Loe raamatut: «Mord aus kühlem Grund», lehekülg 6

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8. Kapitel

Vor der Ladentür stieß Zweifel mit einem Bauarbeiter zusammen.

»Sind Sie der Oberkriminale hier?«, fragte der den Kommissar, ohne Zeit auf eine Entschuldigung zu verschwenden. Zweifel nickte und klopfte sich den Staub vom Jackett, mit dem ihn der Mann bedacht hatte. »Was isch jetz mit meim Bagger? Ham Ihre Kollegen den jetz endlich als Tatwaffe identifiziert? I hab doch glei zugebn, dass I des Loch verbrochn hab. Auf ausdrückliche Anstiftung eines diffusen Bademeisters.« Er hob beide Hände, die mit Wagenschmiere, Erde und Kalk reichlich versehen waren. »I wasch meine Hände in Unschuld, Herr Oberinschpecktor.« Zweifel, der handgreifliche Beteuerungen zu Lasten seines Jacketts fürchten musste, trat geistesgegenwärtig zwei Schritte zurück.

»Sie heißen?«, fragte er ihn zur Abwehr so unfreundlich wie es ihm gerade möglich war. Der Mann grunzte.

»I ben der Mucki«, sagte er dann und zog geräuschvoll die Nase hoch.

»Steht das so auch in Ihrem Ausweis?«

»Na, da steht was anderes. Wollnsen sehn?« Er nestelte an seinem verdreckten Blaumann herum.

»Es genügt, wenn Sie mir Ihren vollständigen Namen laut und deutlich verraten.«

»No langsam, langsam. Ned so förmlich. I frag ja nur wegn meim Bagger. Der braucht nämlich Bewegung, Herr Kriminalrat.« Zweifel wollte jetzt erst recht nicht nachgeben und holte Stift und Notizblock hervor.

»Also …«, mehr sagte er nicht. Der Baggerfahrer schnaufte, dann zog er noch einmal die Nase hoch.

»Nepomuk Steiner, staatlich geprüfter Baumaschinenführer und außerdem staatlich geprüfter Landmaschinenmechaniker und außerdem …«

»Das reicht erst mal«, schnitt ihm Zweifel das Wort ab. Ilse Sontheimer hielt sich derweil dezent im Hintergrund. Roberto vom Bistro nebenan kam herübergeschlendert und stellte sich neben sie.

»Geben etwas Neuigkeit?«, raunte er ihr hinter vorgehaltener Hand zu. Sie nickte kurz und legte einen Zeigefinger auf ihre Lippen.

»Ich will es kurz machen, Herr Steiner und Sie nicht länger als nötig von Ihrem Bagger fernhalten. Bevor Sie mir jetzt antworten, überlegen Sie genau. Denken Sie an alles, was Sie heute gesehen und gehört haben.« Zweifel redete eindringlich aber jetzt etwas freundlicher mit dem Mann, der mit verschränkten Armen breitspurig vor ihm stand. »Machen Sie die Augen zu. Das hilft beim Erinnern. Also. Was kam Ihnen an diesem Vormittag komisch vor? Worüber haben Sie sich gewundert? Was war nicht, wie es sein sollte?«

»Jo mei«, sagte Nepomuk Steiner spontan und kratzte sich ratlos am Kopf. Zweifel hob die rechte Hand.

»Die Augen zu, sag ich!« Und dann schnippte er einmal mit Daumen und Zeigefinger.

»Santa Madonna, la Polizia macht in Hypnose?«, murmelte Roberto, als er verblüfft zusah, wie der Baggerführer tatsächlich die Augen schloss und nachzudenken schien. So stand er etwa zwei Minuten vor dem Kommissar, der beinahe an seiner Methode zu zweifeln begann.

»Nun«, sagte Zweifel schließlich, »was erscheint da vor Ihrem geistigen Auge?« Nepomuk Steiner öffnete seine Augen.

