Loe raamatut: «Ausgerechnet Kirgistan»

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Adi Traar

Ausgerechnet Kirgistan

Так еле Кыргызстан

Abenteuerliche Begegnungen eines Radreisenden

Reiseerzählung

e d i t i o n ♦ k a r o 2 0 1 1, h o r i z o n t e 7

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

Adi Traar, AUSGERECHNET KIRGISTAN

Abenteuerliche Begegnungen eines Radreisenden

edition karo im Verlag Josefine Rosalski, Berlin 2011

1. Auflage 2011, © edition ♦ karo

im Verlag Josefine Rosalski, Berlin

www.edition-karo.de, alle Rechte vorbehalten

Umschlagillustration: © Lord_Ghost und © Romanchuck – Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Verlag Josefine Rosalski, Berlin

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-937881-25-6

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog eines Nicht-Helden

Wie eine Blondine in Italien

Mit und ohne Berührungsängste

Verlängerte Wartezeiten

Keine Punks in Kirgistan

Auf die Plätze, fertig, prost

Geh mit Allah

Genosse Brummi

Übern Berg – Smalltalk mit Mister Kalaschnikow

Pannen, Pleiten und Peinlichkeiten

Idylle im Dorf

Begegnung mit doppeltem Wodka

Magical Mystery Tour

A Hard Days Night

Dann halte ihm die andere Wange hin

Kein achtsamer Pfad

Alles Gute kommt von vorne

Die Russendelegation

… der werfe den ersten Stein

Das dritte Auge

Hotel Absurdistan

Mit Musik geht alles besser

Wodka mit Eis – auf der Nobelmeile Kirgistans

Der Radüberfall

Vom Regen in die Traufe, und dann der Segen

Durchblasen und nachdenken

Wasserfall

Der Gesang Danijars

Die Rückkehr

Dank

Über den Autor

Klappentext

Prolog eines Nicht-Helden

Sonderbar. Grübelt man darüber nach, dass Kirgistan erdweit eines jener wasserscheuen Länder ist, die am weitesten vom nächstbesten Ozean entfernt sind, und darüber, dass unser aller Ursprung im Meer zu finden ist, dann bin ich noch nie so weit gereist, nur um von meinen eigenen Wurzeln abzukommen. Dabei ist das gar nicht zeitgemäß. Groß ist die Zahl und bunt das Spektrum derer, die sich heutzutage mit Wurzeln beschäftigen. Nicht nur Therapeuten, sondern auch Hobbygärtner und Zahnärzte tun es, ebenso Mathematiker, aber auch chemische Haarfärbemittel gewissermaßen – die einen graben danach, die anderen behandeln sie, manche rechnen auf ihnen herum, und wieder andere rotten sie aus, bis zur allerletzten Haarzelle. Ratzeputz.

Bisweilen eine gefährliche Sache also, dieses Back-to-the-roots-Syndrom, diese Suche nach dem verscharrten „Ich“ – mit oder ohne Grabungssonde oder ausgeklügeltem Navigationssystem. Besonders wenn man es im ‚Irgendwo‘ zu finden hofft und nicht in einem selbst. Oder schlimmer, wenn man sich ‚selbst irgendwo‘ befindet. Jenseits von Gut und Böse, zum Beispiel.

Und überhaupt, wo beginnen? Beim Zahnarzt? Das Problem an der Wurzel packen und behandeln lassen, ohne sich vorab selbst darum zu scheren? Oder ab in die Zeitmaschine, Generationen und Vorleben überwinden, dort die Knacknüsse vorsortieren, quasi vorab klären, alsdann die Kurve kratzen und wieder zurück ins Jetzt katapultiert „Hallo“ sagen, schauen, ob noch nicht alles zu spät ist, und wenn es das schon ist, Koffer packen, Ehe und Konten auf- und Flugmeilen einlösen und auf Abenteuerreise gehen; selbst wenn einem dabei vorübergehend die Wurzeln abhanden kommen und alles den Bach runterzugehen droht. Man erstarkt daran, wenn man überlebt. Wie ich in Kirgistan.

