatte sie. Charlotte Zinneck. Dusseliger Name.«

Rogge schwindelte vor Erleichterung. Endlich ein Name, ein Anhaltspunkt. Hans und Charlotte Zinneck. Ein in Hamburg zugelassener BMW der 7er Klasse. Und das Verrückte war, dass er Bennos Geschichte sogar glaubte. Was immer Inge Webers Gedächtnis geraubt hatte - es war nicht auf dem Parkplatz geschehen, sondern früher, bei einer anderen Gelegenheit, bei der sie ihre Kleidung verloren oder ausgezogen hatte.

»Was ist mit den anderen Sachen aus dem BMW? Mit ihrer Handtasche zum Beispiel?«

»Alles gleich auf die Müllkippe.«

Aber vorher hast du schön alles gefilzt, ergänzte Rogge. Die Intelligenz mochte Benno nicht gepachtet haben, aber er war gerissen genug, alle Dinge sofort zu vernichten, die ihn als Dieb überführen konnten. Und wenn nicht Benno so schlau gewesen war, dann hatte Olli dafür gesorgt.

»Na ja, so weit stimmt das mit der Zeugenaussage überein«, murmelte Rogge scheinbar unschlüssig.

Bennos hoffnungsvolles Grinsen erlosch. Was war denn noch? Er hatte doch alles ausgepackt! Draußen war es seit einiger Zeit verdächtig still und Rogge grinste zufrieden, als Kili just in diesem Moment in das Zimmer kam. Unterbrich nie einen Typen, der sich zum Singen entschlossen hat! Erste Vernehmungsregel.

Bennos Gesicht verfiel. Denn Kili schwenkte ein Gewehr, das er mit einem Taschentuch umfasste: »Chef, das Kaliber stimmt. Jede Wette, dass diese Missgeburt auf dich geschossen hat.«

»Nein!«, heulte Benno auf, doch Kili musterte ihn angeekelt: »Gib dir keine Mühe. Morgen liefern uns die Ballistiker den Beweis, dass du nicht nur wegen Raubes, schweren Diebstahls und schwerer Körperverletzung, sondern auch wegen versuchten Mordes dran bist. Dich werden wir für lange Zeit aus dem Verkehr ziehen, Bürschchen.«

Sie lieferten einen sehr kleinlauten Benno auf dem Revier in Herlingen ab; Wibbeke hatte es wohl nicht mehr in seinem Garten ausgehalten und war zum Dienst erschienen.

»Ist dieser Dreckskerl eigentlich schon mal ED-behandelt worden?«, tönte Kili so laut, dass Wibbeke die Stirn runzelte. »Aus diesem Gewehr hat er auf meinen Chef geschossen, darauf nehme ich jede Wette an, und ich sage euch: Manchmal könnte ich ihn auch umlegen, aber das ist mein Privileg, da pfuscht mir so ein Schwachkopf nicht rein!«

Die Revierbeamten staunten, Wibbeke schaltete und kniff vergnügt ein Auge zu.

»Außerdem Widerstand gegen die Staatsgewalt, nee, der Junge ist dran.«

»Okay, die Nacht wird unruhig, unsere beiden Jungen da unten heulen schon, als seien die kalten Puter im Anmarsch.«

Alles Schau, und Wibbeke hatte es durchschaut, aber er spielte mit und deshalb wurde Benno unnötig rücksichtslos in den Keller geschubst.

Rogge seufzte, als sich die Tür geschlossen hatte: »Es war ein Eiertanz. Er glaubt an einen nicht existenten Zeugen, noch. In Wahrheit ist es eine Zeugin, die Benno vergewaltigt und bedroht hat, und sie hat Angst, ihn zu belasten.«

»Ein Scheißspiel«, murmelte der Oberkommissar. »Sie wollen nicht ...?«

»Nein, ich hab ihr mein Wort gegeben. Anders hätte sie mir überhaupt nicht geholfen.«

»Ja«, meinte Wibbeke nach einer Pause flach. »Manchmal muss man ...«Er brachte den Satz nicht zu Ende und das machte ihn noch sympathischer.

Vor dem Revier verkündete Rogge leise: »Ich habe Hunger auf Buletten mit Röstzwiebeln und Essiggurken und Schmalzbrot. Und Durst auf Altbier und Samtkragen.«

»Mit anderen Worten: Du willst dich bei Gunda besaufen.«

»Ich lade dich ein.«

»Jasmin wird sich nach mir verzehren.«

»Nein, sie verzehrt irgendwo stilvoll ein Mehr-Gänge-Menü.«

»Und ein anderer zahlt für sie. Bei Kerzenschein und Champagner, ich darf nicht daran denken. Ich nehme deine Einladung an.«

XI.

