Loe raamatut: «Handbuch Ius Publicum Europaeum», lehekülg 13
bb) „Konfliktsituationen“ nach dem Vertrag über die Europäische Union
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Die tiefgreifenden Einschnitte in das nationale Verfassungsrecht, die durch den Vertrag von Maastricht hervorgerufen und die in einer Reihe von Mitgliedstaaten mit Verfassungsänderungen bewältigt wurden, musste Griechenland eine Zeit lang verfassungsrechtlich „dulden“. Obwohl einige der Regelungen nach einhelliger Auffassung eindeutig gegen die Verfassung verstießen (so insbesondere die Vollendung der WWU) und andere Regelungen zumindest nach Auffassung eines nicht unbedeutenden Teils des Schrifttums ebenfalls für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten wurden (die Verleihung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen an Angehörige anderer Mitgliedstaaten etwa), hat der Verfassunggeber dennoch nicht rechtzeitig reagiert bzw. reagieren können, nicht zuletzt wegen des vorgesehenen komplizierten Revisionsverfahrens. Während die Rechtsprechung keinen Anlass gehabt hat, sich dazu zu äußern, hat sich die Lehre bemüht, die Vereinbarkeit einiger dieser gemeinschaftsrechtlichen Regelungen mit der griechischen Verfassung zu begründen. Dabei wurde die Untätigkeit des Revisionsverfassunggebers hinsichtlich einiger der Bestimmungen des Maastrichter Vertrags beispielsweise mit dem wenig überzeugenden Argument gerechtfertigt, dass sie keine politisch streitige Frage darstellten.[56] Auch wurde die Meinung vertreten, dass Griechenland durch die Ratifikation des Maastrichter Vertrags ohne vorherige Verfassungsänderung und „Kontrolle“ im Hinblick auf die in Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. vorgesehenen Voraussetzungen den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber den mit ihm kollidierenden Vorschriften der Verfassung mittelbar akzeptiert habe. Die mit Regelungen des Maastrichter Vertrags kollidierenden Vorschriften der griechischen Verfassung seien damit unwirksam geworden.[57] Diese Auffassungen beschreiben meines Erachtens die tatsächlichen Vorgänge, vermögen sie aber nicht verfassungsrechtlich zu begründen und zu legitimieren. Die einzige verfassungsrechtlich überzeugende Begründung liefert vielmehr die Konzeption, Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. i.V.m. der durch die Verfassungsänderung des Jahres 2001 eingefügten Interpretationserklärung als stillschweigende Revisionsklauseln zu begreifen.
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Ebenso wenig verfassungsrechtlich vorbereitet war Griechenland auf die mit dem Amsterdamer Vertrag erfolgten weiteren Einschnitte in das nationale Verfassungsrecht bzw. in die nationale Souveränität – so beispielsweise die Übertragung von Zuständigkeiten in den Bereichen Visa, Asyl, Einwanderung und Grenzkontrollen (Art. 62f. EGV). Im Schrifttum wurden freilich einige der neuen Regelungen als verfassungsrechtlich nicht unproblematisch angesehen und entsprechende Auslegungswege aufgezeigt.[58]
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Während einige dieser „Konfliktsituationen“ im Wege der Auslegung gelöst werden konnten, musste die WWU bis zur Verfassungsänderung des Jahres 2001 einer verfassungsrechtlich akzeptablen Verankerung harren. Die Frage des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Angehörige anderer Mitgliedstaaten konnte demgegenüber durch eine europarechtskonforme Auslegung der einschlägigen Verfassungsbestimmung (Art. 102 Verf.) gelöst werden, da diese Verfassungsbestimmung das Wahlrecht für die Gebietskörperschaften nicht oder zumindest nicht ausdrücklich vom Besitz der griechischen Staatsangehörigkeit abhängig macht.