»Mei, wenn Sie mi so frogn – da erscheint eigentlich gar nix.« Zweifel seufzte. »So kann I ned nachdenkn. Da fällt mir nur ein, dass mei Frau mir heut die Brotzeit verweigert hat, weil I gestern auswärts gessen hob’. Muss I heut Mittag halt scho wieder auswärts essen. Das is weibliche Logik. Aber das wird Sie jetzt ned so intressiern, schätz ich.« Zweifel wedelte unwillig mit seinem Bleistift und klopfte damit auf sein Notizbuch. Der Baggerfahrer Nepomuk Steiner kam langsam ins Schwitzen. Er kratzte sich im Nacken, dann hustete er einmal kräftig, mehr aus Verlegenheit. »Nur weil Sie nach was gefragt ham, was nicht so war wie es sein sollte. Mei. Die Nackerten. Die warn halt recht aufgregt.«

»Das meine ich nicht, Herr Steiner. Probieren wir es anders. Was war, als Sie heut Morgen hier angekommen sind?«

»Ois wie immer. Koiner da außer mir. I ben immer der erschte.«

»Und später?« Zweifel war nun klar, dass er seinem Gegenüber alles aus der Nase ziehen musste. Der zog sie gut vernehmlich hoch.

»Um zehne hab I mein brek.«

»Ihren was?«

»Brek. Pause. Wissens, auf’m Bau müssens sich Ihre Kräfte gut einteilen.«

»Ich dachte, Sie sitzen bequem auf Ihrem Bagger und buddeln im Sand.« Nepomuk Steiner verschränkte erneut seine muskelbepackten Arme und versuchte herauszufinden, ob er jetzt beleidigt war. Er war es nicht.

»Genau, Herr Polizeipräsident, und Sie dürfen den ganzen Tag im dicken Auto sitzen und tatütata machen.« Zweifel ließ den Kopf sinken. Dann drehte er sich um, damit er sein Schmunzeln unbemerkt wegpacken konnte. Dabei blickte er direkt in Robertos sizilianische Augen, in denen mehr als ein Fragezeichen stand. Ilse Sontheimer daneben schüttelte verwundert ihren Kopf.

»Apropos tatütata«, ließ sich Nepomuk Steiner vernehmen. Zweifel drehte sich wieder zu ihm um. »Jetzt woaß I, was Sie moina, Herr …«

»Bevor Sie mich jetzt zum Justizminister machen, Herr Steiner, ich bin Kommissar, einfach nur Kriminalkommissar«

»Herr Kommissar, ja, des war übrigens a gute Serie damals, ›Der Kommissar‹. Kennans die?« Zweifel flüchtete sich in Galgenhumor.

»Deswegen bin ich Kommissar geworden.«

»Ach was! Da schau her. Was wollt’ ich jetzt sagen? Richtig. Die hatten keine Sirene. Des war irgendwie auch gar kein richtiges Rettungsfahrzeug. Blaulicht hat auch gefehlt. Des war also nicht wie es sein sollte, wie Sie gesagt ham.«

»Jetzt müssen Sie mir helfen, Herr Steiner. Ich bin nicht so schnell im Rätselraten. Was haben Sie denn genau gesehen?«

»Zwei Sanitäter. Die müssen schon lang vor allen anderen dagewesen sein. Bevor der ganze Zinnober losging.« Zweifel schaute ihn schweigend an und zog die Augenbrauen nach oben. Nepomuk Steiner dämmerte, dass er seine Ausführungen etwas besser sortieren musste. Also holte er tief Luft. »Als der John mich angerufen hat …«

»Sie meinen Herrn Fischli, den Bademeister? Wieso hatte der überhaupt Ihre Nummer?«

»Mir san Nachbarn, scho ewig, der John und I. Wie gesagt, da hab I ja noch gar nix mitgekriegt gehabt von dem ganzen Tohuwaboschlagmichtot, als der mi angrufn hot. Die ganzen Sankas und Notarztwägen sind ja erst viel später gekommen. Aber die andern zwei, die ohne Sirene, die warn mindestens scho a halbe Stunde vorher da. Die san mir aufgfalln, als I grad mal im Gebüsch war, Sie verstehn scho.«

»Um welche Uhrzeit war das genau?«, fragte Zweifel.