Schippel hatte Durchfall, ganz ordinären, brutalen Dünnschiss, der einfach nicht aufhören wollte. Alle halbe Stunde packte ihn der Krampf, dann konnte er nur noch wie ein Verrückter aufs WC rasen und beten, dass nicht alle Kabinen besetzt waren. Von Mal zu Mal, so bildete er sich ein, wurden die Schmerzen schlimmer, so was hatte er noch nicht erlebt. Schuld war natürlich dieses verdammte Kraut, er hätte nach der ersten Portion, die wie hart gewordene Essiggurken schmeckte, ablehnen sollen, aber Kitty platzte fast vor Stolz über ihren kulinarischen Frevel. Selbst eingelegt, selbst gewürzt, selbst gesäuert, schmeckte es ihm etwa nicht? Nein, hätte er am liebsten gebrüllt, doch feige, wie er war, hatte er geschwiegen und Bier nachgeschüttet, um diese magenzerfressende Säure zu neutralisieren. Nein, nicht nur feige, zum ersten Mal hatte sie ihn in ihre Wohnung eingeladen und natürlich hatte er sich mehr erhofft als Bier und Essig. Ihr schien es nichts auszumachen, ihr Magen bestand wohl aus - um Himmels willen, es ging schon wieder los!

Pfefferminztee und trockener Zwieback. Wenn er aufstieß, fühlte er, wie es ihm die Speiseröhre spaltete. Im Bett waren sie nicht gelandet; als Schippel ihre Bluse aufknöpfte, bekam sie Migräne. Wozu also das Opfer? Sterbensübel hockte er auf dem Klo und schwor sich, Kitty aufzugeben. So gut konnte sie im Bett gar nicht sein, um diese Qualen zu rechtfertigen.

Und die Scheißkantine hatte natürlich noch geschlossen.

Lauwarmer Tee und Zwieback. Davon hing jetzt sein Überleben ab. Er musste raus aus dem Bau, zum Teufel mit dem Computer, wo war das nächste Geschäft?

Den ersten Zwieback erbrach er umgehend. Und dieser Durst! Eine mitleidige Seele organisierte ihm den Schlüssel für das Krankenzimmer, beim dritten Versuch behielt er Tee und Zwieback bei sich und schlief vor Erschöpfung auf der Liege ein.

Gegen 15 Uhr wankte er wieder in sein Zimmer, hockte sich an seinen Schreibtisch, den Kopf auf beide Fäuste gestützt, und stierte vor sich hin. Der Griff nach der Tastatur zählte zu den unbekannt gebliebenen Heldentaten des männlichen Geschlechts. Achtzig Meldungen waren aufgelaufen und die Anfrage nach Zinneck, Charlotte und Zinneck, Hans hätte er beinahe überlesen.

Pertz schluckte und atmete dreimal tief durch, bis er wieder mit normaler Stimme fragen konnte: »Wann ist die Anfrage eingelaufen?«

»Um 8.06 Uhr.«

»Und das erfahre ich erst jetzt?«

Schippel wollte zu einer Erklärung ansetzen, aber ein gütiges Geschick bewahrte ihn vor diesem Fehler, deshalb schwieg er. Nachdem Jockel Pertz wortlos aufgelegt hatte und nur stumm über die Kooperation von Bundesnachrichtendienst und Bundeskriminalamt fluchte, rief Schippel Kitty an und sagte unter einem Vorwand ihre Verabredung ab.

Montag, 25. September

Seit Sonnenaufgang regnete es, staubfeiner Niesei schwebte herab, genug, um die Windschutzscheibe zu verschmieren, zu wenig, um die knarzenden Scheibenwischer ruhig zu stellen. Es war empfindlich kühl geworden, was Rogge in einem Punkt nicht störte, seine Sommerhosen und -jacketts hatten in den beiden vergangenen Wochen heftig gelitten und mussten irgendwann ersetzt werden; allein bei dem Gedanken an Geschäfte und Anproben und Umkleidekabinen schauderte Rogge. Altbier und Samtkragen verursachten keinen schweren Kopf, erst recht nicht auf der Grundlage von Gundas hervorragenden Buletten und Bratkartoffeln, und auch Kili, der schon seit sieben Uhr an seinem Schreibtisch hockte, hatte den mäßigen Exzess gut überstanden.

 

In der Semperstraße parkte Rogge drei Häuser vor der Bäckerei Krone. Als er das Geschäft betrat, warf Inge Weber ihm einen beunruhigten Blick zu, offenbar verriet sein Gesicht seine Spannung.