Mit jeder Reise ist es das Gleiche. Mindestens ein Jahr vorher erwächst aus dem diffusen Boden der Ungewissheit, was sich wohl hinter dem Reiseziel verbergen möge, Schicht für Schicht ein eigenes Gedankengebilde, ständig lauernd im Hintergrund und jederzeit angriffsbereit. Begierde, Sehnsüchte, Sorgen, Ängste, ein unbarmherziger Mix, der keine Ruhe lässt und den hamsterrädernen Alltag fortwährend zu sabotieren droht. Irgendwann kommt der Punkt; spätestens dann, wenn die Enter-Taste auf die Frage „Wollen Sie jetzt wirklich buchen?“ unwiderruflich gedrückt, das Fahrrad aufgerüstet und das Testament nachgebessert wurde, da kommt man sich selber nicht mehr aus.

Tu es.

An dieser Stelle gleich ein paar Danksagungen.

Dank an erster Stelle gebührt meinen Angehörigen, die mich für Wochen Verschollenen-, Tot- oder Entführt-Geglaubten nicht aufgaben, enterbten oder abschrieben wie ein ausgedientes Postlerfahrrad. Und weil sie meine Sitzplätze zu Hause freihielten.

Ein anonym adressiertes Dankeschön dem Fahrradladen, der mir die luftdruckgesteuerte Federgabel verkauft hat; und das nicht nur mehrwertsteuer-, sondern dazu gleich noch sorgenfrei: „Aber nein, die etwas komplexe Luftdruckmechanik ist quasi wartungsfrei und wird auf Reisen überhaupt keine Probleme bereiten.“ Tat sie aber. Die Gabel versagte bereits am dritten Tag ihren Dienst, weil sie ohne Druck und folglich zwecklos war. Zwangsläufig passierte Ähnliches dann mit mir und meinen sportlichen Ambitionen.

Dank dem Schwalbi. Gut, dass es Verwandte gibt. Immer öfter überkommt mich diese Gewissheit, und immer mehr schwindet die Frage, wozu solche eigentlich gut seien, aus der Infamie-Abteilung meines Gedankenschatzes. Im bestehenden Fall: Eine meiner Lieblingsnichten – in Familieninsiderkreisen liebevoll „Schwalbi“ genannt – chauffierte mich um zwei Uhr herrgottsfrüh – das ist im Grunde verteufelt spät – von Graz nach Wien, und wurde somit für mich Ahnungslosen, der ich nicht so recht wusste, worauf ich mich bei dieser Reise einließ, zur Wegbegleiterin, eigentlich zum Blindenhund hinüber in eine ungewisse Welt, eine Welt, in der man sich von all seinen zivilisatorischen Ansprüchen lossagen muss. So auch von den kulinarischen. Für mich als gesund genährten Vegetarier ist das allemal ein entscheidendes Thema und eine passable Einstiegsmöglichkeit in den Beginn meiner Reiseerzählung.

Wie eine Blondine in Italien

Dabei habe ich mich für die kommenden Wochen auf kärgliche, zentralasiatische Kost eingestellt. Und ausgerechnet noch im Flugzeug (nun gut, es ist die British Airways) muss ich, eben ein verwelktes Sandwich hinuntergewürgt, sagen: Es kann eigentlich nur mehr besser werden. – Wird aber noch schlimmer. Nach der Zwischenlandung in London bin ich in den Flughafen-Shops auf verzweifelter Suche nach frischem Obst und stoße voller Entsetzen auf ein paar schrumpelige, in Plastik verpackte Apfelscheiben. Sagt man: ‚Ein Apfel am Tag spart den Doktor‘, muss ich jetzt sagen: ‚Aber so manche Äpfel kann man sich auch gleich sparen.‘ Der Anblick versetzt mich in ein kulinarisches Koma, aus welchem ich eine Zeitlang nicht erwachen werde. Und es wird mein Nachteil nicht sein.

Es folgen ein paar Scherereien: Kann ja nicht sein I; Kann ja nicht sein II; Kann ja nicht sein III.

Das versehentlich im Handgepäck verstaute Titan-Essbesteck (Kann ja nicht sein I), Marke Ultra-Light, stieß beim Wiener Security-Check noch auf wohlwollende Toleranz – man schloss vom geringen Gewicht auf eine gewisse Harmlosigkeit –, das tut es in London jedoch ganz und gar nicht. Gewiss misst man hier so manchen Dingen ein ganz anderes Gewicht bei. Ein strenger Zeigefinger signalisiert mir Platzverweis. Nochmals einchecken, ungern meine umgehängte Fahrradlenkertasche als Verpackung fürs Besteck aufgeben, dann wieder anstellen für den Security-Check. Ich muss meinen Kopf gleich mit dem Fluggepäck aufgegeben haben; eine findige, alte Dame entdeckt tatsächlich mein Taschenmesser in meinem Bord-Rucksack, auch das haben die gemütlichen Wiener übersehen, und ich sowieso (Kann ja nicht sein II). Und da kommt mir jetzt was in den Sinn, noch nicht Amoklauf oder gar Selbstausschaltung, aber irgendetwas knapp davor. Auf keinen Fall will ich das Ding verpacken, aufgeben und mich erneut anstellen, und so zeige ich mich opferbereit und spende das Messer diesem bemitleidenswerten Land, welches an den schamlosen Aufwendungen seines Königshauses und am allherbstlichen Smog ohnedies zu ersticken droht. Der Angestellten ist ihr Coup richtig unangenehm. Mir auch.

