Loe raamatut: «EXIT»
HERAUSGEGEBEN VON
HELMUT ORTNER
EXIT
WARUM WIR WENIGER
RELIGION BRAUCHEN
EINE ABRECHNUNG
Gestaltung:
BlazekGrafik, Rudolf Blazek, Frankfurt am Main
ISBN 978-3-939816-61-4
eISBN 978-3-939816-62-1
Copyright © der deutschsprachigen Originalausgabe:
Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2019
1. Auflage Mai 2019
© 2019 NomenVerlag
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»Verstand beginnt mit einem lebensbejahenden Atheismus. Er befreit die Seele von Aberglauben, Schrecken, Duckmäusertum, gemeiner Willfährigkeit und Heuchelei.«
George Bernard Shaw
»Auch Götter sterben, wenn niemand mehr an sie glaubt.«
Jean-Paul Sartre
Für Bibi Steffen-Binot und Herbert Steffen
HELMUT ORTNER
Glaube. Macht. Gott.
Warum die Welt weniger Religion braucht – und der Glaube Privatsache sein sollte
MICHAEL SCHMIDT-SALOMON
Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich
70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre Verfassungsbruch: Warum wir die Kirchenrepublik überwinden müssen
CARSTEN FRERK
Seid umschlungen Millionen!
Die Kirchen und unser Geld – Über Vermögen, Subventionen, Immobilien und andere zweifelhafte Besitzstände
CONSTANZE KLEIS
Fifty Shades of Gott
Die Weltreligionen stimmen in seltener Eintracht seit Jahrtausenden darin überein, die Frau als ein Mängelexemplar zu betrachten
HAMED ABDEL-SAMAD
»Generation Allah« und der politische Islam
Warum wir eine neue Integrationspolitik brauchen – und eine konsequentere Trennung von Staat und Religion
HELMUT ORTNER
Lautes Schweigen
Über sexuellen Missbrauch, klerikales Vertuschen und Verschweigen – oder: Das Versagen des Rechtsstaats
MARTIN STAUDINGER, ROBERT TREICHLER, CHRISTOPH ZOTTER
Du sollst nicht schweigen!
Österreichs Kirche lässt sich als Vorbild für die Aufarbeitung von klerikalen Sexverbrechen feiern – Über eine optische und faktische Täuschung
KLAUS UNGERER
Die frohe Botschaft
Warum wir keinen Gott brauchen und jede Religion immer und überall kritisieren sollten
JACQUELINE NEUMANN
Streit um Gott
Kreuz-Erlass in Bayern und Lehrerinnen-Kopftuch Zwei exemplarische Fälle – ein Verfassungsbruch
GUNNAR SCHEDEL
Markenschutz für Gott & Co.
Über Blasphemie und Politik und warum der Gotteslästerungsvorwurf noch immer ein Repressionsinstrument ist
KATJA THORWARTH
Sei uns gnädig, Herrgottnochmal!
Über öffentlich-rechtliche Gottes-Botschaften, kirchliche Schleichwerbung und kostenfreies mediales Religions-Lobbying
CORINNA GEKELER
»Eine Kirchenmitgliedschaft wird erwartet …«
Grundrechte für Beschäftigte? Nicht bei Deutschlands zweitgrößtem Arbeitgeber! Wie sich Betroffene erfolgreich wehren
MICHAEL HERL
Himmel und Hölle
Über irdische Gottesfurcht, himmlische Wunder und anderen religiösen Mumpitz
ADRIAN GILLMANN
Menschen, zur Säkularität, zur Freiheit!
Laizität als Religions- und Weltanschauungspolitik für das 21. Jahrhundert – oder: Warum der Bürger immer vor dem Gläubigen kommt
INGRID MATTHÄUS-MAIER
Staatskirche oder Rechtsstaat?