»Mei, so halber elfe. I war grad fertig mit meim Brek.«

»Wie kommen Sie darauf, dass es Sanitäter waren?«

»Ja was denn sonst? Die warn so angezogen wie Sanitäter. Und die ham eine Tragbahre rauszogn aus`m Auto.« Nepomuk Steiner machte eine bedeutsame Pause und nickte Roberto und Frau Sontheimer zu, die stumm einige Meter hinter Zweifel auf »etwas Neuigkeit« warteten. »Da lag einer drauf, also, eine Person lag drauf. I konnt nicht erkennen ob Männlein oder Weiblein. Und das fand I reichlich komisch. Warum laden die da, hinter der Therme, also wo weit und breit kein Eingang is, jemanden aus? Warum laden die überhaupt jemanden aus? Die ham doch da nix zu suchen. Die müssten doch ins Krankenhaus fahrn mit dera Person, oder ned?« Zweifel hatte sich stirnrunzelnd Notizen gemacht.

»Haben die zwei Sie bemerkt?«

»Kann I mir ned vorstelln.«

»Und weiter?«

»Nix weiter. Mei Kollege hat mi anpfiffn. I hab mi dann wieder auf mein Baggr konzentrierd und auf mei Arbeit. Und, bittschön, des würd’ I jetzt ganz gern auch wieder tun. I muss ja fertig wern.«

»Sie haben diese zwei Sanitäter mit ihrem Patienten ab dem Zeitpunkt also aus den Augen verloren?« Steiner nickte. Zweifel steckte seinen Notizblock weg und rieb mit der linken Hand über seine Glatze. »Wenn Sie mir noch zeigen, wo Sie die beiden gesehen haben, steht einem Wiedersehen mit Ihrem Bagger nichts entgegen.«

»Ich sollte Ihnen doch auch etwas zeigen!«, mischte sich Ilse Sontheimer ein. Zweifel nickte, kratzte sich am Kopf und fasste Roberto ins Auge.

»Und Sie? Haben Sie mir auch etwas zu zeigen?« Roberto erbleichte.

»Santa Madonna! Sono innocente, isch bin unschuldig«, stammelte er und wich zurück, beide Hände hochhaltend.