»Guten Morgen, Herr Rogge.«

»Guten Morgen. Können wir uns einen Moment ungestört unterhalten?«

»Ja, kommen Sie.«

Zwischen Geschäft und Backstube lag ein schmaler Raum, voll gestellt mit Schränken, einem langen Tisch und Stühlen; Inge Weber setzte sich und starrte ihn an.

»Ich glaube, ich habe etwas herausgefunden.«

»So?«

»Sagt Ihnen der Name Zinneck etwas?«

»Zinneck«, wiederholte sie gedehnt. »Nei...ein.«

»Charlotte.«

Sie überlegte, die Stirn vor Konzentration gerunzelt. »Nein«, murmelte sie schließlich und forschte in seinem Gesicht: »Müssten denn beide Namen ...«

»Ich bin mir ziemlich sicher, Sie heißen Charlotte Zinneck.«

»Charlotte Zinneck.« Sie flüsterte die beiden Wörter und ihre Blicke irrten umher. »Charlotte Zinneck - Herr Rogge, ich muss Sie enttäuschen, das sagt mir gar nichts.«

»Keine Erinnerung, keine schwache Ahnung, das merkwürdige Gefühl, man müsste sich an etwas erinnern, aber käme bloß nicht drauf?«

Ihm zuliebe strengte sie sich an, aber als ihre Lippen hilflos zu zittern begannen, erhob er sich mit einem Zentnergewicht auf den Schultern. Den Fehlschlag hatte er nicht erwartet und sie schaute ihn flehend an, als bitte sie um Entschuldigung dafür, dass sie ihm nicht helfen konnte.

»Können Sie heute Nachmittag, nach Ihrem Dienst, zu mir ins Präsidium kommen?«

»Ja, natürlich. Gegen fünf, ja?«

»Dann erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte.«

»Ja - ja - um fünf — ich muss Achim anrufen«, murmelte sie verwirrt. Sie war durcheinander, seine Erregung hatte sie angesteckt, und als sie ihm die Hand hinstreckte, kämpfte sie mit den Tränen.

Die Montagskonferenz hatte schon begonnen, als Kogge ins Präsidium kam, und Hertha legte den Kopf schräg: »Ist das nicht ärgerlich? - Nun haben Sie schon wieder diese schöne Versammlung versäumt.«

»Lieber eine Tasse Kaffee als zwei Stunden Konferenz«, flachste er sie an.

»Schon recht, aber wenn ich an die Kaffeekasse denke ...«

»Sie sollten Kassiererin bei der Mafia werden.«

»Hier fühle ich mich sowieso wie bei der Mafia«, entrüstete sie sich und er zückte ergeben sein Portemonnaie.

Kili lobte Gunda in den höchsten Tönen, ihre Buletten etwas weniger, und erwähnte nur höflichkeitshalber die Kombination von Altbier und Samtkragen, einen klaren Schnaps, auf den so vorsichtig ein dunkelroter Magenbitter gegossen wurde, dass er auf der Oberfläche des Klaren schwamm und einen Kragen bildete.

»Wie alt ist Gunda eigentlich?«, fragte Kili sehr beiläufig und Rogge grinste breit. Daraus machte sie ein Geheimnis, Rogge kannte ihr Geburtsdatum allerdings aus den Akten, und als Gunda ihn eines Abends direkt anhaute: »Stört es dich, dass ich vorbestraft bin?«, hatte Rogge geantwortet: »Wäre ich dann hier?«

»Gunda meint ganz zu Recht, man sei nur so alt, wie man sich fühle.«

»Dann steckt sie wohl noch in der Pubertät«, murrte Kili, der gestern Abend heftig mit ihr geflirtet hatte, was Rogge naserümpfend missbilligt, aber nicht gerügt hatte. Die zierliche aschblonde Gunda war hübsch und schien sanften Gemütes zu sein, hatte eine hinreißende Figur und liebte enge Kleider, bei denen sie oben und unten an Stoff sparte; alle drei Eigenschaften hatten Kili wohl daran erinnert, dass seine Jasmin gerade bei Kerzenlicht mit einem anderen Mann schäkerte, wenn nicht noch mehr, und Gunda hatte seine Komplimente mehr geduldig denn erfreut ertragen.