Was ich von einem weltanschaulich-religiös neutralen Staat erwarte Zwanzig notwendige Korrekturen
PHILIPP MÖLLER
Das Ketzer-Jubiläum
Bekenntnisse eines ehemals Unreligiösen und wie er zum »Atheisten-Aktionisten« wurde – Eine Chronik
ANDREAS ALTMANN
Hochheilige Narreteien
Über Kreuzzüge, gen Himmel fahrende Jungfrauen und anhaltenden Gotteswahn – Ein Schurkenstück
GEORG DIEZ
Die letzte Freiheit
Vom Recht, sein eigenes Ende selbst zu bestimmen – oder: Warum die freie Verfügung über sein eigenes Leben ein Gradmesser der Freiheit ist
RICHARD DAWKINS
»Religion ist Unsinn!«
Ein Gespräch mit Daniela Wakonigg
JOHANN-ALBRECHT HAUPT
Die Privilegien der Kirchen
Gesetze und Verfassungen – Eine Dokumentation
Anmerkungen und Hinweise
Die Autorinnen und Autoren – Der Herausgeber
HELMUT ORTNER
Glaube. Macht. Gott.
Warum die Welt weniger Religion braucht – und der Glaube Privatsache sein sollte
Unser Land darf weiterhin auf göttlichen Beistand hoffen. Ein überwiegend christliches Kabinett setzte auch im März 2018 im Berliner Reichstag auf gewohnte Dramaturgie: zwölf Bundesministerinnen und -minister beendeten ihren Amtseid mit der Formel »So wahr mir Gott helfe«. In den Niederungen der Realpolitik mag eine Dosis göttlicher Eingebung mitunter durchaus hilfreich sein, doch möglich ist es den Ministerinnen und Ministern auch, ihren Eid »ohne religiöse Beteuerung« zu leisten. Sie sagen dann nur: »Ich schwöre es!« Drei der neuen Minister nutzten die Formel ohne religiöse Beteuerung: Bundesfinanzminister Olaf Scholz, Bundesjustizministerin Katarina Barley und Bundesumweltministerin Svenja Schulze (allesamt SPD). Schon Kanzler Gerhard Schröder hatte einst auf das religiöse Beiwerk verzichtet, ebenso wie sein grüner Außenminister Joschka Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin. Die moralischen Grundwerte des rot-grünen Abendlandes gerieten – trotz leicht atheistischer Einfärbung – nicht in ernsthafte Gefahr. Immerhin.
Auch ohne Gottesschwur: Gott mischt kräftig mit in der deutschen Politik. In den Parlamenten, den Parteien, den Institutionen. »Dabei wird so getan, als hätte er ein ganz natürliches Anrecht darauf, als gehörte er zur politischen Grundausstattung, zum politischen Personal der Bundesrepublik, zur deutschen Demokratie«, konstatiert Dirk Kurbjuweit.
Nicht nur in der deutschen Politik, vor allem in deutschen Gerichtssälen, wird viel geschworen. Bei der Vereidigung vor Gericht geht dem Amts-Eid stets die Eingangsformel »Sie schwören …« (bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden) voraus. Im Strafverfahren wird nach § 64 StPO angemahnt: »… dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben. «Die Ironie dabei ist: es wird ausgerechnet auf ein Buch geschworen, das viele Irrtümer, Erfindungen und Mythen enthält. Trotz allem: von der Kanzlerin bis zum Gerichtszeugen – auf göttliche Beschwörung, vor allem christliche Beteuerung, wird hierzulande also noch immer gerne vertraut.
Dass unsere heutige Demokratie unbestreitbar auf einem Menschenbild gründet, das viel mit dem Christentum zu tun hat, will niemand infrage stellen. Aber die Geschichte zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht unbedingt Trägerinnen der Demokratie waren – und sind. Was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, ist gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden.
Hierzulande herrscht Glaubensfreiheit. Ob einer Christ oder Muslim, Buddhist oder Jude ist, darf keine Rolle dabei spielen, ob er als Bürger dieses Landes willkommen ist. Das Ideal eines Staatsbürgers sieht so aus: Er sollte die abendländische Trennungsgeschichte von Staat und Kirche akzeptieren, die Werte der Aufklärung respektieren und die Gesetze dieses Staates achten. Das reicht.
