Im goldenen Käfig

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Im goldenen Käfig
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Aicha Laoula
Im goldenen Käfig
Meine Befreiung von tödlichen Intrigen und Traditionen


Die Namen einiger in diesem Buch erwähnten Personen wurden aus Gründen der Persönlichkeitsrechte geändert.

Widmung

Zunächst einmal möchte ich dieses Buch mir selbst, Aicha Laoula, widmen, meiner Freiheit als Frau und als Mensch. Mit diesem Buch wollte ich an meine durch die Sklaverei zerstörte Kindheit erinnern und über meine Jugend, die einer Zwangsehe geopfert worden war.

Ich widme es meinen Kindern: den beiden, die noch leben, und den beiden, die sterben mussten, die aber in meinem Herzen weiterleben, was auch für meine zwei ungeborenen Kinder gilt. Ich widme es meinem jetzigen Ehemann, der mir treu ist und der mich liebt. Ich widme es auch meinen Schwestern und Brüdern sowie meinem geliebten Vater, der mir durch seine Liebe die Kraft zum Leben gab, und meiner Mutter, weil sie mich auf die Welt brachte.

Vor allem aber widme ich dieses Buch allen Frauen, die heute noch unterdrückt werden, den jungen Mädchen, die nach wie vor zu Zwangsehen genötigt werden. Ich widme es allen Kindern und Jugendlichen, die heute noch versklavt werden. Ich widme es allen Menschen, die aufgrund ihrer Familie oder aufgrund von Traditionen, politischen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht frei sein können. Ich widme es allen Personen, egal ob Mann oder Frau, alt oder jung, die in Frieden und Harmonie leben möchten. Ich widme dieses Buch auch dem Schutz der Tiere und der Natur. Ich widme es der Brüderlichkeit und Toleranz zwischen Nationen, Religionen, Ethnien und Kulturen. Gott möge unsere Anstrengungen segnen, eines Tages in einer Welt der Liebe und Freiheit zu leben. Amen.

Inhalt

Ankunft in der Schweiz

Bilals Ex

Die Schwangerschaft

Lesen und Schreiben

Der Frühling

Freunde

Die Geburt

Urlaub in Marokko

Die Schulden

Die Lähmung

Der Umzug

Neue Welten

Der Psychiater

In Marokko

Die Schwangerschaft und die Geburt

Der tragische Urlaub in Marokko

Der Umzug

Die Geburt

Ihr Sohn wird nicht leben

Meine Mutter in der Schweiz

Der Schwiegervater in der Schweiz

Mein Bruder Hmad

Meine Reise nach Marokko

Bei Hmad in Italien

Hussein

Mounir

Die Anzeige

Die Schwangerschaft

Einlieferung in die Psychatrie

Die Geburt

Therapie gegen die Ängste

Der schreckliche Tag

Die Rehabilitation

Meine Mutter

Der Umzug

Die Tragödie in Italien

Die Genesung von Mounir

Die lang ersehnte Freiheit

Rückkehr zur Arbeit

Invalidität

Der Führerschein

In Marokko

Schweizer Staatsbürgerschaft

Bilal erkrankt

Die Staatsbürgerschaft

Die Stunde der Wahrheit

Meine Freiheit ist nah

Mein neues Leben

In Marokko

Schwangerschaft und Trauer

Die Veröffentlichung meines ersten Buches: »Verkauft!«

Mein zweites Buch

Die grösste Prüfung vor meiner vollständigen Befreiung

Einige Worte über alte Menschen

Die Welt meiner Träume

Antworten auf die Fragen

Mein Dank

Ein Wort von Gabriel Palacios

Ein Wort von Aichas Hausarzt

Ein Wort von Dr. h. c. L. F.