»Das sind wir alle«, murmelte Zweifel, »ganz am Anfang.«

Moritz Kronberger wachte auf. Etwas stimmte nicht. Da war ein großer schwarzer Stein in seinem Denken. Etwas Ungeheuerliches war, während er schlief, durch sein Unterbewusstsein gekrochen. Er erinnerte sich an seinen Traum. Er war eine einsame Bergstraße hinaufgelaufen, bei strahlendem Sonnenschein. Doch seine Bewegungen waren äußerst langsam und strengten ihn an. Das musste an dem großen, dunklen Mantel liegen, den er trotz der sommerlichen Hitze trug. Der Mantel ließ ihn frösteln. Er lag schwer auf seinen Schultern. Er konnte seine Hände nicht sehen, die Ärmel waren zugenäht. Er fühlte seine kalten Finger, die innen an dem Futterstoff unaufhörlich kratzten, während er einen Schritt vor den anderen setzte. Es war windstill. Eine Serpentine folgte auf die andere. Hoch über ihm im strahlend blauen Himmel begleitete ihn eine Bergdohle. Er konnte ihre Rufe hören. Er konnte seine Füße nicht sehen. Der Mantel war so lang, dass er am Boden schleifte. Seine Fußsohlen waren kalt und schmerzten. Er trug weder Schuhe noch Strümpfe. Sein Atem ging keuchend. Die Luft war sehr dünn. Die Sonne brannte. Er fror. Weiter oben in der Ferne konnte er den Gipfelgrat ausmachen. Die Straße war nun zu einem Schotterweg geworden und wurde immer schmaler. Seine Schritte verlangsamten sich. Er spürte die spitzen und kantigen Steine, die sich schmerzhaft in seine Fußsohlen bohrten. Der Mantel legte sich immer enger um seinen Körper. Er schnürte ihm die Brust ein, presste sich von allen Seiten an seine stolpernden Beine, bis es ihm nicht mehr möglich war, auch nur einen Schritt zu machen. Er blieb stehen. Er musste stehenbleiben. Einige Meter vor ihm landete, mit schwarzen Flügeln heftig flatternd, die Bergdohle. Er atmete schwer und keuchte seine Erschöpfung in die dünne Bergluft. Irgendwann drehte der Vogel den Kopf und zeigte ihm sein Gesicht. Der Anblick erschreckte ihn zu Tode und riss ihn aus seinem Schlaf. Moritz Kronberger versuchte, sich zu orientieren. Er hatte die Sätze seines Vaters so verinnerlicht, dass sie wie ein Mantra an seine Stirn pochten. Wer überlegen kann, wird überleben. Darum ging es. Ums Überleben. Ein eiskalter Stich fuhr ihm in die Brust. Sein Bruder hatte nicht überlebt. Florian war tot. Das hatten sie ihm klargemacht. Aber wie konnte das sein? Sie hielten ihn doch für Florian. Er öffnete die Augen. Trübes Kellerlicht umfing ihn. Es roch anders hier. Er drehte vorsichtig seinen Kopf nach allen Seiten und bemühte sich, etwas zu erkennen. Die Tür war nicht da, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Seine Hände tasteten die raue Wolldecke ab, auf der er lag. Wie war das möglich? Da war kein Klebeband mehr um die Handgelenkte, er konnte seine Arme frei bewegen. Mit einem Ruck zog er seine Beine an. Der plötzliche Schmerz in seinen Muskeln ließ ihn aufstöhnen. Gleichzeitig setzte sein Herz für einen Moment aus vor Überraschung. Er war nicht mehr gefesselt. Mühsam darauf bedacht, jeden Schmerz zu vermeiden, richtete er sich langsam auf, bis er schließlich verblüfft feststellte, dass er auf einer Krankenbahre saß, die in einem Kellerraum stehen musste. Man hatte ihn hierher transportiert, während er schlief. Die nächsten zehn Minuten verbrachte er sitzend damit, irgendein Geräusch zu identifizieren, das auf seine Entführer hingewiesen hätte. Doch außer einem leisen, sporadisch auftretenden Rascheln, vermutlich von Mäusen, drang nichts an seine Ohren. Schließlich fasste er sich ein Herz und stand vorsichtig auf. Auf wackligen, schmerzenden Beinen versuchte er, den plötzlich auftretenden Schwindel zu beherrschen. Ein paar Mal atmete er tief durch. Dann ging er zur Tür. Sie ließ sich leicht öffnen und kratzte ein wenig auf dem Boden. Wieder wartete er und lauschte angestrengt. Eine alte Holztreppe lag vor ihm, die er Stufe um Stufe erklomm, jederzeit darauf gefasst, von den Entführern entdeckt zu werden. Doch es war niemand zu hören. Es kam niemand, ihn aufzuhalten. Immer noch ungläubig drückte er die Klinke der Türe, als er oben angelangt war. Er stieß sie weit auf und machte ein paar Schritte. Er war im Freien. Er sog die frische Luft ein und blinzelte ins Sonnenlicht. Moritz Kronberger war frei. Etwas stimmte nicht.