Wer Beamter, Staatsanwalt oder Richter werden möchte, schwört auf die Verfassung, nicht auf die Bibel oder den Koran. Deutschland ist ein Verfassungs- und kein Gottes-Staat. Und das, sagt der Rechtsphilosoph und Staatsrechtler Horst Dreier, ist die Voraussetzung für Religionsfreiheit. Alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein. Freilich: Wenn Verfassungsrechtler vom säkularen Staat sprechen, dann meinen sie keineswegs einen a-religiösen, laizistischen Staat, sondern einen, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit garantiert und religiös-weltanschauliche Neutralität praktiziert. Entscheidend sind nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue.
Vorbei sind die Zeiten, als die beiden großen christlichen Konfessionen über Jahrzehnte das gesellschaftliche, politische Leben hierzulande beherrschten und die Religion aufgrund der kulturellen Harmonie eine integrierende und stabilisierende Größe war. Laut einer Umfrage sagen 33 Prozent der Deutschen, »mit dem Glauben an Gott nichts anfangen zu können«. Sie gehören zu den Bürgern, die in Deutschland keiner Glaubensgemeinschaft angehören – mit 36,2 Prozent der Bevölkerung –; das ist die Mehrheit. 28,5 Prozent (römisch-katholische Kirche) und 26,5 Prozent (evangelische Kirche) folgen – danach kommen weitere 4,9 Prozent (konfessionsgebundene Moslems) sowie 3,9 Prozent sonstige Religionsgemeinschaften (darunter: orthodoxe Kirchen – 1,9 Prozent, Judentum – 0,1 Prozent und Buddhismus – 0,2 Prozent). Wir sind also eine pluralistische, multi-ethnische, multi-religiöse Gesellschaft. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen.
Deutlich wird: Die großen Konfessionen verlieren stetig an Mitgliedern – und an Vertrauen. Dennoch genießen sie nach wie vor eine Vielzahl von Privilegien, die eklatant gegen das staatliche Neutralitätsgebot verstoßen. Die Trennung von Kirche und Staat findet nicht statt: nicht in der Gesetzgebung, nicht in der Fiskalpolitik, nicht in der Medienpolitik, schon gar nicht in den Hochämtern und Niederungen der Politik.
Jüngste Beispiele? So verabschiedete die CSU-Landesgruppe Anfang 2019 auf ihrer Klausurtagung im bayrischen Kloster Seeon ein Strategie-Papier mit dem Titel »Innovation gestalten, Orientierung geben, Ethik bewahren«, in dem schon in der Einleitung die Rede davon ist, dass sowohl Rechtsstaat als auch Grundgesetz »untrennbar« mit dem christlichen Menschenbild verbunden sind. Auch Sozialstaat und soziale Marktwirtschaft sind »undenkbar« ohne die christliche Soziallehre. Und was auf keinen Fall fehlen darf: »Deutschland ist ein christliches Land« – der Klassiker.
Bayerischen CSU-Parlamentariern sei ihre religiöse Standfestigkeit unbenommen, nur: das staatliche Neutralitätsgebot hat Vorrang, vor allem, wenn es um die Umsetzung praktischer Politik von Mandatsträgern geht. So sieht es das Grundgesetz vor.
Nicht so in Bayern. Dort hat man demonstrativ und offensiv christliche Zeichen gesetzt: Kaum im Amt, ließ Ministerpräsident Söder in allen Amtstuben und Schulen des Landes das Kruzifix anbringen. Im CSU-freundlichen Bayerischen Rundfunk achtet man auf ein grund-solides christliches Programm, auch wenn es sich um keinen Kirchenfunk, sondern um eine öffentlich-rechtliche Anstalt handelt – die mithin von allen Steuerzahlern, also auch von Konfessionslosen und Ungläubigen, finanziert wird. Staatliches Neutralitätsgebot? Mitnichten.