Ein Wort von Moana Ingrid

Ein Wort von Aichas heutigem Ehemann

MET-Klopftherapie

Ankunft in der Schweiz

Ich war 16 Jahre alt, als ich zum ersten Mal nach Europa kam. Mein Mann Bilal und ich waren vom Flughafen in Marrakesch nach Genf geflogen, wo wir zwischenlandeten, um anschließend nach Zürich weiterzufliegen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, meine Gefühle wechselten zwischen Freude und Angst vor all den neuen Dingen, die mich erwarteten. Meine Entdeckungsreise der neuen Welt, in die ich innerhalb weniger Stunden katapultiert wurde, begann bereits am Flughafen in Zürich. Ich war buchstäblich überwältigt von seiner Schönheit und seiner Größe und vor allem von der Tatsache, dass alles glänzte und blitzsauber war. Mein Blick wurde sofort auf ein Modellflugzeug gelenkt, das in der Mitte der Decke dieses großen Gebäudes ausgestellt war. Ich war verblüfft und fasziniert vom Anblick der Rolltreppen, die ich zum ersten Mal in meinem Leben sah. Starr vor Verblüffung beobachtete ich, wie sie die Menschen nach oben und unten trug, ohne dass auch nur die geringste Anstrengung nötig war, die Stufen hinauf oder hinunterzusteigen. Es fiel mir nicht leicht, mir vorzustellen, auf diesen sich bewegenden Stufen hinaufzufahren, ich hatte Angst, zu stolpern und zu fallen. Doch ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und ließ mich inmitten der Menschen von den Stufen tragen, während sich mein Mann hinter mir um den Gepäckwagen kümmerte. Ich bemerkte, dass die Menschen hier eher ruhig und leise sprachen. Auch die Art sich zu kleiden unterschied sich von der, die ich aus Marokko kannte. Die Kleidung war hier eher dunkel und es fehlte diese Lebendigkeit leuchtender Farben, die ich von uns, speziell von meinem Volk, den Berbern, kannte. Außerdem stellte ich fest, dass die meisten Frauen Hosen trugen, nicht wie bei uns, wo man in den Städten lange bunte Djellaba trug, und in den berberischen Dörfern trugen die Frauen knöchellange Röcke in leuchtenden Farben und die Männer eine Djellaba, die ebenfalls bis zum Knöchel reichte. Zum ersten Mal sah ich so viele Menschen, die meisten hatten helles Haar und ebenso helle Augen und Haut, und es kam mir vor, als hätten sie seit langer Zeit keine Sonne gesehen. Ich beobachtete diese völlig neue Welt um mich herum, während mein Gehör versuchte, diese neuartige Sprache zu verstehen, die überall um mich herum ertönte. Ich fragte Bilal, welche Sprache das sei und er sagte, es wäre Deutsch. Ab dem ersten Moment erschien mir diese Sprache recht beschwerlich. Ich fragte mich, ob ich jemals in der Lage wäre, sie zu erlernen, wo ich doch nun in diesem Land leben würde. Ich bemerkte, dass es überall sehr sauber und ordentlich war, selbst auf der Straße, und das gefiel mir gut. Alles war in perfekter Ordnung, niemand stieß mit den Ellenbogen, während die Menschen in der Bahn ordentlich ein- und ausstiegen, einer nach dem anderen. Mir war sofort bewusst, dass dieses Volk hier sehr zurückhaltend war, im Vergleich zu uns in Marokko, wo die Menschen offener und kommunikativer sind. Bei uns begannen die Leute Gespräche, ganz gleich, wo sie waren: unterwegs, während sie auf öffentliche Verkehrsmittel warteten, während des Einkaufs, immer und überall. Auch wenn man sich nicht kannte, man unterhielt sich sofort über sein Privatleben und persönliche Angelegenheiten und tauschte Erfahrungen aus und bat sein Gegenüber um Rat. Diese Art der Kommunikation ist praktisch wie das Lesen der Tageszeitung oder das Lauschen der Nachrichten im Lokalradio. Alle sind über alles und jeden informiert.