b) Die noch offenen Kollisionsfragen
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Nach wie vor ist nicht auszuschließen, dass insbesondere das in Art. 78 Abs. 2 Verf. vorgesehene Rückwirkungsverbot für Steuergesetze zu Kollisionen führen könnte. Denn die dort normierte absolute zeitliche Einschränkung auf ein Jahr könnte sich als eine gemeinschaftsrechtlich irrelevante Schranke erweisen. Schwierigkeiten könnten sich auch im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Verbot der Errichtung von Hochschulen durch Private (Art. 16 Abs. 8 Satz 2 Verf.) ergeben. Unter Berufung auf dieses Verbot i.V.m. dem verfassungsrechtlichen Gebot der öffentlich-rechtlichen Hochschulbildung (Art. 16 Abs. 5 Verf.) lehnt es der Staatsrat ab, an ausländischen Universitäten, auch solchen anderer Mitgliedstaaten, erworbene Hochschuldiplome anzuerkennen, wenn auch nur ein Teil des zugrunde liegenden Studiums in (privatrechtlich organisierten) Niederlassungen dieser Hochschulen in Griechenland absolviert wurde. Auch wenn der Bereich „Bildung“ weiterhin zu den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zählt, führt diese Rechtsprechung über den Weg der Nicht-Anerkennung der Diplome zu gemeinschaftsrechtlich bedenklichen Hindernissen insbesondere des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit.[59]
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Ein echter Konflikt zwischen griechischem Verfassungsrecht und primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht resultierte aus presserechtlichen Aspekten der Revision des Jahres 2001: In Art. 14 Verf. (Pressefreiheit) wurden einige neue Bestimmungen aufgenommen, die Unternehmen, die mit griechischen Medienunternehmen „verbunden“ sind, von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen ausschließen. Im neuen Abs. 9 wird nämlich bestimmt, dass „[d]ie Eigenschaft des Eigentümers, des Gesellschafters, des Hauptaktionärs oder des leitenden Angestellten eines Massenmedienunternehmens [...] unvereinbar [ist] mit der Eigenschaft des Eigentümers, des Gesellschafters, des Hauptaktionärs oder des leitenden Angestellten eines Unternehmens“, „welches gegenüber dem Staat oder einer juristischen Person des weiteren öffentlichen Sektors die Ausführung von Vorhaben oder Lieferungen oder die Leistung von Diensten übernimmt“ (Satz 5). „Das Verbot des vorigen Satzes umfasst auch eingeschaltete Personen aller Art, wie Ehegatten, Verwandte, finanziell abhängige Personen oder Gesellschaften“ (Satz 6). Schließlich ist vorgesehen, dass ein Gesetz „die besonderen Regelungen, die Sanktionen, die bis zur Aufhebung der Lizenz des Hörfunk- oder Fernsehsenders und bis zum Abschlussverbot oder zur Annullierung des betreffenden Vertrags reichen können, sowie auch die Arten der Kontrolle und der Garantien zur Verhütung der Umgehung der vorigen Sätze“ bestimmt (Satz 7).
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Die EU-Kommission hat diese Verfassungsbestimmungen und die entsprechenden Durchführungsgesetze – sowohl der früheren PASOK-Regierung (G. 3021/2002) als auch der amtierenden N.D.-Regierung (G. 3310/2005) – beanstandet und die griechische Regierung aufgefordert, das Gesetz 3310/2005 bzw. das nach seiner Aussetzung wieder in Kraft getretene (alte) Gesetz 3021/2002 zu ändern.[60] Die Kommission hat in den fraglichen Regelungen einen Verstoß gegen das gemeinschaftliche Vergaberecht und den Grundsatz der Gleichbehandlung gesehen und damit gegen fast alle Grundfreiheiten. Die Lehre ist in diesem Fall, der unter dem Stichwort „Hauptaktionär“ bekannt ist und sich fast zu einer „nationalen“ Frage entwickelt hat, gespalten. Während ein Teil auf die Unvereinbarkeit der fraglichen Verfassungsbestimmungen und der Ausführungsgesetze mit dem Gemeinschaftsrecht hinweist und sich für den Vorrang des letzteren ausspricht,[61] äußern sich andere[62] zugunsten des – auch von der Regierung[63] vertretenen – Vorrangs der Verfassung. Die Rechtsprechung hat diese Fragen noch nicht entschieden. Ein Rechtsstreit über die Vereinbarkeit einiger Bestimmungen des ursprünglichen Gesetzes 3021/2002 mit Art. 14 Abs. 9 Verf. und dem Gemeinschaftsrecht ist vor dem Plenum des Staatsrats, an das die Sache wegen ihrer Wichtigkeit von der Vierten Kammer verwiesen wurde, noch anhängig; die Kammer hat sich allerdings für den Vorrang der Verfassung ausgesprochen.[64] Inzwischen hat die Regierung – unter dem Druck der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens und möglicher Sanktionen – nach Verhandlungen mit der Kommission ein Änderungsgesetz (Gesetz 3414/2005) erlassen, das die Anwendung der fraglichen Verfassungsbestimmungen im Ergebnis aufhebt.