„Entschuldigen Sie, aber Sie werden in Kurdistan ein besseres Messer bekommen.“

Danke, für den professionellen Zweckoptimismus – und gratuliere zum geographischen Basiswissen (Kann ja nicht sein III).

Nach Zwischenlandung in Eriwan erste zentralasiatische Eindrücke. Menschenleere. Mäandernde Flussläufe, die sich zaudernd durch eine erwachende Landschaft aus riesigen Steppenböden schlängeln.

Zu den verhängnisvollsten Momenten meines Lebens zählen vermutlich die Rückgabe von Latein-Klassenarbeiten und die meines Fahrrades nach Fernflügen. Setzt man eine Lateinschularbeit in den Sand, lässt sich das ausbessern, eine gebrochene Federgabel in Kirgistan sicher nicht. Albträume werden wahr, als ich, eben in Bischkek gelandet, bei der Gepäckrückgabe eintreffe. Der Fahrradkarton, oder besser Stücke davon, liegen am Boden, maßgebliche Teile Gisis lugen heraus (Gisi ist der Name meines neuen Mountainbikes, etwas verschachtelt, aber raffiniert abgeleitet von Kirgisien), ich höre förmlich ihr Wimmern, und mir wird ganz bang ums Herz, den Hals hat es mir längst schon zugeschnürt. Zögerlich überprüfe ich die Hauptfunktionen Treten, Lenken, Bremsen, dann Schalten, Sitzen, Tragen. Dabei hämmert mir das Herz im Halse – eben nur bis zur Zuschnürung. Zum Glück ist nichts passiert, bis auf ein paar bedeutungslose Kratzer und Scheuerspuren an Lenker, Sattel und Rahmen. Da war heute ein Schutzengel als blinder Passagier im Laderaum, obschon er zeitweilig ein bisschen geschlafen haben muss.

Den nächsten Aufreger beschert mir ein landestypisches Phänomen. Durch Recherchen in einschlägiger Literatur bin ich ausreichend schlau gemacht und vorgewarnt: Kirgisische Polizei – nur wenn es sein muss! Und dann auch nur im großen Bogen um sie herum. Die Fälle sind häufig, in denen sie Touristen den Reisepass abnehmen, und sie ihn nur dann zurückbekommen, sobald sie einen Haufen Geld dafür bezahlt haben. Bei der Gelegenheit werden sie aus dem verwinkelten Gassengewirr wieder herausgelotst, nachdem die Polizei sie zuvor dort hineingelotst hat.

Nach Dienstschluss beteiligen sich Angehörige der Polizei und Miliz hin und wieder an Raubüberfällen auf Touristen – quasi im Nebenerwerb. Deswegen entstand in mir schon zu Hause ein Feindbild, und das nimmt jetzt in Form zweier unrasierter Polizisten, die uns paar Neuankömmlinge mit aufdringlichem Interesse mustern, uniformierte Gestalt an. Sollen mich gefälligst in Ruhe lassen. Tun sie zum Glück eh.

Ernste Gesichter, unter Sowjet-Schirmmützen vergraben, kontrollieren am anschließenden Schalter die Pässe samt den dazugehörigen Anreisenden. Die Beamtin schaut auf das Passbild, dann auf mich, dann wieder aufs Passbild, dann wieder auf mich, sie verzieht keine Miene dabei, obwohl ich ihr gleich in zweifacher Ausführung entgegengrinse.

„Are you a tourist?”

Komisch. Ich hätte nie gedacht, dass man mir das nicht ansieht.

„Yesss.“

Das hat ihr gefallen, der Bann ist gebrochen, und sie gibt mir Kirgistan frei.