 

Der Zug fuhr lautlos von Zürich in Richtung Schaffhausen ab, mit einem Tsch-tsch und dem leichten Brummen der Schienen, das mir ebenfalls neu war. Vom Zug aus blickte ich auf die schöne Stadt Zürich, eingehüllt in einen Schleier von Schnee, der gerade frisch gefallen war. Auch wenn sich die Bauweise und die Architektur der Stadt von den Städten, die ich kannte, unterschieden, gefiel sie mir. Außerhalb der Stadt tat sich eine wunderschöne Landschaft auf, schneebedeckt, unter dem Bäume hervor blitzten, die auf mich wirkten, als wäre kein Leben in ihnen. Eine magische Landschaft grenzenloser Wälder, eine einzigartige Natur, ganz anders als die meines Landes, das eine Steinwüste mit trockener Erde ist, das ich aber doch so sehr für seine Wärme und die Sonne liebte, die jeden Tag schien. Gegen sechs Uhr am Abend war es bereits dunkel, als wir in der schönen Stadt Schaffhausen ankamen, die bereits um diese Uhrzeit verlassen schien. Die wenigen Passanten konnte man an einer Hand abzählen. Im Gegensatz zu unseren Städten in Marokko, in denen das Leben bis Mitternacht pulsierte! Ich stieg aus dem Zug, brrrrrr! Ich wurde von einem Schauer erfasst, der mich wie ein Igel zusammenrollen ließ. Ich trug Jeans und eine Lederjacke, die für diese eisige Kälte nicht geeignet waren. Nie zuvor im Leben hatte ich eine ähnliche Kälte verspürt, sie war stechend und schien meine Haut bis auf die Knochen zu durchdringen. Nach einer zehnminütigen Fahrt mit dem Bus kamen wir vor einem dreistöckigen Haus an. Es war alt aber in einem wunderschönen architektonischen Stil gebaut. Ich blieb stehen, um es einen Augenblick lang zu bestaunen, dieses Gebäude, das ab heute mein neues Zuhause sein sollte. Das Haus stand in der Mitte eines Gartens, umgeben von Bäumen ohne Blättern, die leblos wirkten. Ich hatte das Gefühl, dass sich sowohl die Natur als auch die Menschen und das ganze Land in einem tiefen Winterschlaf befanden, eingehüllt von Dunkelheit und in vollkommener Stille. Ein Gefühl der Nostalgie und der Beklemmung überkam mich, vielleicht hervorgerufen durch den Nebel, die Kälte und die Feuchtigkeit, die ich überhaupt nicht mochte. Gleichzeitig verspürte ich aber auch eine unheimliche Freude über meinen ersten Kontakt mit Schnee, der sich am Straßenrand türmte. Noch nie im Leben hatte ich so viel Schnee gesehen. Ich erinnerte mich an der ersten Schnee in meinem Dorf. Ich war noch sehr klein, als ich eines Morgens mit meinen Brüdern und Schwestern aus dem Haus ging und sich uns ein wunderbares und einzigartiges Schauspiel bot. Das ganze Land war weiß. Meine Geschwister und die Kinder des Dorfes verloren keine Zeit, sich mit nackten Füßen hineinzustürzen, in diese weiße und kalte Substanz, um damit zu spielen. Ich hingegen war einfach stehen geblieben, um dieses Wunder schweigend zu bestaunen. Die Kinder waren voller Euphorie und juchzten vor Freude, während sie kleine Bälle formten und den Hügel hinunterrollen ließen. Wir Kinder waren alle barfuß und trugen eine Tunika aus Wolle mit kurzen Ärmeln, ohne Hose oder gar Höschen, Dinge, die wir zu dieser Zeit nicht kannten. Ich stand einfach nur da und beobachtete die Schneebälle, die wie von Zauberhand immer größer wurden, während sie ins Tal hinab rollten. Leider war diese Freude nur von kurzer Dauer, denn der Schnee wich noch am selben Tag der Sonne und kam nie mehr zurück.

