Loe raamatut: «Visitors - Die Besucher»
Die Besucher
Achim Albrecht
1. Auflage April 2019
© 2019 OCM GmbH, Dortmund
Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM Verlag, Dortmund
Verlag: OCM Verlag, Dortmund, www.ocm-verlag.de
ISBN 978-3-942672-66-5
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Contents
1 Kapitel I
2 Kapitel II
3 Kapitel III
4 Kapitel IV
5 Kapitel V
6 Kapitel VI
7 Kapitel VII
8 Kapitel VIII
9 Kapitel IX
10 Kapitel X
11 Kapitel XI
12 Kapitel XII
13 Kapitel XIII
14 Kapitel XIV
15 Kapitel XV
16 Kapitel XVI
17 Kapitel XVII
18 Kapitel XVIII
19 Kapitel XIX
20 Kapitel XX
21 Kapitel XXI
22 Kapitel XXII
23 Kapitel XXIII
24 Kapitel XXIV
25 Kapitel XXV
26 Kapitel XXVI
27 Kapitel XXVII
28 Kapitel XXVIII
29 Kapitel XXIX
30 Kapitel XXX
31 Kapitel XXXI
32 Über den Autor
I.
Angefangen hatte es mit der Frau im blauen Mantel.
Im Rückblick erschien ihm seine amateurhafte Vorgehensweise fast lächerlich. Wie verängstigte Vögel hüpften seine Augen von Detail zu Detail, saugten sich für Augenblicke an dem Saum des Mantels fest und stießen sich unzufrieden davon ab, um die Umgebung zu kontrollieren. Gesichter flogen vorbei und Gesprächsfetzen verwehten. Der Platz mit dem Marktbrunnen verengte sich zu einer Gasse, vor der der Autoverkehr nach links wich, weil rotbäuchige Schilder mit weißen Balken die Einfahrt verweigerten.
Pflastersteine wetteiferten darum, es den modischen Absätzen der krampfhaft um Haltung bemühten Damenschuhe schwer zu machen und bildeten eine strenge Grenze zu der willfährigen Kolonie schmuckloser grauer Platten, die sich den Tritten der Fußgänger ohne Widerstand ergaben.
Er war sich nicht sicher, was seine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte, glaubte aber, dass es das Blau des Mantels war, der sich um die Waden der Frau bauschte. Selbst an Tagen, die er in selbstzufriedener Gelassenheit verbrachte, war blau nicht seine Farbe. Am ehesten zu ertragen gewesen wäre ein gedecktes Dunkelblau, das bescheiden und seriös daherkam. Für Kinder mochte auch ein unschuldiges Hellblau angemessen sein, das ihre Unvoreingenommenheit kundtat. Was sich allerdings vor ihm seinen Weg bahnte, war ein stechendes Stahlblau, kompromisslos und Übelkeit erregend, weder fröhlich und unbekümmert wie ein flatterhaftes Gelb noch beruhigend und matronenhaft wie ein Tannengrün.
Er scherte im Strom der Flanierenden nach rechts aus, was ihn einige Anstrengung kostete, da er sich unbewusst gerne nach links hielt. In einem Kneipengespräch hatte ihn ein flüchtiger Bekannter darüber belehrt, dass wissenschaftliche Experimente den Beweis erbracht hatten, dass die Anhänger von Verschwörungstheorien immer einen Hang zur Abweichung nach links verspürten, während nüchterne Charaktere auch mit verbundenen Augen eine gerade Linie zu halten vermochten. Seltsamerweise hatte ihn die Bemerkung stärker getroffen, als er sich zugestehen wollte und so stellte er sich bei jeder Gelegenheit auf die Probe.
Er redete sich ein, dass seine inzwischen beträchtlichen Kenntnisse über Beschattungstechniken danach verlangten, von Zeit zu Zeit Stellungswechsel vorzunehmen, um nicht die Aufmerksamkeit des Objektes zu erregen. Er beschleunigte seinen Schritt und klopfte mit der Hand zum wiederholten Mal auf seine Jackentasche. Sein wichtigstes Werkzeug für diesen Tag war an seinem Platz und mit einem Griff sicher zu erreichen. Wenn es soweit war, musste es schnell gehen. Es musste natürlich aussehen und durfte keinen Verdacht erregen.