Ich betrete ein Sehnsuchtsland. Zumindest ist es für mich so. Sehnsuchtsländer sind mit dem Nimbus des Unerreichbaren behaftet. Betritt man erst einmal so eines, ist der Zauber des Unerreichbaren enthüllt, der Nebel des Unbekannten entschleiert, und es wird ein gewöhnlicher Boden daraus, auf den man feste Schritte setzen kann wie in einem Kuhstall oder einem Einkaufszentrum. Oder in einer Flugankunftshalle. In so einer befinde ich mich jetzt, und unvermittelt beginnt das volle Asienprogramm.

Bereits auf den ersten Laufmetern bekomme ich eine Vorstellung davon, wie es einer Blondine in Italien so ergehen mag; von vorne, von hinten, von der Seite umgarnen mich tolldreiste Taxler, Typen und Diebe, und so habe ich bereits nach zehn Sekunden Zentralasien reichlich Körperkontakt. Am Ende des Gewirrs aus helfenden und nicht so gut gemeinten Händen entdecke ich ein hochgerecktes Schildchen, bekritzelt mit tollpatschigen Buchstaben, die in ihrer Zusammensetzung an meinen Namen erinnern:


Bis dorthin sollte ich es unbeschadet schaffen. Den Komfort, mich von einer Reiseagentur abholen zu lassen, habe ich mir heuer, nebst einem Handy im Reisegepäck, erstmals geleistet. Den betäfelten Mann mit ausdruckslosem Gesicht begrüße ich einigermaßen erleichtert. Er führt mich zu einem Auto in fortgeschrittenem Roststadium, dort wartet ein weiterer Mann im fortgeschrittenen Alkoholikerstadium, ihn begrüße ich nicht mehr, weil ich mich an eine ausdrückliche Warnung erinnere, man solle hierzulande niemals alleine in ein Auto einsteigen, in dem sich mehr als ein Mann befindet. Muss ich jetzt aber. Der Begleiter, er heißt Sergej, versucht sein Nahverhältnis zu Wodka und Konsorten zu verbergen und entpuppt sich bald als hilfsbereiter, netter Guide und überdies noch als Ehemann von Katja, der Chefin von Tien-Shan Travel, mit der ich daheim in E-Mail Kontakt getreten war. Mit ihr habe ich überdies vereinbart, meinen Fahrradkarton bis zum Rückflug im Reisebüro zu hinterlegen, was mir jetzt in Anbetracht der übriggebliebenen Pappkartonfetzen ein wenig überflüssig vorkommt.

Erst nach einiger Zeit, als unser Vehikel bereits unzählige Schlaglöcher ohne Achsbruch oder Unterbodenschaden passiert hat, schwinden letzte Reste an Zweifel und Misstrauen, und ich strecke Sergej die Hand zur Begrüßung entgegen. Er erzählt mir so einiges, warnt mich vor Banden, Mördern und Dieben. „Sei vorsichtig in den Dörfern, hüte dich vor den Kindern!“

„Weiß ich schon.“

„Und nimm dich in Acht vor der Polizei!“

„Weiß ich auch schon.“

„Und vor den Hunden.“

„Wow.“

Zudringliche Wodkaholiker, die dem Besucher des Landes, wie in einschlägiger Literatur eruiert, landauf landab bereits in den frühen Nachmittagsstunden entgegentorkeln und für jede Belästigung zu haben sind, stellen für ihn offenbar keine nennenswerte Gefahr dar, sie stehen wohl unter seinem moralischen Schutz.

Wir erreichen Bischkek und einiges später die vorbestellte Unterkunft, eine Pension, und halten direkt vor dem massiv verriegelten Einfahrtstor, das etwas vor Rest-Bischkek zu verbergen scheint.

So nett er zu mir war, mit den armen Gastleuten kennt Sergej kein Pardon. Er stützt sich auf seinen ausgestreckten linken Daumen, und der Daumen haftet an der Türklingel, und es ist nicht lange nach Mitternacht. Und so nett er zu mir auch war, möchte er mich mit Sicherheit loswerden und keinesfalls ein anderes Hotel suchen müssen, lieber schläft er sich zu Hause den Wodka aus dem Leibe. Ein um die Leibesmitte aufgedunsener Mann öffnet die Einfahrtstür – ich weiß nicht, was er sich aus dem Leibe geschlafen hat, aber es saß tief. Mit geschlossenen Augen begrüßt er uns nicht gerade aufs Allerfreundlichste und führt uns blind in den Hof. Erst viel später, als er die Augen öffnet, sehe ich, dass er welche hat.

Soweit der gesicherte Teilabschnitt meiner Reise.