»Es wird sie begeistern zu hören, dass du sie für einen albernen Teenager hältst. Was macht unser Fall?«

»Alles aufs Gleis geschoben, Chef.« Anfragen in Hamburg, bei den Kollegen und der Einwohnermeldestelle, beim BKA, beim Kraftfahrzeugbundesamt, bei den Autoversicherungen. Zentraler Abgleich mit den Vermisstenmeldungen lief noch; dass Hans Zinneck seine Frau - Schwester? - Charlotte nicht als vermisst, verschwunden angezeigt hatte, ließ sich am einfachsten dadurch erklären, dass ihm ebenfalls etwas zugestoßen war. Aber beim BKA geriet jede Anfrage in die große Warte-und Kontrollschleife vor den zentralen Computern.

»Schon was aus Herlingen gehört?«

»Nein, sie drehen Benno noch durch die Mangel.«

Bis zum Mittag saß Rogge vor dem Computer und verfasste seinen zweiten langen Bericht. Diesmal wurde er häufiger gestört, die Mannschaft wollte sich vergewissern, dass er wieder an Deck war, und wie aus heiterem Himmel wuchsen die bekannten und ungeliebten Aktenstapel auf seinem Schreibtisch.

In der Kantine winkte ihm Simon zu, der natürlich das Gras hatte wachsen hören. Rogge berichtete ihm in groben Zügen, was sich ereignet hatte. Sie saßen allein an dem großen Tisch, es gab nur wenige Kollegen, die sich freiwillig zu dem Kriminalrat gesellten. Zudem kultivierte Simon eine fiese Technik, jeden niederträchtig anzugrinsen, der auf den Tisch zusteuerte.

»Gute Arbeit, Herr Rogge«, urteilte Simon endlich anerkennend. »Mit Grem hätte keiner aus dem Dorf so offen gesprochen.«

»Mit Wibbeke auch nicht«, fügte Rogge hämisch hinzu. So billig ließ sich ein erfahrener Hauptkommissar auch von einem durchtriebenen Vorgesetzten Kriminalrat nicht abspeisen; daher war ohne Worte ausgemacht, dass Simon eines nicht mehr allzu fernen Tages beichten musste, warum er Grem den Fall weggenommen hatte.

»Übrigens - kein Wort an die Pressestelle«, setzte Simon beiläufig hinzu.

Nach einer Minute bejahte Rogge nachdenklich.

Um fünf Uhr war Rogge halbwegs auf dem Laufenden, um sechs hielt er es nicht mehr aus. In der Bäckerei Krone versicherte man ihm, dass Inge Weber kurz nach vier fortgegangen sei. In ihrer Wohnung hob niemand das Telefon ab.

Hinter Schönborn musste er hertelefonieren, der sein Misstrauen nicht verhehlte, aber versprach, Inge Weber zu suchen.

Um sieben Uhr rief Schönborn zurück: »Nein, sie ist nicht bei mir und nicht in ihrer Wohnung. Auch nicht bei den Nachbarn.«

»Scheiße«, fluchte Rogge aus tiefstem Herzen.

»Was soll das heißen?«

»Ich habe ihr heute Morgen erzählt, wie sie richtig heißt, und prompt ist sie abgehauen.«

Darauf schwieg Schönborn so lange, dass Rogge den Hörer auflegte.

Simon krächzte ins Telefon: »Soll ich jetzt behaupten, ich sei völlig erschüttert?«

»Nein, aber wenn Sie genau diese Reaktion befürchtet haben, hätten Sie mir einen Tipp geben müssen.«

»Diese Reaktion habe ich nicht - ich wiederhole: nicht - befürchtet.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Eine Nacht darüber schlafen. Was denn sonst!?«

Weil eine Hiobsbotschaft sich immer so einsam fühlt, schlich Kili in Rogges Zimmer, als solle ihm der Kopf abgerissen werden: »Absolute Fehlanzeige. Zinneck, Hans und Charlotte sind im vorigen September nicht in Hamburg gemeldet gewesen. Es gibt keine Vermisstenmeldung auf den Namen Hans oder Charlotte Zinneck. Im vorigen Jahr ist in Hamburg kein Auto auf einen der Namen angemeldet gewesen. Eine Diebstahls-oder Verlustmeldung für den BMW liegt auch nicht vor.«

»Mahlzeit!«

Damit war das Maß noch nicht erfüllt, Wibbeke rief an und räusperte sich umständlich: »Alles Scheiße.«

»Hier auch.«

»Wir haben Benno Brockes freilassen müssen.«

»Das darf nicht wahr sein!«

»Über Mittag wollte er plötzlich einen Anwalt. Was sollten wir machen? Er gibt den Diebstahl dieses BMWs zu. Aber er leugnet stur, dass er auf Sie geschossen hat, und das Labor will sich mit dem Gewehr nicht festlegen.«