Nach einer gewissen Zeit ermunterte mich Bilal, ins Haus zu gehen. Ich nahm meine Tasche und folgte ihm in den dritten Stock. Ich war froh, mich ein wenig von der Kälte im Inneren des Hauses zu erholen, doch auch im Haus war es furchtbar kalt und feucht. Selbst das Wasser auf dem Geschirr im Spülbecken in der Küche war gefroren. Bilal hatte den Holzofen angezündet und wenige Minuten später ließen mich der Geruch des Holzes und die Wärme der Flammen ein wenig entspannen. Bilal war glücklich, mir sein Zuhause zeigen zu können: zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Badezimmer mit Dusche, eine Küche und ein Raum vor dem Haupteingang. Der Boden der Zimmer war mit hellbraunem Teppich bedeckt, der Rest der Fußböden hingegen mit beigem Vinyl. Die Wände des Wohnzimmers hingen voller Poster, große und kleine, Bilder von Sängern, Bilals Idole, der berühmteste darunter war Bob Marley, er war auf einem Bild mit fliegenden Zöpfen abgebildet. Die Tür des Wohnzimmers war in den verschiedensten Farben gestrichen, keine davon hatte eine präzise Form, es waren für mich unerkennbare Bilder. Eines Tages fragte ich Bilal, wer die Tür so seltsam gestrichen hatte. Seine Antwort lautete: »Das ist Kunst. Ich habe das gemalt. Es ist ein Bild, das jeder so interpretieren kann, wie er will. Es nennt sich abstrakt.« Ich betrachtete weiterhin die Tür, von rechts, dann von links. Ich legte mich auf den Boden, betrachtete sie von unten, dann mit etwas Abstand, ohne Erfolg. Ich war nicht in der Lage, dieser Malerei eine Form zu geben, die mir logisch erschien. Letztlich kam ich zu dem Entschluss, dass ich einfach zu unwissend war, um das zu verstehen, was Bilal Kunst nannte. In Marokko hatte ich noch nie davon gehört. Für mich war dies ein neues Wort in meinem Wortschatz. Kunst? Abstrakt? Was ist das? Hm … mit den Schultern zuckend ließ ich die Tür Tür sein.

Ich fand mich in einer völlig anderen Welt wieder, auch was die Auslegung bestimmter Dinge betraf, und wir sprechen dabei nicht nur von Geschmäckern und der Einrichtung oder den farblosen Farben in Bilals Zuhause. Ab dem ersten Tag stand für mich fest: Ich musste diesem Junggesellenhaushalt etwas mehr Weiblichkeit verleihen. Die Wände mussten gestrichen werden und die Fenster hatten keine Vorhänge.

Im Wohnzimmer gab es einen großen Holzkamin, der zum Flur hin offen war. Er war mit grünen Fliesen verkleidet und von einer Bank umsäumt, auf der ich gerne saß und mich von der angenehmen Wärme des Kamins umarmen ließ. Ich saß hier oft stundenlang mit geschlossenen Augen und dachte nach. Ich stellte mir vor, wie ich auf meinem Hügel in Marokko saß, wo ich das Gefühl von Freiheit und Seelenfrieden verspürte. Wo ich die Wärme der Sonne spürte und den blauen Himmel und die steinigen Ebenen beobachten konnte, soweit das Auge reichte.

Im Wohnzimmer war es warm, im Rest des Hauses dagegen kalt. Alle Möbelstücke waren braun und antik, aus den 40er Jahren, aber in einem guten Zustand. Am Boden des Wohnzimmers war eine Abbildung eines großen menschlichen Gesäßes, aus Holz geschnitzt. Jedes Mal, wenn wir Gäste empfingen, schämte ich mich dafür. Bei uns in Marokko wäre es undenkbar gewesen, eine solche Figur den Gästen zu präsentieren. Es war viel zu intim, ein Tabu. Ein gutes Beispiel für etwas, was mich stets schockierte, war, wenn ich Bilder von nackten Frauen sah, aufgehängt in den Wohnzimmern einiger Leute hier in der Schweiz, auch dies nannten sie Kunst, von der ich wirklich nichts verstand. In Marokko wäre es undenkbar, ein solches Bild aufzuhängen, es wäre ein Zeichen mangelnden Respekts gewesen, ein Skandal.