Mit und ohne Berührungsängste

Der kleine Innenhof ist von drei notdürftig geweißten Gebäudeflügeln eingefasst, darauf prangen die Zimmereingangstüren, in Eigenregie bunt bemalt, mit je einem Fensterchen zur Seite. Visà-vis der Einfahrt führt eine steile, hölzerne Freitreppe geradlinig auf die Dachterrasse des ebenerdigen Hauses, wo ein von der Sonne zermürbter, bleicher Sonnenschirm eine Garnitur hölzerner Sesselchen und ein Plastiktischchen verbirgt. Die Zimmer selbst sind zweckmäßig und nach westlichen Mindestanforderungen eingerichtet; ein mit Kissen und Decken aufgedonnertes Bett, ein Kasten und ein Tisch, darauf die eigentliche Mindestanforderung, ein Fernseher. Ein kleiner Garten inmitten des Innenhofs ist im Werden, ein Wasserfall in Projektstadium, auf einer Hausmauer räkelt sich ansatzweise spärliches Grün – ein Land, eine Familie im Aufbruch. Ganz so wie ich am nächsten Tag. Hoffentlich.

Ich werde überschwänglich empfangen; ab dem Moment weiß ich, wie sich kirgisisches Familienleben anfühlt, und dass man ihm nur schwer entrinnen kann. Aber danach ist mir im Moment gar nicht, denn von der Tochter Jasina und ihrer dicken, stets freundlich lächelnden Mutter lasse ich mich gerne vereinnahmen. Jasinas Bruder Faris und ihr Onkel, das war der Nachtportier, scheinen von woanders entsannt, sie wirken ernst und ein wenig abweisend. Allesamt sind sie Moslems. Mein erster Eindruck wird sich im Laufe der Reise immer mehr vertiefen: Die Männer „genießen“ alle Rechte (tun sie’s wirklich?), scheinen damit aber nicht ganz zufrieden, sie wirken weniger glücklich als die Frauen. Am Ende schlummert in ihnen doch ein Sinn für Gleichheit und Gerechtigkeit, dessen Unterjochung unglücklich machen oder gar unter Druck setzen kann, und so hinken sie ihrer eigenen Glücksfähigkeit hinterher. Aber vielleicht ist es auch nur der Wodka, der den Männern das Gemüt verpantscht. Offenbar glaubt man hier in den muslimischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion so manchem Druck durch reichliche Alkoholgaben ein Ventil verschaffen zu können. Ist das letztlich nicht heilsamer als in den alko-feindlichen, muslimischen Hardliner-Staaten, wo man sich, um Dampf abzulassen, anstatt alkoholischen lieber radikalen Ergüssen hingibt? Jedenfalls sind die Frauen hier sehr tüchtig, die Männer wären ohne sie weniger als die Hälfte, von einer besseren ganz zu schweigen; und womöglich ahnen sie das auch noch …

Die Familie gehört der Volksgruppe der Tataren an. Ehemals wurde die zentralasiatische Region ständig von irgendwelchen Eindringlingen überrannt, anfangs von Alexander dem Großen, dann einmal von Dschingis Khan – als Beispiel für die Prominenten. Und einer der letzten Großgrundbesitzer war Stalin; der kam, sah und siebte, siebte aus nämlich, und zwar andersstämmige Völker, die er aus dem Sowjet-Stammterritorium über den eigenen Tellerrand (über den er so ungern hinaussehen wollte), an den Tellerrand des Reiches deportierte, wo man zuvor, getrieben von Macht, Angst und Willkür, die Umrisse des heutigen Kirgistan gestanzt hatte, um ein wenig Pseudo-Autonomie zu gewähren. An dem ewigen Kommen und Gehen wie in einem orientalischen Lusthaus beteiligten sich eine Reihe von Völkern, ob geblieben oder vertrieben, so auch die Tataren – als Beispiel für die Gebliebenen.

Jasina ist neunzehn Jahre, eher klein, hat schwarzes Haar, große, braune Augen – sie sind von Beginn an geöffnet – mit konkurrenzlos langen Wimpern. Die frühe Morgenstunde macht uns beiden zu schaffen, und obwohl sich die Sonne noch nicht einmal über den Horizont reckt, geht sie für mich in Gestalt dieses kirgisischen Mädchens auf. Womöglich ist sie es nicht gewohnt, dass ihr Lächeln von einem Mann erwidert wird, und schon gar nicht, dass ihr dabei zuvorgekommen wird. Wir lachen uns nur an und lassen die Sonne im Zenit erstrahlen. Die Zeit dreht längst keine Runden mehr. Jasina wird zur wichtigsten Bezugsperson für mich, nicht nur weil sie der Welt (und mir) mit offenen Augen begegnet, sondern weil sie die Einzige ist, die englisch spricht. Die Familie redet russisch miteinander, die Jungen können gar kein vernünftiges Kirgisisch mehr, die Großmutter versucht es trotzdem beharrlich mit ihnen.