Beispiel »stille Feiertage«: An »Allerheiligen«, einem katholischen Feiertag, herrscht in Bayern Tanzverbot. Nach Artikel 3 des »Bayerischen Feiertagsgesetzes« sind dem Ernst des jeweiligen stillen Tages entsprechend öffentliche Tanzveranstaltungen verboten. Dazu zählen: der Volkstrauertag, der Buß- und Bettag, der Totensonntag, der Heiligabend, der Aschermittwoch, der Gründonnerstag sowie der Karfreitag und Karsamstag. Besonders restriktiv sind die Einschränkungen am Karfreitag, an dem die bayerischen Behörden keinerlei Ausnahmen zulassen: »In den meisten Musiksparten gibt es eine Auswahl stiller, ruhiger Titel, die zum Charakter des stillen Tages passen können«, lässt etwa die Stadt München auf ihrer Internetseite verlauten. Die Programm-Macher – nicht nur im Bayerischen Rundfunk – halten sich im vorauseilenden Gehorsam daran. Auch alle anderen ARD-Sender zügeln Sound und Rhythmus. Die Vorgabe: »Jazz ja, Hardrock nein!« Selbst Spielhallen müssen im christlichen Bayern an Karfreitagen geschlossen bleiben, wie im Übrigen generell während der Hauptgottesdienst-Zeit an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen von sieben bis elf Uhr.
Keine Real-Satire, sondern Realität in einem demokratischen Bundesland, das sich dem Neutralitätsgebot verpflichtet hat. Erst 2016 hat das Bundesverfassungsgericht das bayerische Feiertagsgesetz als »grundsätzlich verfassungskonform« bestätigt. Willkommen im Gottesstaat Deutschland.
Auch über Bayern hinaus wird das staatliche Neutralitätsgebot massiv und beständig missachtet. Ob Subventionen für Kirchentage, Finanzierung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten, Kirchenredaktionen in Landes-Rundfunkanstalten bis hin zum wöchentlichen »Wort zum Sonntag« – einem der ältesten Fernseh-Formate des Deutschen Fernsehens. Jeden Samstagabend, meist nach den »Tagesthemen« und vor dem Spätfilm, gibt es für die christlich-abendländische TV-Nation vier Minuten geistige Durchlüftung. Immer im Wechsel, darf ein evangelischer Pfarrer mal über die Wohltaten Luthers referieren, mal ein katholischer Kollege die Jungfrau Maria loben. Rabbiner, Imame, Buddhisten und Atheisten haben kein Rederecht. Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Nikolaus Schneider, sieht die Sendung als einen »niedrigschwelligen Berührungspunkt mit dem Evangelium«. Sie gleicht eher einem vierminutigen religiösen Frontalunterricht.
Das alles ist in unseren Rundfunkgesetzen geregelt. Diese verpflichten die Sender dazu, Gottesdienste, Morgenandachten und allerlei andere Kirchen-Botschaften auszustrahlen. Die Öffentlich-Rechtlichen produzieren und finanzieren diese Sendungen selbst – will heißen: mit Geldern aus GEZ-Gebühren, die alle bezahlen, auch Konfessionslose und Ungläubige.
Noch einmal: Deutschland ist ein säkularer Verfassungsstaat. Ob eine religiöse Gemeinschaft oder ein Einzelner dennoch Sonderrechte beanspruchen können, darüber herrscht mitunter Unstimmigkeit. Ist eine rituelle Genitalbeschneidung bei Jungen ein akzeptables religiöses Ritual oder eine schmerzhafte Körperverletzung?