Die Frau im blauen Mantel fädelte mit kurzen energischen Schritten in eine Gruppe müßig tratschender Hausfrauen mit prall gefüllten Einkaufstaschen ein und drehte sich ruckartig um. Seine Augen hafteten gerade an den unmodischen Keilabsätzen ihrer Schuhe, die den militärisch präzisen Schwenk mit vollzogen. Die richtige Reaktion wäre gewesen, mit gesenktem Kopf im gleichen Rhythmus wie bisher an dem Objekt vorbeizuschlendern, ohne es eines Blickes zu würdigen oder aber die fortgeschrittene Version zu bemühen und den Blick über den Scheitel ihres dunklen Haares zu heben und angelegentlich suchend in die Ferne zu schauen, während man den Gesamtausdruck ihres Gesichtes auf sich wirken ließ, um zu entschlüsseln, welche Motivation hinter ihrem plötzlichen Manöver stand.
Seine Gedanken beschäftigten sich noch mit den formlosen Waden unter den cremefarbenen Strümpfen, die beim Gehen nicht die Teilung in separate Muskelbündel aufwiesen, aus denen man auf die sportliche Betätigung des Objektes schließen konnte. Er blieb mit der gleichen unnatürlichen Heftigkeit stehen wie die Verfolgte und verkrampfte sich augenblicklich, als ihm klar wurde, dass er sich mit der Bewegungslosigkeit entblößte und preisgab, bar jeder natürlichen Deckung. Im Widerstreit mit seinem Fluchtinstinkt schlenkerte er hilflos mit den Armen und brachte schließlich einen hilflosen Vertuschungsversuch zustande, der darin bestand, dass er umständlich nach einem Taschentusch kramte und sich ohne ersichtlichen Grund die Oberlippe abwischte, während er den Blick von dem Objekt abwandte.
Ihm war nicht entgangen, dass ihn die Frau forschend musterte, ihn taxierte und wieder losließ, um ihre hellbraune Handtasche zu durchsuchen, die sie beim Gehen unnatürlich weit von ihrem Körper weg hielt, als habe sie der Tasche die Zusage gemacht, dass diese keinesfalls mit dem Mantel in Berührung kommen müsse.
Tief Luft holend wandte er sich um und ging einige unschlüssige Schritte, bis er ein Schaufenster fand, das es ihm erlaubte, das Spiegelbild des Objektes in Augenschein zu nehmen. Die Frau fingerte eine Zigarette aus einer Schachtel und steckte sie unangezündet zwischen ihre Lippen. Ihr Gesicht war ein bleiches Oval ohne besondere Ausdruckskraft bis auf die entschlossen zusammengepressten Lippen, die die schlanke Zigarette malträtierten. Dem Verfolger fiel auf, dass er die Frau nur mit Mühe identifizieren könnte, wenn sie sich des Mantels entledigte, dessen marktschreierische Präsenz wie ein Leuchtturm hervorragte.
Seine Versäumnisse wogen nicht weniger schwer, wenn man zu seinen Gunsten in Betracht zog, dass er das Objekt schon eine geraume Zeit verfolgt und niemals aus den Augen verloren hatte. Es war ihm auch gelungen, die Handtasche als hochpreisige Ware zu identifizieren, die sich in ihrer gediegenen Langweiligkeit an das graue Kostüm anpasste, das der monströse Mantel bei jedem Schritt für kurze Augenblicke freigab.
Sie hatten gemeinsam Boutiquen besucht und Kaufhäuser durchwandert, wobei er stets eine respektvolle Entfernung einhielt. Nur ein einziges Mal war er weniger zaghaft gewesen und hatte die Distanz zwischen ihnen rasch verringert, um noch die Duftwolke zu erreichen, die sie aus einem umständlich ausgewählten Probefläschchen in Richtung ihres Halses gesprüht hatte, bevor sie zwischen den Werbewänden ihren Zickzacklauf fortsetzte. Jede Vorsicht außer Acht lassend hatte er unter dem missbilligenden Blick einer maskenhaft geschminkten Verkäuferin genießerisch die sich verflüchtigenden Reste von Nelke und Johannisbeere erschnuppert. Die Frau hatte ihn nicht enttäuscht. Sie hatte weder zu einer unpassenden sportlichen Note gegriffen, die einen jugendlich sehnigen Typus vorzuspiegeln versuchte, noch zu einer blumig unbeschwerten oder gar betäubend vulgären Mischung Zuflucht gesucht, wie es Frauen taten, die im Verblühen begriffen waren und sich eine Ausdünstung schufen, die vorspiegelte, dass auch sie noch vom Leben zum Tanz aufgefordert würden.