„Ich bin ein glückliches Mädchen“, sagt Jasina und strahlt das tatsächlich aus. Sie ist sehr fleißig und andauernd bemüht, Anweisungen ihrer Mutter und ihres Onkels zu befolgen, ohne dass auch nur der geringste Widerspruchsgeist auflodert. Hoffentlich hat sie die Pubertät nicht ausgelassen. Ich meine, ein Hoch den Flegeljahren! Da sollte jeder durch. Rechtzeitig. Späteres Nachholen ist immer verzwickt und problematisch und hat etwas Aufgehoben-Aufgeschobenes wie ein lahmender Nachsendeauftrag der Post; oder Abendmatura.

Der Onkel weist mit seinem Zeigefinger ins Hausinnere, zeigt sodann auf den Hof, vollführt ein paar heftige Wedelbewegungen, und Anisa fegt den Fußboden. Der Onkel schickt wieder den Zeigefinger auf Reisen, nimmt den Daumen dazu, führt damit eine imaginäre Schale zum Mund, und Anisa bringt Tee.

Sie wirkt jedenfalls glücklich bei ihrer Arbeit, mit Dienen scheint sie kein Problem zu haben, zumal sie beherzt zur Sache geht. Bei uns ist „Dienen“ ja bedenklich außer Mode gekommen, es wird nur mehr im Sinne von ‚Bedienen‘ rein abwertend gebraucht, und noch schlimmer kommt es weg, wenn jemand gar „bedient ist“. Dabei wird Dienen wohl der ergänzende Gegenpol zur Verwirklichung des eigenen Selbst sein, soll es nicht völlig in Selbstsucht versanden. Aber mit dem Dienen verhält es sich so wie mit dem Koitus. Es funktioniert nur, wenn beide Seiten es wollen und nicht nur einer es macht.

Gemeinsam mit Medina, Jasinas Freundin – sie fungiert als von der besorgten Familie entsandte Aufpasserin –, machen wir einen Spaziergang ins Stadtzentrum. Es befindet sich nicht gerade um die Ecke, protzt ein bisschen und gibt deutlich zu verstehen, dass es mit dem umliegenden Areal wenig im Sinn hat. Diesseits nun, ein paar stattliche Bauten, Museen, Plätze, viele Parks, Boulevards, Cafés, manch modernes Geschäft; jenseits, unweit davon, nicht sonderlich herausgeputzte, einstöckige Häuser, umgeben von bescheidenen Grünanlagen, Wohnblöcken, verbunden auf Straßen mit schlaglöchrigem Schotterbelag. Kurios dabei eine Straße, in der sich zahlreiche Autowäscher aneinanderreihen. Jedes vorbei fahrende Auto wird herangewinkt, die Konkurrenz ist groß, der Bedarf auch, man fragt sich, wo die Stadt all die auffahrenden Mercedes´ und Audis sonst unter Verschluss hält. Gibt es gerade keine Kundschaft, vertreibt man sich die Zeit mit ausufernden Wasserschlachten, die bieten sich förmlich an, man arbeitet händisch, nur mit Schwamm und Wassereimer. Am Gefecht beteiligt ist die ganze Familie. Und unfreiwillig so manche Passanten, so wie wir; nur mit Mühe schlängeln wir uns durch die Fronten, pudelnasse Kinder grinsen uns an, lassen das Wasser in ihren Eimern bis an die Ränder schwappen – und darüber hinaus – und täuschen einen Angriff auf uns vor. Ich vermeide jegliche Reaktion, die mir als Einladung zum Mitspielen ausgelegt werden könnte. Einfach da durch.