c) Die Vorrangsfrage
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Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch die Vorrangsfrage angesprochen werden. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts speziell gegenüber der nationalen Verfassung bzw. seine Begründung ist ein bis heute offenes Thema,[65] auch wenn Rechtsprechung und Lehre Lösungswege beschritten haben, die in der Regel ein harmonisches Nebeneinander von Gemeinschaftsrecht und griechischer Verfassung ermöglicht haben.[66]
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Während einige Instanzgerichte nicht gezögert haben, dem Gemeinschaftsrecht einen Vorrang auch gegenüber der Verfassung zuzusprechen,[67] weigern sich die höchsten Gerichte, diesen Vorrang gegenüber der Verfassung anzuerkennen und suchen andere Wege, um die vollständige Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen bzw. Konflikte zu vermeiden. So sind etwa das Plenum und die Große Kammer des griechischen Staatsrats den zwei Versuchen der Vierten Kammer,[68] dem Gemeinschaftsrecht ausdrücklich Vorrang gegenüber der Verfassung einzuräumen, entgegengetreten. Im ersten Fall hat das Plenum entschieden, dass kein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vorliege,[69] und im zweiten Fall hat die Große Kammer die fragliche Maßnahme als außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts liegend betrachtet.[70] Umgekehrt ist aber das Plenum des Staatsrats auch dem Versuch der Sechsten Kammer[71] entgegengetreten, einen Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht explizit anzuerkennen. Auch in diesem Fall hat es sich hinsichtlich der Vorrangsfrage nicht geäußert. Interessant ist allerdings, dass sich der Staatsrat im letzteren Fall auch geweigert hat, die Sache dem EuGH vorzulegen, obwohl sich eine nicht unbedeutsame Zahl seiner Mitglieder im Plenum (11 von insgesamt 27 Richtern) dafür ausgesprochen hatte.[72] Einen neuen Anlauf, den Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht anzuerkennen, hat neuerdings die Vierte Kammer des Staatsrates in ihrer erweiterten Zusammensetzung (Große Kammer) unternommen. In dem oben erwähnten Kollisionsfall zwischen der medienrechtlichen Verfassungsbestimmung des Art. 14 Abs. 9 Verf. und Regelungen des Primär- und Sekundärrechts hat sich die Kammer mehrheitlich zugunsten des Vorrangs der griechischen Verfassung ausgesprochen. Dabei handelt es sich allerdings um eine „Solange-Entscheidung“. Der Vorrang der Verfassung gelte „zumindest im gegenwärtigen Entwicklungsstadium des Gemeinschaftsrechts und solange ein europäischer Verfassungstext als übergeordnete Norm nicht gesetzt wird, der die Mitgliedstaaten daran bindet, ihre Verfassungen insoweit zu ändern, als sie zu diesem in Widerspruch stehen“[73]. Es bleibt abzuwarten, inwieweit das Plenum des Staatsrats diesem weitgehenden Vorbehalt zustimmen wird und insbesondere ob das Gericht diesmal zum Verhältnis zwischen der griechischen Verfassung und dem Gemeinschaftsrecht eine klare Stellung nehmen wird.
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Auch die Meinungen des Schrifttums sind geteilt. Der Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht wurde gelegentlich von einem Teil des älteren Schrifttums vertreten.[74] Naturgemäß spricht sich das europarechtliche Schrifttum ohne weiteres, und zwar meistens mit derselben Argumentation wie der EuGH, für den uneingeschränkten Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber der Verfassung aus.[75] Demgegenüber bemüht sich das staatsrechtliche Schrifttum, die Vorrangsfrage anhand der Verfassung zu beantworten und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung verfassungsrechtlich zu begründen bzw. zu legitimieren. Außer der europarechtskonformen Auslegung der Verfassung, die allerdings den Vorrang nur im Ergebnis einräumt bzw. Konflikte zwischen dem Gemeinschafts-/Unionsrecht und der griechischen Verfassung zu vermeiden sucht, bemüht sich ein Teil des Schrifttums darum, die Vorschriften des Art. 28 Verf. und zwar insbesondere dessen Abs. 2 und 3 für die Begründung bzw. Legitimierung des Vorrangs des Gemeinschafts-/Unionsrechts auch gegenüber kollidierenden Verfassungsbestimmungen fruchtbar zu machen. So werden diese als Klauseln für eine speziell den Bereich der europäischen Integration betreffende stillschweigende Verfassungsänderung angesehen,[76] oder es wird ihnen eine (neue) Funktion, die so genannte „Integrationsfunktion“, zuerkannt.[77] Wie auch immer man zur Frage des Vorrangs stehen mag – will man die Situation pragmatisch beurteilen, dann muss man eingestehen, dass sich durch die Entwicklung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch in Griechenland eine stillschweigende Verfassungsänderung vollzieht.