So hatte das Landgericht Köln im Mai 2012 über einen operativen Notfall zu urteilen, bei dem es nach einer Beschneidung in Folge von Nachblutungen zu Komplikationen gekommen war. Nüchtern stellte der Richter fest: »Die operative Entfernung der Penisvorhaut des minderjährigen Patienten hatte ohne medizinische Notwendigkeit stattgefunden.« Und weil die Amputation eines gesunden Körperteils zwingend der Aufklärung und schriftlichen Einwilligung des Patienten bedarf, der in diesem Fall nicht einwilligungsfähig war, warf die Staatsanwaltschaft dem »Beschneider« vor, »eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben«. Oder deutlicher: Das Gericht bezeichnete die rituelle Beschneidung als Körperverletzung.
Ein Sturm der Entrüstung brach los – im Epizentrum die brisante Frage: Was wird in Deutschland höher bewertet – das Recht männlicher Kinder, die religiöse Eltern haben, auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht religiöser Eltern, ihre Rituale auf ihre Söhne zu übertragen, auch wenn dies einen schmerzhaften Eingriff zur Folge hat. Kindeswohl contra Religionsfreiheit? Diese sahen die religiösen Eltern mit dem Kölner Urteilspruch in Gefahr und sie bekamen lautstarke Unterstützung von Seiten ihrer offiziellen Religions-Funktionäre – unisono, ob vom Zentralrat der Juden, moslemischen Gemeinden, Deutschen Bischöfen. Sie alle werteten das Urteil als eklatanten Angriff auf die Ausübung ihres Glaubens.
Jüdische Glaubensfunktionäre behaupteten, die ganze Welt akzeptiere die Beschneidungspraxis – nur die Deutschen nicht. Wer sich für das Kindeswohl einsetzte, galt schnell als Antisemit. Auch wenn es hier nicht um ein generelles Verbot der Beschneidung, sondern um ein Verbot der Zwangsbeschneidung von Minderjährigen ging – in den Gottes-Communities rumorte es kräftig.
Der Deutsche Bundestag verabschiedete im Rekordtempo auf Initiative der Bundesregierung (und mit Mehrheit) ein »Gesetz über den Umgang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes« und legalisierte damit rituelle Beschneidungen. Und so sind hierzulande nur Mädchen vor rituellen Genitalbeschneidungen geschützt, Jungen indes darf aus religiösen Gründen weiterhin straffrei die Vorhaut amputiert werden, auch wenn die Ausführenden keine Ärzte sind, sondern von Religionsgemeinschaften dazu intern ausgebildet wurden. Zwar heißt es in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 1992 auch in Deutschland in Kraft trat, im Artikel 19: »Die Staaten treffen alle Maßnahmen, um Kinder vor jeglicher Form von Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung zu schützen« – die schmerzhaften Beschneidungen scheinen hier ausgenommen zu sein.
Tatsache ist: Was Religion ist und wie sie praktiziert wird, liegt nach Auffassung des Bundestags (und auch des Bundesverfassungsgerichts) stellenweise noch immer in der Definitionshoheit der Religionsgemeinschaften selbst. Man kann dieses expansive Verständnis von Religionsfreiheit – das einerseits die Standards unseres liberalen Verfassungssystems in Anspruch nimmt, andererseits auf Sonderrechte pocht – als Ausdruck einer konstanten Missachtung des staatlichen Neutralitätsbegriffs sehen.
Die Frage drängt sich auf: Wie säkular soll, ja muss die Justiz selbst sein? Wie viele religiöse Symbole verträgt die dritte Gewalt in einer multireligiösen Gesellschaft? Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2003 angemahnt, die »Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität« strenger zu handhaben, um Konflikte zwischen den Religionen zu vermeiden.