Die Fußgängerunterführungen erinnern in Aussehen und Bedrohlichkeit an Moskaus Passagen. Fugenlos bis in die letzte, finstere Nische sind mit allerhand Kleinkram belegte Verkaufsstände aneinandergekleistert; dazwischen eingeklemmt, einzelne Personen, so viel sie am Körper zu tragen und halten imstande sind, bieten sie zum Verkauf an. Gebrauchte Magazine und Bücher, T-Shirts, Army-Kappen, Hosenträger, Knöpfe für Hemd und Hose, Brillenfassungen, Zahnbürsten, Feuerzeuge erwecken den Anschein, schon mehrmals den Besitzer gewechselt zu haben, ehe sie hier herunten auf ein Weiteres verhökert werden. Auffallend durchsetzt ist die Unterweltszenerie von ganz – bis nicht mehr so – jungen Männern, die außer Leute-wie-mich-Anstarren nichts Augenfälliges zu tun haben. Auf diesem ersten Stadtspaziergang wird mir nicht gerade zutraulich ums Herz, wären da nicht meine beiden 19-jährigen Mädels, die mich beiderseitig eskortieren und auf diese Weise, wie sie behaupten, potentielle Diebe von mir fernhalten. Das gibt rein optisch ein rührendes Bild ab.

„Bleib in der Mitte, dann passiert dir nichts.“

„Ja?“

„Hast du den Jungen gesehen? Er wollte sich an dich ranmachen.“

„Ja?“

„Du brauchst keine Angst zu haben.“

„Nein?“

Im unterirdischen Kopiershop lässt sich Medina von einer sichtlich erholungsbedürftigen Russin ein paar Seiten vervielfältigen, ausführlich wird eine Reihe von Details geklärt. Die Kopien sind erst nach einer Stunde Wartezeit abzuholen. Mit Geduld hat man hier kein Problem, sie wird einem andauernd zwangsverordnet.

Anschließend suchen wir das Kartengeschäft auf, ich benötige exakte Landkarten von jenen entlegenen Gebieten, die ich befahren will, und in denen nicht gerade mit anschaulicher Straßenführung, Beschilderung oder gar auskunftsfreudigen Polizisten zu rechnen sein wird. Medina verabschiedet sich von uns, um nach ihren Kopien zu sehen. Nun bin ich allein mit Jasina.

Immer wieder gerate ich in Erstaunen, was in den Straßen alles feilgeboten wird. Eine Frau mit Waage, vor der sich eine Warteschlange aus leichtgewichteten, wissbegierigen Kunden bildet, ein Junge, der eine Handvoll Nüsse anpreist, sogar einzelne Zigaretten werden verkauft, und immer wieder trifft man auf das Anbot von einzelnen Stücken Obst. Vor diesem habe ich noch große Scheu, ich möchte mir keinesfalls schon zu Beginn meiner Reise etwas Unverträgliches einfangen. „Schäl es, koch es, oder vergiss es“, schwebt’s mir irgendwo im Hinterkopf. Abgesehen davon bin ich aus meinem kulinarischen Koma, welches ich mir im Londoner Flughafenshop geholt hatte, noch immer nicht komplett erwacht, und so bewahre ich meine Anti-Obsthaltung.

Ein alter, weißbärtiger Mann, der in folkloristische Kleider gesteckt ist, steht am Gehsteigrand und bezaubert mit einer Art Blockflöte. Er sucht meinen Blick, fängt ihn ein und zieht ihn, ohne sein Instrument abzusetzen, unmissverständlich in Richtung seines mit funkelnden Münzen gefüllten Körbchens. Ich komme der gar nicht stillen Aufforderung gerne nach – wir Musiker müssen zusammenhalten, gegenseitig der Karriere dienliche Auftrittsmöglichkeiten unterstützen und uns gemeinsam bemühen, jeglichen heiß erkämpften Musikerstatus aufrechtzuerhalten, sollte man auch schon längst in der Gosse gelandet sein, wie der da. Wenigstens ist der Künstler hier vor allzu leidigem Dirigentenaufkommen sicher. Ohne mich als Kollege erkennen zugeben, lassen wir von dieser Armutstribüne ab.

Wir müssen zur Reiseagentur Tien-Shan Travel, finden das Büro aber nicht. An der Stelle, die man uns beschrieben hatte, befindet sich lediglich ein klappriger Stiegenaufgang, geheftet an ein mysteriös anmutendes Gebäude, das gewiss vieles hinter sich, aber wohl nur mehr den Abbruch vor sich hat. Eine usbekische Brotbäckerin, die in einem schmalen, verkommenen Hinterhof Teig knetet, kann uns nicht weiterhelfen, widerwillig schüttelt sie den Kopf. Unverrichteten Besuchs ziehen wir weiter.