Im Schlafzimmer standen eine braune Kommode, mit einem Foto von mir darauf, und ein Bett. An der Wand über dem Bett hing ein orientalischer Teppich, dessen rote Farbe bereits verblasst war. Vom Fenster aus sah man die Bahngleise, das alte Haus wurde jedes Mal erschüttert, wenn ein Zug vorbeifuhr. Ich war glücklich, in einem Haus zu leben, in einem Haus, das ich schließlich mein Zuhause nennen konnte. Die Dinge oder die Familie, die ich während meiner ganzen Kindheit vermisst hatte. Tief im Inneren meines Herzens hoffte ich, dass ich mich in dieses neue Land integrieren könnte und dass mit Bilal alles gut werden würde.

Ich konnte es kaum erwarten, die neue Welt um mich herum bei Tageslicht zu erkunden. Als ich am nächsten Tag erwachte, lief ich ins Wohnzimmer zum Fenster, das auf die Hauptstraße blickte, die die Stadt Schaffhausen mit dem Ort Neuhausen verband. Ich richtete meinen Blick gen Himmel und erkannte, dass ich den blauen und klaren Himmel wohl in Marokko zurückgelassen hatte. Hier war der Nebel so dicht, dass man ihn hätte in Scheiben schneiden können, wie eine Schokoladentorte. Ein Nebel, der sich sowohl über die Stadt als auch die Gemüter ihrer Einwohner legte, besonders über mich, die ich den Nebel nicht leiden konnte. Andererseits rief der Schnee eine immense Freude in mir hervor.

Voller Bewunderung betrachtete ich die Schneeflocken, die vom grauen Himmel fielen und sich anschließend sanft auf den nackten Ästen der Bäume und am Boden niederließen. Die Berge von Schnee an der Seite der Straße, der Verkehr, der in ordentlichen Bahnen ohne den lärmenden Ton der Hupen vor sich hinfloss, frei von Menschen, die kreuz und quer über die Straße liefen und das eigene Leben in Gefahr brachten, wie es bei uns der Fall war. Hier gingen die Menschen geordnet und nur dort über die Straße, wo es Fußgängerkreuzungen gab und sie warteten an den Ampeln, bis sie auf grün schalteten und das Zeichen zum Gehen gaben. Zur damaligen Zeit beachteten in Marokko nicht einmal die Fahrer die roten Ampeln, geschweige denn die Fußgänger. Die Fahrer gaben Gas ohne Rücksicht auf die Fußgänger zu nehmen, während sich diese unter den Verkehr mischten. Rette sich wer kann! Heute ist die Situation allerdings auch bei uns eine andere.

Über der Straße vor dem Haus gab es eine Brücke, über die eine weitere Eisenbahnstrecke verlief. Hinter dieser Brücke stand eine Fabrik, eine Keramikfabrik, wie ich später erfuhr. Neben der Fabrik war das Schönste und Wundervollste, auf das ich in diesem Land traf. Der majestätische und prächtige Fluss, der durch die Stadt verlief und im Rheinfall endete. Ich verliebte mich vom ersten Moment an in diesen Fluss. Ich konnte es kaum erwarten, hinauszugehen, um die Stadt zu besichtigen und alles Neue zu erkunden. Nach dem Frühstück zog ich mich warm an, damit ich mit Bilal nach draußen konnte. Links neben dem Eingang des Gartens, in der Nähe der Eingangstür, bemerkte ich eine rote Rose, die sich entfaltete, und aus der stacheligen Pflanze ohne Blätter hervorstand, doch die Kälte hatte sie zu Eis verwandelt. Jedes Mal, wenn ich an ihr vorüberging, hielt ich kurz inne und bewunderte sie. Welch ein Wunder! Eine völlig intakte Rose, regungslos, zum grauen Himmel gewandt, als würde sie sich Gott lobpreisend zuwenden.