Für Richterinnen oder Staatsanwältinnen ist die Rechtslage hier eindeutig: Landesgesetze, wie das Berliner »Weltanschauungssymbolgesetz«, schreiben vor, keine »sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole zu tragen«. In Hessen ist Musliminnen während der Referendarzeit das Tragen von Kopftüchern innerhalb von Dienstgebäuden untersagt, bei Schöffinnen mit Kopftuch zeigt sich die Justiz mal tolerant, mal ablehnend. Die Justiz reagiert eher hilf- und orientierungslos. Zwei Wege sind möglich: »Einübung in die Toleranz«, etwa das Aufeinandertreffen eines jüdischen Angeklagten mit Kipa, der vor einer muslimischen Schöffin mit Kopftuch im Gerichtssaal steht – unter einem christlichen Kreuz. Oder aber, wie im laizistischen Frankreich, das Verbot jeglicher religiöser Symbolik im Gerichtssaal – selbstredend auch Verzicht auf das obligate Kruzifix an der Wand.
Oder: Wie säkular soll, ja muss der Alltag in unseren Schulen sein? Religionsunterricht gibt es flächendeckend in staatlichen Schulen, zunehmend auch für moslemische Schüler, unterrichtet von eignes dazu ausgebildeten moslemischen Religionspädagogen. In den Kultusministerien sieht man darin ein zeitgemäßes Spiegelbild unserer multi-religiösen Gesellschaft. Der Psychologe Ahmad Mansour, Mitbegründer der »Initiative Säkularer Islam«, lehnt das ab. Er fordert: Kein Religionsunterricht, sondern Religionskunde. Dort könnten Kinder und Jugendliche erfahren, was es mit den Religionen auf sich hat, woher sie kommen, wie sie entstanden sind, wie sie unsere Gesellschaft, unseren Alltag geprägt haben und noch immer prägen. In einem Rundfunk-interview kritisierte Mansour, es sei nicht mehr zeitgemäß, an einem bekenntnisorientierten Religionsunterricht festzuhalten, getrennt nach religiöser Zugehörigkeit. »Ich halte es für hochproblematisch, dass wir Kindern schon mit acht oder neun Jahren sagen; Ja, Du bist Christ, Protestant – dann gehe in die Klasse A. Die Moslems gehen in die Klasse B und die Juden in die Klasse C«, so der islamkritische Psychologe. Gerade in Zeiten von Vorurteilen müsse das Wissen übereinander gefördert werden, so Mansour. Er plädiert stattdessen für einen nicht-bekenntnisorientierten Unterricht für alle Konfessionen gemeinsam. Es würde Muslimen gut tun, mehr über das Christentum und das Judentum zu erfahren »und zwar nicht in den Hinterhofmoscheen in Neukölln, sondern in einer staatlichen Schule von einem Religionslehrer, der gut ausgebildet ist, der ein Demokrat ist, der Aufklärung verstanden hat«, so dessen Kritik.
Man möchte Herrn Mansour beipflichten – und ihm zurufen: Wie wäre es, vielleicht ganz auf den Religionsunterricht an staatlichen Schulen zu verzichten? Stattdessen eine Einführung in den evolutionären Humanismus, von Lehrerinnen und Lehrern, die sich der säkularen Aufklärung widmen? Aber es wird hierzulande vorerst beim bekenntnisorientierten Religionsunterricht bleiben, ordentlich separiert nach Konfessionen. Und nicht nur in Bayern unter einem Kruzifix an der Wand des Klassenzimmers.
Ob im Gerichtssaal oder im Klassenzimmer: es geht nicht um die »Austreibung Gottes« aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der beiden großen christlichen Konfessionen – entscheidend eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsfelder. Und der Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Unser Grundgesetz sollte gottlos sein.
Dass es an der Zeit ist, die »Kirchenrepublik Deutschland« hinter uns zu lassen und dafür zu sorgen, dass aus Verfassungstext endlich Verfassungswirklichkeit wird, wurde einmal mehr sichtbar, als im Februar 2019 im Deutschen Nationaltheater in Weimar der offizielle Festakt zu »70 Jahre Grundgesetz« und »100 Jahre Weimarer Verfassung« stattfand. Die Jubiläums-Dramaturgie sah wie selbstverständlich einen ökumenischen Gottesdienst mit der evangelischen Landesbischöfin und dem katholischen Erfurter Bischof vor. Dabei wurde gerade das, was die elementaren Bürgerechte betrifft – von Meinungsfreiheit bis Frauenrechte – kurz das, was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, gegen den Klerus erkämpft.