Abgesehen von dem unkleidsamen Mantel und der Tatsache, dass sie im Begriff stand, einen erneuten Selbstmordversuch zu unternehmen, verhielt sie sich in der Einkaufsumgebung instinktsicher wie jede andere Frau und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um Waren prüfend zu betrachten oder zu betasten. Vielleicht erlahmte ihr Interesse ein wenig zu schnell, vielleicht verrieten ihre Gesten die tiefe Resignation, die sich in ihrem Inneren eingenistet hatte – er hätte es nicht mit Gewissheit sagen können.
Es war mehr eine Ahnung, die aus dem Wissen entsprang, dass die Frau mit dem unpassend zusammengestellten Ensemble aus Kostüm, Mantel und Tasche vor wenigen Tagen ihren Sohn verloren hatte, der sich in einem Moment der Unachtsamkeit von ihrer Hand losgerissen hatte und vor eine Straßenbahn gelaufen war. Eine Zeitung hatte ein Bild von der zusammengesunken Dasitzenden veröffentlicht. Sie hatte ein gelbes Minikleid getragen, das zu dem Anlass, einen Einkaufsbummel zu machen und ihren Sohn in den Tod zu schicken, schlecht gewählt war.
Dieses Mal hatte er die aufsteigende Erregung nicht ignoriert und den Fotografen kontaktiert, der ihm nach anfänglichem Sträuben gegen eine großzügige Vergütung eine Adresse nannte. Für die Welt war der Vorfall eine Momentaufnahme gewesen, die alsbald dem Strudel des Vergessens anheimgefallen war. Anders war es für die Frau im blauen Mantel und ihren Schatten, der getreulich in der Nähe des Reihenhauses mit dem unfertigen Garten wartete. Sie war die einzige Bewohnerin und er hatte keine Sorge, dass er sie nicht erkennen würde.
Er wusste, dass er lange warten würde, denn die Frau hatte sich noch am Unfallort mit einer Nagelfeile die Pulsadern aufgeschnitten, ohne sich um die Überreste ihres Kindes zu kümmern. In ihrer Betäubung war sie handlungsfähig geblieben und hatte die Konsequenz gezogen, bevor man sie versorgte und am Abend in die Obhut ihres geschiedenen Mannes übergab, der sein überhebliches Lächeln gegen eine Miene feindseliger Besorgnis eintauschte. Ein zweites Bild zeigte sie schweigend gegeneinander gelehnt wie erschöpfte feindliche Kämpfer, die sich auf eine Waffenruhe geeinigt hatten. Schon am nächsten Tag fuhr ein Krankenwagen vor dem Haus vor und entführte die von Beileidsbesuchen und einem Medikamentencocktail zu Tode Geschwächte auf die Intensivstation eines Krankenhauses, wo man die zum Selbstmord Entschlossene reanimierte.
Was ihn fesselte, war die Geduld, mit der die Frau ihre systematische Selbstzerstörung betrieb. Sie war erfüllt von einer zähen Sturheit, die ihre Handlungen diktierte und ein Aufweichen der bürgerlichen Konventionen nur an den Rändern der Existenz zuließ, wo es um passende Kleidung oder gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensmuster ging. Er sah den blauen Mantel und die unangezündete Zigarette als Indizien an. Ganz sicher war er sich seiner Sache, als keine der Stationen, die sie bei ihrer Stadtbegehung gestreift hatten, Kaufinteresse auslöste. Natürlich hätte es geholfen, wenn sich die Frau im blauen Mantel auffällig verhalten hätte, wie jene es tun, die ihren Verstand auf eine publikumswirksame Art verlieren und sich laut klagend in Fußgängerzonen ihrer Kleidung entledigen, sich die Haut zerkratzen oder sinnlos alkoholisiert vor sich hin brabbeln.
Die äußerlich Funktionalen jedoch, die mit einer stupiden Effizienz zerbrachen, ohne eine Scherbe zu verlieren, waren schwer aufzuhalten, denn sie verhielten sich allenfalls ein wenig sonderbar wie vorübergehende Randexistenzen, denen man zutrauen konnte, dass sie sich bald wieder fangen würden.