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Angesichts zum einen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die sich bis heute weigert, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung anzuerkennen, und der Verfassung gelegentlich sogar ausdrücklich den Vorrang zuerkennt, zum anderen der diesen Vorrang vertretenden Lehre, insbesondere aber unter Berücksichtigung der Einstellung der Mehrheit der Politiker, die ihrerseits ausdrücklich für den Vorrang der Verfassung plädieren, scheint es bemerkenswert, dass bei den Parlamentsdebatten über das Ratifikationsgesetz die Frage der Vereinbarkeit des Art. I-6 VVE mit der griechischen Verfassung als solche kaum Gegenstand von Auseinandersetzungen war. Dies überrascht umso mehr, als sich einige Abgeordnete, darunter auch einige der Regierungspartei N.D., für den Vorrang der Verfassung gegenüber dem VVE ausgesprochen haben, gleichwohl teilweise mit „Solange“-Klauseln.[78]
5. Die Grenzen der Integration
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Die sich aus der Sicht des griechischen Verfassungsrechts ergebenden Grenzen der Integration sind zunächst in den die verfassungsrechtliche Absicherung der „Öffnung“ der griechischen Rechtsordnung regelnden Verfassungsbestimmungen des Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. sowie in der Interpretationserklärung, die diesem Artikel beigefügt ist, zu suchen. Aus dem Wortlaut der Vorschriften ergibt sich auch ihr Anwendungsbereich. Während die beiden ersten Vorschriften in Fällen einer „Zuerkennung von Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen“ und von „Einschränkungen der Ausübung der nationalen Souveränität“ Anwendung finden, erstreckt sich die Interpretationserklärung auf „die Beteiligung des Landes an den Verfahren der europäischen Vollendung“ schlechthin. Die zuletzt genannte quasiverfassungsrechtliche Grundlage könnte somit dahin interpretiert werden, dass sie auch Integrationsschritte zu legitimieren vermag, die über die Zuerkennung von Zuständigkeiten und Souveränitätseinschränkungen hinausgehen. Aus dem Umstand, dass nach dieser Interpretationserklärung Art. 28 Verf. in toto als Grundlage für diese „Vollendung“ zu gelten hat, ist aus einer teleologischen Auslegung zu schließen, dass auch für diese „Vollendung“ alle in den Abs. 2 und 3 vorgesehenen Voraussetzungen in jedem Fall vorliegen müssen. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um vier materielle Grenzen: Die Menschenrechte und die Grundlagen der demokratischen Staatsordnung dürfen nicht berührt werden; zudem soll die Einschränkung der Ausübung der nationalen Souveränität in Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit erfolgen.
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Während sich die Lehre mit diesen vier Voraussetzungen – gleichwohl nicht intensiv – beschäftigt hat, hat die Rechtsprechung keinen Anlass gesehen, sich dazu zu äußern. Nach dem überwiegenden Teil des Schrifttums kann eine gerichtliche Kontrolle des Vorliegens dieser Voraussetzungen, zumindest in extremen Fällen, nicht ausgeschlossen werden.[79] Hinsichtlich der obigen Voraussetzungen kann man ferner Folgendes bemerken: Die in der griechischen Verfassung für die beiden ersten Voraussetzungen verwendete Formulierung ist so allgemein, dass sie bis heute keinerlei Schwierigkeiten – etwa wegen Fehlens eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskatalogs oder wegen Demokratiedefiziten des gemeinschaftsrechtlichen Entscheidungsverfahrens – bereitet hat. Im Schrifttum wurden gelegentlich Zweifel daran geäußert, inwieweit ein Europa „der zwei Geschwindigkeiten“ oder ein uneingeschränkter und bedingungsloser Übergang zum Mehrheitsprinzip dem dritten verfassungsrechtlichen Erfordernis der Gleichberechtigung genügen würde, selbst wenn man die Gleichheit, zu Recht, als proportionale Gleichheit[80] versteht. Außerdem wurde hervorgehoben, dass die Erteilung einer Blankett-Ermächtigung an die EU, weitere, neue Zuständigkeiten auszuüben oder neue Souveränitätseinschränkungen herbeizuführen, den Rahmen einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Zuerkennung von Zuständigkeiten oder Souveränitätseinschränkungen sprengen würde, da die diesbezüglichen Entscheidungen ausschließlich dem Parlament zustünden. Zu betonen ist ferner, dass nach der h.L. die obigen Voraussetzungen und insbesondere die Gegenseitigkeit nicht nur beim Beitritt oder bei der Ratifikation der Änderungsverträge, sondern während der gesamten Mitgliedschaft vorliegen müssen.