»›Einsteins Rübe‹! Wo die Leute nur immer die Namen für ihre Lokale hernehmen«, brummte der Kommissar. Melzick nahm einen großen Schluck von ihrem dschungelgrünen Smoothie und schaute dann in die Runde. Das Lokal war fast voll besetzt. Es befand sich in einem ehemaligen Hangar, der von außen aussah wie ein halbierter, flach auf dem Boden liegender, riesiger Holzeimer. Es gab keine geraden Wände. Das Halbrund des Daches reichte auf beiden Seiten bis auf den Boden. Mehr als vierzig Jahre war darin ein historisches Fliegermuseum untergebracht gewesen bis die Flugveteranen sich entschlossen hatten, in eine größere Halle umzuziehen, die direkt an der Rollbahn des Wörishofer Kleinflughafens lag. Die neuen Inhaber hatten den alten Kasten behutsam renoviert, neue Fenster anstelle der von zentimeterdickem Staub bedeckten Butzenscheiben eingebaut, den Eingang durch breitere Türen einladender gemacht und für eine stilechte Beleuchtung in Form von Petroleumlampen gesorgt, die überall im Raum verteilt waren und sich erst bei genauer Betrachtung als geschickt getarnte LEDs entpuppten. Unter der hochgewölbten Decke hing an dicken Tauen ein Nachbau des legendären Hängegleiters von Otto Lilienthal. Die Wände zierten Fotos historischer Doppeldecker sowie Porträtaufnahmen ehrwürdiger Physiknobelpreisträger. Der berühmteste, der dem Fotografen die Zunge herausstreckte, fehlte allerdings. Dafür tauchte er im Namen des Lokals auf. Tische und Stühle, Geschirr und Besteck, Serviettenhalter und Speisekarte – das alles war im Fünfzigerjahre-Stil gehalten. Neben dem langen dunklen Tresen stand eine Original Wurlitzer Jukebox, die laut dezent angebrachtem Hinweis ausschließlich auf Zehnpfennigstücke reagierte.

»Bin auch zum ersten Mal hier, Chef. Penny Stock hat mir den Tipp gegeben. Sie erzählte was von drei abgebrochenen Physikstudenten, für die nach dem dritten Semester Rezepte erfinden wichtiger war, als Formeln von den Bäumen der wissenschaftlichen Erkenntnis zu pflücken. Da liegt ›Einsteins Rübe‹ als Name doch auf der Hand.«

»Dann hätten sie aber auch ›Schrödingers Katze‹ nehmen können.«

»Da komm ich jetzt zwar nicht ganz mit, aber so viel kann ich Ihnen versichern: Tiere gibt es hier nicht auf den Tellern. Außerdem macht sich Einsteins Kopf deutlich besser auf einer Speisekarte, als eine haarige Mieze«, erwiderte Melzick und hielt ihm die Frontseite der Karte unter die Nase.

»Das mit der Katze erklär ich Ihnen ein andermal. Wenn Sie mir jetzt bitte erklären, was ich mir unter ›zwei panierten Kornkreisen im Senfbad‹ vorzustellen habe.«

»Hört sich nach Experiment an, genauso wie das hier —,« sie fuhr mit den Fingern die Speisekarte entlang, »›ein Teller hausgemachter Parallelen‹.« Zweifel war jetzt ganz von dem Speiseangebot dieses Lokals gefesselt.

»Die lieben hier anscheinend kleine Portiönchen, wenn ich mir das so anschaue: ›Ein Karäffchen Lichtpartikel mit Spektrumrum‹.«

»Speck?«

»Ja, aber ohne ›c‹, dürfte also eher im physikalischen Sinn gemeint sein. Und hier: ›Ein Schälchen dunkle Materie‹. Was in Dreiteufelsnamen soll das sein? Vor allem: Wonach schmeckt es?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht verraten.« Von beiden unbemerkt war einer der drei ehemaligen Physikstudenten an ihren Tisch getreten. Zweifel schaute ihn fragend an. Melzick kratzte sich verblüfft an der Nase. Außer im Fernsehen hatte sie bisher noch niemanden einen echten Frack tragen sehen. Mit seiner dreieckigen Gesichtsform und seiner großen Nase erinnerte sie der junge Mann sehr stark an Fred Astaire in einer seiner Glanzrollen. Er räusperte sich vornehm hinter vorgehaltener Hand. »Wir wissen in der Tat bis heute nicht, woher und wie die dunkle Materie auf unsere Speisekarte kommt. Sie dürfen sie aber gerne probieren.« Zweifel rümpfte die Nase.