Die Frau im blauen Mantel hatte ihren Weg fortgesetzt und strebte einer Stichstraße zu, die sie an einigen Antiquitätenläden vorbei zur lärmenden Betriebsamkeit der Hauptstraße bringen würde. Er konnte sich nur schwer aus seinen Gedankengebäuden lösen und war froh, dass er ihr wegen der beinahe erfolgten Enttarnung ohnehin einen Vorsprung gewähren musste. Aus den Augenwinkeln verfolgte er den Mantel. Er drehte sich einmal um die Achse wie ein Tourist, der sich nicht sicher ist, auf welchem Weg er seinen Müßiggang fortsetzen soll und schaute wieder in ihre Richtung. Die Gasse lag wie ausgestorben da. Er verfiel in einen hektischen Trab und stieß gegen einen Stapel Bücher, die ihre fleckigen Einbände präsentierten wie Wundmale. Er fluchte. Der ältliche Ladenbesitzer schüttelte hinter seinem Rücken mit geübter Geste eine Faust und stimmte ein undefinierbares Gezeter an, als seine Schätze auf die Erde polterten. Hektisch blickte er um sich. Er hatte sie verloren.
Frustriert stocherte er mit einer Hand hinter sich herum, bis er mit dem wackligen Büchertisch Kontakt hatte, der ihn daran zu hindern wagte, die Früchte seiner mühevollen Arbeit zu genießen. Ohne seinen Blick von den reglosen Schatten der Gasse abzuwenden, stieß er in den verbliebenen Bücherstapel hinein, der sich in schiefer Formation auf der Sperrholzplatte festkrallte. Zwölf Bände einer bei Touristen beliebten Esoterikreihe von zweifelhaftem intellektuellem Niveau rutschten über die Kante des provisorischen Tisches. Mit einem Wehlaut raffte der Antiquar, der seine zur Verkaufsförderung zur Schau getragene gelassene Bohemien Attitüde verlor, die Druckwerke an sich, kaum dass sie den Boden berührten. Er strich über ihre gekrümmten Rücken und inspizierte ihre Seiten, nicht ohne giftige Blicke in den Rücken des rücksichtslosen Fremden zu senden und halbherzig Verwünschungen zu murmeln, die aus merkantilen Gesichtspunkten die naheliegende Forderung nach Schadensersatz beinhalteten.
Die Wut des Verfolgers war noch nicht verraucht. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, ohne sich um den Alten zu kümmern oder daran zu denken, dass die ersten Gaffer in die Gasse schauten, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Die Frau musste den Augenblick der Unaufmerksamkeit genutzt und sich im Laufschritt entfernt haben, als er sich noch gockelhaft drehte. Ein Windstoß fegte an den unscheinbaren Läden entlang und trieb Papier und Laub vor sich her wie eine Lumpenarmada. Der Verkehrslärm der nahen Hauptstraße schwoll in unregelmäßigen Abständen zu einem dissonanten Klangbrei an und zerfiel wieder in gut unterscheidbare Melodien aus Rattern, Klingeln und Hupen.
Der Verfolger schaute im Vorwärtsgehen nach oben, als könnte der schmale Ausschnitt aus jagenden Wolkenformationen eine Quelle der Inspiration sein. Er fühlte, wie die Niedergeschlagenheit in seinen Körper kroch, und spürte die tiefe Müdigkeit, die die Reste von Adrenalin verdrängten.
Die Hand war ansatzlos aus dem Halbdunkel eines Treppenabsatzes geschnellt und hatte ihm eine schallende Ohrfeige versetzt. Er hielt sich sein Gesicht und rieb sein Ohr, während sich Taubheitsgefühl und Scham ein Stelldichein gaben. Die energische Hand holte erneut aus und hielt inne, als sie gewahr wurde, dass sich der Gezüchtigte in einem Reflex ängstlich duckte und hinter seinem angewinkelten Ellenbogen unzureichenden Schutz suchte. Die Hand sank herab und der blaue Mantel löste sich aus dem Hauseingang. Das ovale blasse Gesicht der Frau schwebte die ausgetretene Sandsteintreppe herab und beugte sich zu dem Gesicht des Mannes. Die Zigarette war verschwunden.
Die Augen der Frau waren grau und intensiv. „Perverser“, sagte der Mund und betonte jede Silbe mit schneidender Schärfe. Er sagte es noch einmal, dieses Mal lauter und bestimmter. Das böse Wort prallte gegen eine gelbliche Hauswand und füllte die Gasse mit seinem Klang. Der Ladenbesitzer griff es eilfertig auf, ohne der Frau zu Hilfe zu eilen. Mit in die Hüften gestemmten Ärmchen wiederholte er eifrig nickend „So ein Perverser“, als ob die plakative Anschuldigung die Erklärung für vieles wäre, was jemandem an einem solchen Tag widerfahren könne. Neugierige Passanten kamen vorsichtig näher, um die Szenerie in Augenschein zu nehmen. Jemand rief nach der Polizei. Erste Andeutungen von einer versuchten Vergewaltigung machten die Runde. Der Antiquar hob den näher Tretenden eine Auswahl Bücher entgegen. Mit Perversen verkaufte man Bücher.