Ohne Ermüdungserscheinungen zerrt mich Jasina durch die Stadt und zeigt mir voll Stolz die Sehenswürdigkeiten. Die Plätze sind großzügig angelegt. Als wir über den riesigen Ala-Too-Platz schlendern, verlieren wir uns beinahe auf ihm, und auf einmal gehen wir annähernd im Gleichschritt mit zwei Wachsoldaten, die sich gerade mit Riesen-Trara zeremoniell ablösen. Sie üben noch immer Sowjetunion. Puck puck, geht’s im Stechschritt, knack knack, knallen die Hacken, klaps klaps, klappen die salutierenden Karatehände an die Schirmmützen. Und tipp tipp, sollte man sich an die Stirn tippen, sähe man den ganzen Zirkus nicht als zwar modrige, aber gelungene Freizeit-Attraktion. Jasina rafft mich von hier fort, sie hat noch Einiges vor mit mir.

Ihre Universität, die American University, auf der sie ein Wirtschaftsstudium absolviert, muss natürlich abgelichtet werden, mit stolzer Jasina davor. Ein respektabler Bau von ansehnlicher Breite. Wenn man bedenkt, dass sich vor 1825 so gut wie nichts auf dem heutigen Stadtboden rekelte und erst 1910 das erste zweistöckige Haus gebaut wurde, Respekt, Respekt. So einen erweise ich ihr. Jasina ist geschmeichelt. „Das ist ein ganz besonderer Tag für mich“, sagt sie, und sie werde ihn nie vergessen.

Ich dich auch nicht, Jasina.

Stetig gewinnt der Tag an Qualität, vom leeren Raum des Nichtstunmüssens herrührend, ein Wandeln im Nichts gleichsam. Der Kopf wird leicht, das Gewicht sackt tiefer, keinesfalls aber erstarrt es und macht bleierne Füße; trotz andauernder Rennerei.

Wir wollen uns mit ihrem Bruder treffen, der tritt an die Stelle von Medina als Aufpasser. Ich freue mich schon auf die geplante Besichtigung einer Moschee während der Gebetszeit. Wir erreichen die Neue Moschee nach kurzer Fahrt. Faris verschwindet kurz ins Innere des großen, runden, schmucklosen Baus, um eine Besuchserlaubnis für mich zu holen. Dass ich als Anders- (ist gleich: Nicht-) Gläubiger allemal mehr Zutrittsrechte besitze als moslemische Frauen, scheint Jasina nicht sonderlich zu stören. – Sie muss draußen warten.

„Das macht mir wirklich nichts aus. Geht nur hinein, vergesst aber nicht auf mich!“ Sie findet sich dem Anschein nach damit ab, dass sie ihre Gottesanliegen erst einem Mann anvertrauen muss, und nur dieser die Angelegenheit an allerhöchste Stelle weiterleiten darf. Wenn er will – und wie er will. Im Grunde könnte so was ein Anlass für Vertrauensbildung innerhalb von Partnerschaften sein, andererseits aber auch für Missgriffe. Gerade weil in Jasinas Ansichten immer ein Quäntchen Mut und Weltverbesserei mitklingt, überrascht mich ihre Reaktion.

„Ich verstehe nicht, dass du das so hinnimmst!“, misstraue ich ihr.

„Wieso? Beten kann ich hier draußen genauso.“

„Da hast du auch wieder Recht“, traue ich ihr.

Immer mehr gewinnt Jasina für mich an Stärke und Festigkeit.

Das Innere des Gottesbaus ist mit riesigen Teppichen ausgelegt. Ins Gebet versunkene Männer knien darauf und werfen immerzu ihre Oberkörper nach vorne. Die Stimme des Muezzins dringt von außen herein. Sonnenlicht, das durch die Kuppelfenster auf Wand und Boden fällt, erhellt Mensch und Gemüt. Eine Runde vollbärtiger Männer ist in ein lebhaftes Gespräch verwickelt, der Heftigkeit nach geht’s dabei wohl um Gott, oder vielleicht auch nur um mich, denn ich werde argwöhnisch gemustert und fixiert. Fraglos sitzen uns Westlern momentan die dänischen Mohammed-Karikaturen – mitnichten als Schalk – im Nacken. Faris zieht ein kurzes Pflichtprogramm an Gottesbezeugungen durch, grinst mich verlegen an, und schon wenden wir uns wieder dem Ausgang zu. Die scheelen Blicke bleiben an mir haften und verkleben mir die Rückenhaare.

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