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Grenzen für die Integration könnten sich außerdem aus der Verfassungsbestimmung ergeben, die für bestimmte Verfassungsvorschriften oder -prinzipien eine so genannte „Ewigkeitsgarantie“ vorsieht. So verbietet die Verfassung in Art. 110 Abs. 1 die Änderung der Bestimmungen über die Staatsgrundlagen und die Staatsform als „präsidierte“ parlamentarische Demokratie sowie der Bestimmungen der Art. 2 Abs. 1 Verf. (Schutz der Menschenwürde), Art. 4 Abs. 1 (Gleichheitssatz), Abs. 4 (gleicher und ausschließlicher Zugang der griechischen Staatsbürger zu den öffentlichen Ämtern) und Abs. 7 Verf. (Verbot der Verleihung und Anerkennung von Adelstiteln oder Rangbezeichnungen für griechische Staatsbürger), Art. 5 Abs. 1 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) und Abs. 3 Verf. (Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit), Art. 13 Abs. 1 Verf. (Freiheit des religiösen Gewissens) und Art. 26 Verf. (Gewaltenteilungsprinzip).
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Die Frage des Verhältnisses von Art. 28 Verf., der die „Öffnung“ der griechischen Rechtsordnung legitimiert, und Art. 110 Abs. 1 Verf., der für bestimmte Verfassungsvorschriften eine Ewigkeitsgarantie gewährleistet, ist nicht leicht zu beantworten. Die materiellen Grenzen der sich aufgrund von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. einschließlich der angehängten Interpretationserklärung stillschweigend vollziehenden Verfassungsmodifizierung sind grundsätzlich in diesen als leges speciales für den Bereich der europäischen Integration geltenden Verfassungsbestimmungen zu suchen.[81] Jedenfalls ist bei der Anwendung von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. eine restriktive Auslegung von Art. 110 Abs. 1 Verf. geboten.[82] Demgegenüber wird im Schrifttum auch die Auffassung vertreten, dass als äußerste Grenze der Integration die in Art. 110 Abs. 1 Verf. vorgesehenen materiellen Grenzen einer Verfassungsänderung zu gelten haben.[83] War allerdings diese Meinung gut vertretbar, bevor die Interpretationserklärung durch die Verfassungsrevision des Jahres 2001 in Art. 28 Verf. aufgenommen wurde, so könnte die Berücksichtigung der Interpretationserklärung zu anderen Schlussfolgerungen führen. Man kann sie nämlich dahingehend interpretieren, dass Art. 28 Verf. nunmehr „die Beteiligung des Landes am Prozess der europäischen Vollendung“ ausschließlich regelt, so dass nur in dieser Vorschrift die Grenzen der Integration zu suchen sind. Das bereits früher, vor der Aufnahme der Interpretationserklärung gegen die Deutung der Bestimmungen von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. als spezielle stillschweigende Revisionsklausel für den Bereich der europäischen Integration vorgebrachte Argument, dass die griechische Verfassung eine formelle, so genannte „starre“ Verfassung sei, die nur im Rahmen des in Art. 110 Abs. 2–6 Verf. vorgesehenen Verfahrens und unter Beachtung der in Art. 110 Abs. 1 Verf. vorgesehenen materiellen Grenzen geändert werden könne,[84] scheint daher – wie die bisherige Ratifikationspraxis zeigt – umso mehr an Plausibilität zu verlieren, je weiter die Integration voranschreitet. Außerdem ist festzustellen, dass nicht nur die mit einer Ewigkeitsgarantie versehenen Art. 4 Abs. 4 Verf. (Zugang nur griechischer Staatsbürger zu den öffentlichen Ämtern) und Art. 26 Verf. (Gewaltenteilung) kraft Gemeinschaftsrecht im Ergebnis seit langem geändert wurden, sondern darüber hinaus die problemlose Ratifizierung des VVE – und damit auch seines Art. I-6, der den Vorrang des Unionsrechts unterschiedslos, d.h. auch gegenüber der Verfassung gewährleistet – gezeigt hat, dass in der Praxis auch die Ewigkeitsgarantien nicht in der Lage sind, politische Entwicklungen zu stoppen. Allerdings kann man nicht vorhersehen, welche verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten sich ergeben werden, wenn die Integration so weit voranschreiten würde, dass sie den Kern der mit einer Ewigkeitsgarantie versehenen Bestimmungen über die Staatsgrundlagen und die Staatsform als „präsidierte“ parlamentarische Demokratie gefährden würde.
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Abschließend ist zu bemerken, dass die Frage möglicher verfassungsrechtlicher Grenzen der Integration in der Wissenschaft selten und in der Politik kaum Gegenstand von vertieften Diskussionen und Auseinandersetzungen gewesen ist.
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