Wir nahmen den Bus an der Haltestelle vor dem Haus. Bei unserer Ankunft war ich von der Schönheit Schaffhausens verzaubert, die bei Tageslicht noch deutlicher zu erkennen war, auch wenn die Sonne nicht schien. Für mich war ein Tag ohne Sonnenschein sehr ungewöhnlich. Ich verliebte mich sofort in diese Stadt. In der Altstadt war es sehr ruhig, hier fuhren weder Autos noch Motorräder. Die Fußgänger waren ruhig und niemand erhob seine Stimme, während er sprach und man hörte keine Schreie von Kindern, die auf den Straßen spielten. Ich ging umher, die Augen auf die Wände der alten Häuser gerichtet, von denen die schönsten Malereien herunterstrahlten, die, wie ich gehört hatte, die Geschichte der Stadt darstellten. Ich blieb vor den Brunnen stehen, die über die ganze Stadt verstreut waren und bewunderte die großen Statuen, die in der Mitte der Brunnen posierten. Ich beobachtete sie sehr lange und versuchte, ihre Bedeutung zu verstehen. Niemals zuvor hatte ich die Statue einer Person gesehen. Bilal forderte mich auf, etwas schneller zu gehen, aber ich war von all dem Neuen und allgemein von dem Leben dieser Stadt so fasziniert. Voller Verwunderung bemerkte ich, dass die Hunde an der Leine ausgeführt wurden, die Babys wurden in Wagen spazieren gefahren und nicht auf den Rücken gebunden, wie bei uns, vor allem auf dem Land. Ich bemerkte auch, dass die Menschen immer flott unterwegs waren, als hätten sie es ganz eilig. Ich betrachtete jedes Detail und saugte jeden Geruch auf und verarbeitete all die neuen Gefühle, die in mir geweckt wurden. Schließlich kamen wir am Supermarkt an, der völlig anders war als unsere Souk und die marokkanischen Geschäfte. Ich bestaunte die Regale, vollgestopft mit Dosen, Tütchen, Päckchen, Tuben, Töpfchen, Flaschen, kleine und große. Ich konnte weder lesen, was sich darin befand, noch wusste ich, wie ich diese neuen Gerichte kochen sollte. Es überraschte mich, dass es selbst für Hunde und Katzen eine Vielzahl leckerer Gerichte gab, ich fand die Idee wundervoll und brillant. Bei uns aßen die Katzen und Hunde die Reste, wenn sie das Glück hatten, welche zu bekommen, wenn nicht, mussten sie sich selbst etwas beschaffen, um zu überleben. Erleichtert atmete ich auf, als ich die Theken voller Gemüse und frischem Obst sah und dahinter einen Metzger, der Fleisch verkaufte, das nicht verpackt war. Ich war erleichtert, frische Lebensmittel zu sehen, von denen ich wusste, wie man sie zubereitete. Während unseres Ausflugs beobachtete ich aufmerksam die Straßen und die Wege, um sie mir einzuprägen, wenn ich einmal allein in den Supermarkt gehen würde.

 