„Tun Sie es nicht!“
Es war mehr ein Flüstern, tonlos und brüchig. Noch immer seine Wange massierend wiederholte er sich in bittendem Tonfall, als müsse er in der Anzahl der Äußerungen mit ihr gleichziehen.
Ihre Haltung änderte sich und das Leben in ihren Augen erlosch. Ohne ein Wort wehte ihr Duft an ihm vorbei, der Mantel streifte seinen Kopf. Er wagte es nicht sie festzuhalten. Seine linke Hand hatte sein Mobiltelefon ertastet, aber es war zu spät, das Foto zu machen. Es wäre ein annehmbares Foto gewesen, en passant aus der Hüfte geschossen, mit ihren zu Eis erstarrten Gesichtszügen und einem Teil des Mantelkragens als Motiv. So aber blieb ihm nichts weiter als die öffentliche Demütigung und das Gefühl des Versagens. Die Frau im blauen Mantel gehörte ihm nicht mehr. Er würde nicht zu einem neuen Versuch ansetzen, denn er hatte das unsichtbare Band zwischen ihnen zerstört. Die Zeit verrann ungenutzt.
Das Kreischen der Straßenbahn übertönte die gellenden Rufe, die die Hauptstraße in Aufruhr versetzten. Verwirrt erhob er sich und schüttelte seine Benommenheit ab. Martinshörner mischten sich mit ihrer penetranten Zweitonmelodie in die Geräuschkulisse ein und übernahmen die Vorherrschaft. Er stürzte vorwärts. Eine schwache Sonne wetteiferte mit pulsierenden blauen Lichtern, die Notfallmedizinern und Polizei ihre Autorität verliehen.
Mit groben Armbewegungen zerteilte er eine reglose Menschenmenge, die beständig zunahm und einen Halbkreis um ein Knäuel von Schienensträngen bildete. Hände überdeckten zum Zeichen des Entsetzens die Münder und ein gut gekleideter Mann besaß den Anstand, aus Ehrerbietung seinen Hut zu ziehen. Sein dünnes graues Haar zauste im auffrischenden Wind.
Ein Notarzt nahte von der anderen Seite. Die grell orangefarbenen Streifen auf seiner Jacke leuchteten voller Hoffnung, während sein Gesicht ausdruckslos und professionell war. Einige Polizisten versuchten die Menge zurückzudrängen. Ohne Murren folgten sie mit einiger Verzögerung den lauten Anweisungen der Ordnungshüter, um an anderer Stelle wieder in die Gafferstellungen zu drängen wie ein gärender Teig.
Der Verfolger aber trat mit gemessener Autorität an den blauen Mantel heran, der von den stählernen Radreifen der Bahn mit tonnenschwerer Zärtlichkeit festgehalten wurde. Er schwenkte mit geistesabwesender Geste seinen Bibliotheksausweis, um den Eindruck zu verfestigen, dass er in offizieller Ermittlungsfunktion und nicht als sensationsgieriger Leichenfledderer am Ort sei. Niemand würde dies in einem solchen Moment infrage stellen. Und mehr als einen Moment würde er nicht brauchen.
Die Frau im blauen Mantel lag in der Pose einer Gekreuzigten unter der Straßenbahn, die sie noch ein Stück mitgeschleift haben musste. Der Notarzt sah sich nach seinen Helfern um, denen er rasche Befehle zubellte. Infusionsbeutel und dickbäuchige Plastikkoffer wurden herbeigeschleppt. Der Verfolger beugt sich nach vorn. Er hatte keinen Blick für den abgetrennten Fuß, der noch im unversehrten Schuh stak. Er interessierte sich nicht für die unnatürlich verkrümmte Haltung der Schwerverletzten. Er war immun gegen die hastige Stimme der Marktfrau in seinem Rücken, die ihrer schockierten Nachbarin zum wiederholten Mal versicherte:
„Sie ist mit ausgebreiteten Armen vor die Straßenbahn gelaufen. Mit ausgebreiteten Armen, als wolle sie sie umarmen.“
Er interessierte sich nur für das Gesicht der vom Tod Gezeichneten, bevor ihre Züge hinter einer Sauerstoffmaske verschwinden würden.