»Und was ist mit den Preisen für Ihre Speisen? Wissen Sie die wenigstens, ich kann hier nirgendwo etwas entdecken, Herr Ober.«

»Maitre wäre die korrekte Anrede, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben.« Melzick fühlte sich wie in einem Film. »Im Übrigen werden Sie nach erfolgter Nahrungsaufnahme feststellen, dass Preis und Leistung in diesem Teil des Universums ein inniges Verhältnis zueinander haben.«

»Aha. Es beruhigt mich, das zu hören«, gab Zweifel trocken zurück. »Wenn ich mich dann noch nach Ihrer Halbwertzeit erkundigen dürfte. Ich habe nämlich um 17 Uhr einen Termin.« Melzick konnte ein vergnügtes Grunzen nicht unterdrücken. Der Maitre warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er ungerührt antwortete.

»Für diejenigen unserer Gäste, die noch an die Existenz der Zeit glauben, haben wir größtes Verständnis.«

»Das heißt, wir dürfen relativ schnell mit einem Ergebnis unserer Bestellung rechnen?« Der Frack straffte sich in den Schultern.

»Das ganze Leben ist ein Experiment. Probieren Sie’s einfach«, war seine Antwort. Zweifel tauschte einen Blick mit Melzick.

»Schön, ich denke, wir begnügen uns zunächst mit zwei Tellerchen hausgemachter Parallelen und warten ab, was uns noch dazu einfällt.« Der Maitre nickte leicht und entfernte sich auf leisen Sohlen.

»Ich muss unbedingt mit Penny reden«, meinte Melzick. Zweifel lehnte sich entspannt zurück.

»Zweimal Spaghetti«, war im Hintergrund zu hören. Sie schauten sich an und grinsten erleichtert.

»Hoffentlich brauchen wir kein Mikroskop für die Tellerchen und ich hab auch keine Lust mit ’ner Pinzette zu essen«, sagte Melzick. »Ich hab einen Beerenhunger.«

»Darf man das als Veganerin so formulieren?«

»Wenn man es mit zwei ›e‹ schreibt, darf man das«, gab sie zurück und leerte ihren Smoothie. Zweifel nahm einen vorsichtigen Schluck aus seinem Glas.

»Ich hab keine Ahnung, was da drin ist, aber das ist vorläufig egal. Melzick, wir müssen reden.«

»Darauf warte ich schon die ganze Zeit, Chef.« Sie waren direkt von der Therme zum Essen in die Innenstadt gefahren, auf Melzicks Vorschlag hin. Ihr Magenknurren war nicht zu überhören gewesen und Zweifel hatte außer den Sontheimer’schen Pralinen seit dem Frühstück keine feste Nahrung mehr zu sich genommen.

»Ich sollte Klopfer nicht unbedingt warten lassen. Er scheint heute zu den Menschen zu gehören, die ganz besonders an die Existenz der Zeit glauben.«

»Also, dann sag ich Ihnen mal schnell, was Schilling und seine Assistentin mir unter der Folter verraten haben.« Bevor sie loslegen konnte, kam ein junges Mädchen an ihren Tisch.

»Hat Max sich wieder als Maitre aufgespielt?«, fragte sie in leicht genervtem Ton und stellte zwei Tellerchen auf den Tisch, kaum größer als die Gläser einer Pilotenbrille.