An diesem grundsätzlichen Mangel an demokratischen Standards wird, so ist zu befürchten, sich in naher Gegenwart wenig ändern. Dafür sorgt die politische Klasse, allen voran die C-Parteien. So inszenierte sich die neue Parteivorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, der große Chancen eingeräumt werden, Angela Merkel als Bundeskanzlerin zu folgen, wiederholt als Retterin des christlichen Abendlandes. Sie ist nicht nur Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), sondern demonstriert auch immer wieder ihre Frömmigkeit, wenn es um politische Inhalte geht. Eine Entscheidung des Saarbrücker Amtsgerichts, Kreuze aus den Sitzungssälen entfernen zu lassen, mochte sie nicht nachvollziehen: »Das Kreuz verdeutlicht, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist«, so Kramp-Karrenbauer im Saarländischen Rundfunk. Nirgendwo sieht die CDU-Frontfrau Änderungsbedarf, was den Status quo der genannten Privilegien, Subventionen und Zuwendungen betrifft, auch das staatliche Neutralitätsgebot sieht sie nicht verletzt. Alles soll so bleiben, wie es ist. Beispielsweise auch der »Blasphemie-Paragraph« (§ 166 StGB). Dort heißt es:
»… Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. …«
Kurz nach dem Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo sprach sich Kramp-Karrenbauer gegen eine Streichung aus, denn dieser Paragraph verdeutliche, »dass Religion und die damit verbundenen Gefühle der Menschen ein schützenswertes Rechtsgut« seien. Die CDU-Politikerin ist sich in der Beschwörung des »Respekt[s] vor religiösen Anschauungen« mit eifernden Glaubens-Fundamentalisten aller Religionen einig: Ob Adepten des Katholizismus, Vertreter eines Islams oder orthodoxen Judentums – sie alle reklamieren ständig und allerorten »Respekt!«. Einige fordern sogar einen neuen, schärferen Blasphemie-Paragraphen.
Die Blasphemie ist eine Konstruktion und hat eine lange und wechselhafte Geschichte. In Frankreich wurde sie als »imaginäres Verbrechen«, als strafwürdiges Delikt 1791 abgeschafft. Lange war sie im modernen, aufgeklärten Europa verschwunden. Spätestens seit den Mord-Drohungen gegen die Herausgeber und Redakteure einer dänischen Tageszeitung, die Mohammed-Karikaturen veröffentlich hatte (was in der moslemischen Welt zu einem Sturm der Entrüstung führte), aber kehrte die Diskussion um ein Blasphemie-Verbot zurück. Wendepunkt war dann der terroristische Angriff am 7. Januar 2015 auf die Pariser Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo, bei dem zwölf Redaktionsmitglieder von moslemischen Glaubensfanatikern ermordet wurden. In den Tagen danach distanzierten sich zwar zahlreiche muslimische Organisationen von dem Anschlag, doch einige konnten der Versuchung nicht widerstehen, dem Ganzen ein »Aber« hinzuzufügen. Man verurteilte die Terroristen wegen ihrer Gewalttat, doch im gleichen Atemzug wurde – auch von linken Intellektuellen – der Zeitschrift vorgeworfen, sie habe die »Gefühle von Millionen Muslimen überall auf der Welt verletzt«.
Das Prinzip der Rede- und Meinungsfreiheit, aber auch das der Pressefreiheit im Zusammenhang mit den islam-kritischen Zeichnungen war schon vor dem Attentat »im Namen des Respekts vor Religion« immer wieder kritisch thematisiert worden. Gegen solcherlei Vorwürfe und Attacken wehrte sich das Blatt.