Mit geschäftsmäßiger Routine und ohne den Kopf zu heben, blaffte ihn der Arzt an, er behindere die Rettungsmaßnahmen, wenn er hier herumlungere. Es gäbe noch nichts zu ermitteln. Er zeigte alle Anzeichen einer in vielen Einsätzen geübten Empörung, die keine weiteren Konsequenzen haben würde.
Mit einem Seitenblick vergewisserte sich der Verfolger, dass die Aufmerksamkeit der Menge auf eine lärmend heranrückende Journalistenmeute gerichtet war. Der Verkehr war vollkommen zum Erliegen gekommen. Die weiter hinten eingekeilten Autofahrer hupten ihren Zorn quer über die breite Straße. Eine bleigraue Wetterwand hatte sich vor die Sonne geschoben und es begann unaufgeregt zu nieseln. Dünne Regenfäden luden ein Heer verschiedenartiger Schirme dazu ein, sich wie ein Flickenbaldachin über die wartende Menge zu schieben.
Scheren hatten die Liegende von der blauen Mantelhülle befreit. Das blasse Oval ihres Gesichtes war nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sie stöhnte. Infusionsnadeln bissen sich in ihre Arme. Der Beschatter hatte die Kamera seines Mobiltelefons mit steifem Arm auf sie gerichtet und drückte ab. Ihre Augen trafen sich und er sagte so laut er es wagte:
„Tun Sie es nicht … ohne mich.“ Er wiederholte sanft: „Ohne mich, hatte ich vorhin gemeint.“ Sie schloss die grauen Augen. Sie schien keinen Schmerz zu verspüren. Auch der Ausdruck von Trauer und Bitterkeit war aus ihrem Gesicht gewichen. Als sie die Augen öffnete, lächelte sie.
Es war ein denkbar ungeeigneter Moment für eine Erektion, aber es gelang ihm sie zu ignorieren. Es war ein Moment der Zwiesprache mit einer fußlosen sterbenden Frau, die jeglicher Würde beraubt in einem besudelten grauen Kostüm inmitten zerschnittener Streifen eines geschmacklosen blauen Mantels in einem schmutzigen Gleisbett lag und Buße tat für den Tod ihres kleinen Jungen. Der Mann mit dem Mobiltelefon griff nach seinem Werkzeug. Das handliche Teppichmesser in der Hand, trat er rasch einige kleine Schritte näher und bückte sich. Die Sanitäter hielten irritiert inne, als er ein herrenloses Stück Saum des Mantels an sich zog und mit einem kräftigen Schnitt einen Teil davon abtrennte.
Das Unfallopfer war zum Abtransport bereit. Sie hatte viel Blut verloren. Der Mann mit dem Teppichmesser hatte eine letzte Aufgabe zu erfüllen. Ohne sich um die ärgerlichen Zwischenrufe der Sanitäter zu kümmern, tastete er nach dem Probefläschchen des Parfums, das die Frau im blauen Mantel im Kaufhaus ausprobiert hatte. Er hatte es unbemerkt eingesteckt, ohne zu wissen, wofür er es brauchen würde. Jetzt wusste er es. Der Nieselregen und der Tod hatten den angenehmen Geruch der Frau weggewischt. Es roch feucht und erdig und nach Vergänglichkeit. Der Mann wischte sich die Regenspuren aus der Stirn.
Er lief dicht neben der Trage her und es gelang ihm, das kleine Gefäß über ihren Oberkörper zu halten. Der Sprühstoß blieb fast unbemerkt, zumal es einigen Journalisten gelungen war, die löchrige Absperrung zu überwinden und mit Kameras und Mikrofonen bewaffnet am Maul des Krankenwagens zu ihnen zu gelangen. Befriedigt ließ sich der Mann aus der Phalanx der Nachrichtenhändler herausfallen. Es roch nach Nelken und Johannisbeere. Lediglich einer der Sanitäter, der mehrfach versucht hatte den Arm des Mannes zur Seite zu drücken, glaubte zu wissen, was geschehen war und rief wütend über seine Schulter hinweg:
„Du Perverser!“
Der Mann lächelte und drehte das Stück blauen Stoff zwischen seinen Fingern, während er mit weit ausholenden Schritten davonlief. In Zukunft würde er seine Sache besser machen.