»Wir fanden es eigentlich ganz amü… was soll das denn darstellen?«, fragte Zweifel. Das Fräulein, ganz in Schwarz mit einer bodenlangen weißen Schürze, richtete das Augenmerk auf den Tisch, als wäre ihr soeben erst aufgefallen, was sie da serviert hatte. Auf jedem Teller lagen, exakt ausgerichtet, jeweils acht Spaghetti, jede Nudel etwa so lang wie Einsteins Nase. Sie kratzte sich kurz am Kinn und verkündete dann: »Nehmen Sie es einfach als Vorgeschmack auf zu erwartende Genüsse hin.« Damit verschwand sie in Richtung Küche.

»Immerhin al dente«, sagte Melzick, die sich bereits ein Stück einverleibt hatte. »Sie wissen ja, Chef, schön langsam essen.«

»Ich werde mich hüten«, sagte er, ließ seine acht Minispaghetti auf einen Rutsch in seinem Mund verschwinden und kaute drei bis vier Mal. »So, das wäre erledigt.« Melzick nahm die zweite Nudel zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Schilling ist für alles zuständig.«

»Das heißt, wenn es etwas zu entscheiden gibt, dann …«

»Genau. Dann ist das seine Sache und zwar ausschließlich, wie er mehrmals betonte. Meine Frage nach einem Organigramm, die ich mir nicht verkneifen konnte, fasste er dann prompt als Beleidigung auf. Fischli ist der Einzige, den man als so eine Art Abteilungsleiter ansehen könnte. Aber auch nur weil er der Älteste und Erfahrenste der acht Bademeister ist. Es gibt da noch eine Reihe von Mitarbeiterinnen, die sich bei der Betreuung, Beratung, Aufsicht und beim Empfang im Wellness- und Saunabereich abwechseln. Dann haben wir noch die Kassiererinnen, das Personal im Restaurant und im Bistro und die Leute, die in den Ladengeschäften arbeiten. Vier Haustechniker sorgen im Wechsel für den reibungslosen Ablauf. Ich habe hier eine Liste der Mitarbeiter, die heute Morgen anwesend waren. Hinter jedem Namen ist das Eintrittsdatum vermerkt, Sie werden feststellen, dass es kaum jemanden gibt, der länger als zwei Jahre dort arbeitet. In der technischen Zentrale …«

»Die hat mir Fischli gezeigt«, unterbrach Zweifel ihren Bericht.

»Dann haben Sie mit dem Techniker sprechen können?«, fragte Melzick. Zweifel nickte kurz.

»Der Mann war mit den Nerven fertig. Hat wohl erst vor ein paar Monaten hier angefangen und ist noch in der Probezeit. Er konnte mir nicht sagen, was mit der Haustechnik los war, außer dass von einer Sekunde auf die andere praktisch nichts mehr funktioniert hat. ›Die elektronische Steuerung hat gemacht was sie wollte‹, waren seine Worte.« Melzick war bei der dritten Nudel angelangt.

»Ich glaube eher, die hat gemacht, was jemand anderes wollte. Das hört sich sehr nach einem Hackerangriff an.«

»Jetzt futtern Sie doch endlich mal Ihre Vorspeise, der Anblick macht mich ganz kribbelig.« Melzick gehorchte umgehend und fuhr kauend fort.

»Ein Sicherheitskonzept gibt es immerhin. Auf dem Papier.«

Zweifel nickte.

»Adnan, der jüngere Bademeister hat mir bestätigt, dass es für solche Notfälle nichts taugt. Da geht es ausschließlich um vorbeugende Verhaltensmaßnahmen.«

»Sowas wie: ›Wenn Schilling kommt in die tiefe Hocke gehen und Arme über den Kopf‹?« Zweifel nickte.