Der Zeichner und Chefredakteur Charb schrieb an die Kritiker einen längeren Text mit der Überschrift »Brief an die Heuchler« (der später in Buchform erschien). Er konnte nicht ahnen, dass er zwei Tage, nachdem er das Manuskript abgeschlossen hatte, nicht mehr leben sollte – ermordet von fanatischen Killern, die behaupteten, im Namen Allahs zu handeln.
»Ein Fanatiker ist ein Mensch, der nur bis eins zählen kann«, beschreibt Amos Oz, weltweit gelesener und vielfach ausgezeichneter israelischer Schriftsteller (unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992) das autistische Weltbild dieser mörderischen Irrläufer:
»Die fanatischen Kämpfer sind uns von Gott gesandt, um die Welt zu reinigen, um uns von all dem Schmutz zu befreien, der an uns haftet. … In den Augen moslemischer wie auch anderer Glaubensfanatiker ist die Befolgung sämtlicher religiöser Gesetze in ihrer schärfsten Form die einzige Medizin gegen alle Krankheiten der Menschheit.«
Ihr mörderischer Irrsinn ist zeitlos. Noch heute arbeitet die Charlie Hebdo-Redaktion an einem geheimen Ort in Paris, der mit Panzertüren gesichert ist, rund um die Uhr bewacht von einem privaten Sicherheitsdienst. Immer wieder gibt es Drohungen, vor allem im Internet.
Warum aber sollte man Religionen einen besonderen Respekt entgegenbringen? Es ist eine Errungenschaft der Aufklärung, dass es in einer freiheitlichen Demokratie keine »Meinungsdelikte« – definiert von Kardinälen, Imamen oder Rabbinern – gibt. In einer säkularisierten Gesellschaft schützt der Staat immer den Gläubigen, nie aber eine einzige Religion. Und deswegen müssen Religionen, welche es auch immer sein mögen, Spott aushalten, ganz gleich, ob es ihren Gott oder ihre Propheten trifft.
Ich halte es hier gerne mit Rowan Atkinson, besser bekannt als der zappelnde Kino-Komiker »Mr. Bean«, welcher der Meinung ist, man dürfe grundsätzlich über alles Witze machen, selbstverständlich auch über Glaube und Religion. Der britische Ex-Außenminister Boris Johnson, ein Politiker, der Witz und Spott zum Stilmittel in der Politik erhob, hatte Burka-Trägerinnen als »Briefkästen« bezeichnet – und damit in seinem Land heftigen Protest ausgelöst. Mr. Bean, alias Rowan Atkinson, sprang ihm bei und erinnerte an den Grundsatz der Rede- und Meinungsfreiheit:
»Wir dürfen auch Witze über Burka-Trägerinnen machen, denn das Prinzip der Redefreiheit ist ein zwingender Bestandteil einer funktionierenden und selbstbewussten Demokratie. … Ich bin auch manchmal beleidigt, wenn jemand was sagt, was mir nicht gefällt. Schlimm ist es nur, wenn Menschen für das Recht kämpfen, nicht beleidigt zu werden. Dann geht es der Meinungsfreiheit an den Kragen.« Großartig, dieser Mr. Bean!
Keine Frage: Das Bekenntnis gläubiger Menschen verdient Achtung, doch es darf nicht mit den Dogmen und Institutionen verwechselt werden, deren rückhaltlose Kritik immer möglich sein muss – jedenfalls überall dort, wo Meinungsfreiheit ein Verfassungsrecht ist. Und so warnt Jacques de Saint Victor, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Vincennes-Saint-Denis, vor einer wiederkehrenden Kriminalisierung der Blasphemie aufgrund dieser Verwechslung von persönlichem Glauben und religiöser Doktrin (»einer geistigen Konfusion«). Außer dem Schutz der Gläubigen dürfe der Staat nichts unternehmen. Die Beleidigung und Kritik jedweder religiösen Doktrin dürfe als der Preis betrachtet werden, der für den Vorzug der Freiheit zu zahlen ist.