»Muss ja einen Grund geben, dass die Leute hier so rasch wieder aufhören zu arbeiten. Haben Sie übrigens rausgefunden, wer heute Vormittag diese verunglückten Durchsagen verbrochen hat?«

»Nein.«

»Wie nein?«

»Ich weiß zwar, wer normalerweise die Durchsagen macht. Es sind zwei Studentinnen, die sich alle paar Tage abwechseln. Ihre Namen hab ich ganz unten separat auf der Liste notiert. Charlotte Burg wäre erst ab übermorgen an der Reihe

gewesen. Sie steckt mitten in der Vorbereitung für die Semesterprüfungen. Henriette Kohler wäre demnach heute dran gewesen.«

»Also, Melzick, wo ist das Problem?«

»Sie ist nicht erschienen.«

»Woher wissen wir das?«

»Die haben ein Zeiterfassungssystem in der Therme. Eine von Schillings ›innovativen Maßnahmen zur Mitarbeiterführung‹.«

»Aha, und was sagt uns das?«

»Sie hat sich heute nicht angemeldet. Sie war nicht da. Als sich das bei unserer kleinen Konferenz herausstellte, war Schilling sichtlich überrascht.«

»Wer hat denn dann die Durchsagen gemacht, zum Teufel?«

»Henriette Kohler jedenfalls nicht. Schillings Sekretärin hat wie wild herumtelefoniert, aber die Kohler hat niemand gesehen.«

»Interessant. Fischli hat erwähnt, dass er die Stimme von heute noch nie gehört habe. Das heißt im Klartext«, sagte Zweifel und lehnte sich vor, »wer auch immer die Durchsagen machte, führte Böses im Schilde und kam von außerhalb. So wurde die Panik erst richtig angefeuert.«

»Dazu passen die verriegelten Türen und die Rauchgasbomben. Da hat jemand ganz gezielt ein Chaos inszeniert.«

»Die Frage ist«, sagte Zweifel und rieb mit der Linken über seine Glatze, »ob dieser Jemand auch für die Leiche in der Stollensauna zuständig ist.« Melzick lehnte sich zurück. Maitre Max war mit zwei großen, dampfenden Tellern voller Spaghetti an ihren Tisch getreten.

»Ich vermisse die Parallelen«, sagte Zweifel mit kritischem Blick auf seine riesige Portion. Maitre Max schaute ihn an wie einen Schüler, der nach Extraferien fragt.

»Wie Sie vielleicht wissen«, hob er zu einer geduldigen Erläuterung an, »ist ein wesentliches Phänomen von Einsteins Relativitätstheorie der gekrümmte Raum.« Zweifel nickte und schaute ihn gespannt an. »Nun, wir haben diese Theorie um eine kulinarische Komponente erweitert. Durch die Krümmung der Nudel entsteht mehr Raum für Sugo.«

»Sie sollten im Theater auftreten.«

»Das tue ich bereits. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim Studium Ihrer Teller.« Womit er sich entfernte.

»Alfo, mir fmeckt bie Theorie«, meinte Melzick mit vollem Mund. Zweifel griff zu Löffel und Gabel.

»Hat der gute Schilling eine plausible Erklärung dafür gehabt, warum die Polizei nicht sofort gerufen wurde?«

»Darf ich einen Wunsch äußern, Chef?« Zweifel hob fragend die Augenbrauen. »Bei uns zuhause galt früher mal die nervige Regel, beim Essen die Klappe zu halten. Das hab ich nie verstanden und ich habs auch nie geschafft.« Zweifel ahnte wohin der Hase lief.

»Aber jetzt sind Sie älter und weiser geworden.«

»Genau. Jetzt hab ich den Grund verstanden und mir vorgenommen, beim Essen nur zu essen und zu essen und sonst nichts zu tun. Hört sich das schräg an?« Zweifel wartete mit seiner Antwort, weil er den Mund gerade voller Spaghetti in köstlicher Sugo-Begleitung hatte. Dann hob er den Daumen und nickte. Und während die beiden sich schweigend in ihr Spaghetti-Studium vertieften, gelang es ihnen beinahe, den Fall zu vergessen.

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