Am ersten Arbeitstag von Bilal stand ich um fünf Uhr morgens auf, um ihm sein Frühstück zuzubereiten, aber er verweigerte es und erklärte mir, dass er so früh am Morgen nichts aß. »Aber ich kann dir doch wenigstens einen Tee oder einen Kaffee machen!« Er bedankte sich, verabschiedete sich und ging. Ich war enttäuscht, weil ich ihm doch eine gute Frau sein wollte, wie ich es in Marokko gesehen hatte. Jeden Morgen stand ich auf, um ihm vom Fenster aus zu winken und ihm hinterherzublicken, bis sein Roller hinter der Kurve verschwand. Oft kam einer seiner Arbeitskollegen vorbei und nahm ihn mit in seinem Transporter, um auf weit entfernte Baustellen zu fahren. Es war noch dunkel und die Straßenlaternen brannten noch. Ich schloss das Fenster und zitterte am ganzen Körper, ich rollte mich zusammen, brrrr, was für eine Kälte! Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass Bilal so früh zur Arbeit gehen musste, während ich mich noch einmal in die warmen Decken kuscheln konnte. Ich war an eine solche besondere Behandlung nicht gewöhnt, wo ich doch meine ganze Kindheit mit Arbeit verbrachte hatte, von der Morgendämmerung bis spät in die Nacht, als kleine Sklavin reicher Familien. Oft machte ich am Morgen trotz der Kälte einen kleinen Spaziergang. Die Straßen waren noch menschenleer und die wenigen Leute, die vorbeikamen, liefen schnell, eingehüllt in ihre Jacken, um sich vor der Kälte zu schützen. Am liebsten spazierte ich den Fluss entlang, der mir immer viel Freude bereitete. Ich verspürte großen Respekt für das Wasser, das bei uns auf dem Land als sehr wertvoll galt. Hier hingegen floss es, ohne dass es jemand bemerkte. Ich sehnte mich danach, ein wenig von diesem kostbaren Strom in meine Heimat zu schicken. Hätte ich ein Wunder geschehen lassen können, ich hätte es gemacht. Das Wasser hätte aus meinem Dorf ein kleines Paradies werden lassen, indem es Gras für die Tiere und eine reiche Ernte für die Menschen hätte wachsen lassen.

Nach meinen Spaziergängen kehrte ich zurück, um die Hausarbeit zu erledigen. Ich musste eine Beschäftigung finden, um nicht in Verzweiflung zu geraten, wegen all dem Nebel und der Einsamkeit. Ich musste diese große Umstellung in meinem Leben irgendwie bewältigen. Ich wusste nicht, ob ich mich glücklich oder unglücklich fühlen sollte. Es war eine ganz neue Herausforderung, die es zu meistern galt. Die Spaziergänge und die Hausarbeit machten mich körperlich müde und beschäftigten meinen Kopf. Doch nachdem ich mit dem Haushalt fertig war, machte ich ein kleines Nickerchen. Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich so viel geschlafen oder so viel Erholung gehabt, noch hatte ich jemals so viel Ruhe und Frieden erlebt, ohne ständig herumkommandiert, zur Eile getrieben oder geschlagen zu werden, wie es mir in der Vergangenheit durch meine ehemaligen Herren und meine Schwiegermutter und meine Schwägerinnen ergangen war. Nun schien es, als wäre ich im Paradies angekommen! Ganz zu schweigen von der Fülle an Essen, das ich zur Verfügung hatte, doch leider hatte ich keinen Appetit. Ich aß wenig oder gar nichts. Manchmal vergaß ich auch einfach zu essen, da ich nicht an regelmäßige Mahlzeiten gewöhnt war, angesichts meiner Kindheit, in der ich von den Herrschaften nur wenig oder nichts zu essen bekommen hatte. Wenn Bilal von der Arbeit nach Hause kam, wartete ich mit dem Essen auf ihn, aber oft endete es damit, dass ich alleine aß. Er sagte, er hätte keinen Hunger, weil er im Restaurant bereits ausreichend gegessen hatte. Während er auf der Baustelle arbeitete, hatte er am Mittag Hunger, am Abend dann nicht mehr. Oft dachte ich an meine Familie, die so wenig zu essen hatte, und ich wünschte mir inbrünstig, diese Fülle mit ihnen zu teilen, doch dies war leider unmöglich. Es war absurd. Während meiner gesamten Kindheit hatte ich Hunger leiden müssen und mich danach gesehnt, zu essen, und hatte nichts, und heute, wo ich ausreichend zu essen hatte, fehlte es mir an Appetit. Trotzdem fühlte ich mich glücklich und blickte voller Hoffnung in die Zukunft. Nur unter dem Nebel und der feuchten Kälte hatte ich zu leiden. Unsere Decken und das Bett waren immer feucht und kalt. Nur ich litt unter der Kälte; Bilal spürte sie nicht einmal. Er arbeitete als Maurer auf der Baustelle und trug nichts anderes als ein T-Shirt. Wenn er auf seinem Roller von der Arbeit kam, waren sein Bart und sein lockiges Haar buchstäblich gefroren, bis hinauf zu den Augenbrauen. Es war so lustig, ihn so zu sehen.

Kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz verlor Bilal seine Arbeit, fand aber gleich darauf eine neue Anstellung in einem Geschäft namens Coop, im Zentrum von Neuhausen, nicht weit von Zuhause entfernt. Bilal arbeitete dort als Lagerist. Bilal hatte die zwei Monate seiner Arbeitslosigkeit genutzt, um mich seinen Freunden und seiner sechsjährigen Tochter Miriam vorzustellen, und auch dazu, mir die schöne Stadt Schaffhausen zu zeigen. Bilal nahm mich mit in die Bars, wo wir seine Freunde trafen. Er war großzügig und spendierte Bier für alle. Und wenn er neue Leute kennenlernte, lud er sie zu uns nach Hause ein, um Couscous zu essen. So musste ich oft für mehrere Leute Couscous kochen. Manchmal brachte er spontan und spät abends Leute mit nach Hause und ich musste dann kochen, während ich bereits im Pyjama war und schlafen gehen wollte. Diese Verhaltensweise war typisch für unser Land, wo der Ehemann die Gäste präsentierte und die Frau zu jeder Tages- und Nachtzeit kochen musste. Bilal und ich wurden ebenfalls von seinen Freunden eingeladen, mit denen wir die Wochenenden verbrachten, um gemeinsam zu essen, zu reden und Musik zu hören.

Anfangs war ich über das Verhalten der Menschen in der Schweiz schockiert. Zum Beispiel, wenn sich Paare umarmten, sich streichelten und küssten und das vor allen anderen, an den Haltestellen, in den Bars und auf der Straße. Ein solches Verhalten wäre in meinem Land undenkbar gewesen. Zur damaligen Zeit wären die Mädchen von ihren Familien geschlagen worden, während die Jungen gezwungen worden wären, die Mädchen zu heiraten, die sie entehrt hatten. Nicht einmal verheirateten Paaren war es erlaubt, sich in der Öffentlichkeit zu küssen oder Gesten der Zärtlichkeit auszutauschen, diese waren der Privatsphäre vorbehalten und auch dort in keinem Fall vor den Augen der Kinder oder naher Verwandter.

Eine weitere Sache, die mich schockierte, war zu sehen, wie die Frauen rauchten und Alkohol tranken, oder kurze und enge Kleider mit weitem Dekolletee trugen, mit den Männern in den Bars saßen und sich unterhielten, als wenn nichts wäre. Bei uns wären Frauen, die sich so verhalten hätten, bestraft und von ihrer Familie und der Gesellschaft verstoßen worden. Sie galten als Prostituierte, die keinerlei Respekt verdient hatten. Wenn mich Bilal mit in seine Lieblingsbar nahm, trank ich immer schwarzen Tee mit Sahne oder Milch, von der ich festgestellt hatte, dass sie mir sehr gut schmeckte. Ich blieb abseits sitzen und sah schüchtern auf die Leute, deren Verhalten mich verlegen machte, aber ich zeigte meine Abneigung nicht. Ich tauschte mit den Anwesenden, die sympathisch und nett waren, einen kurzen Blick und ein Lächeln aus, dann senkte ich meinen Blick scheu und sah woanders hin, um ihnen nicht das Gefühl zu geben, dass ihr Verhalten unangenehm für mich war. Ich konnte mich an diesen Abenden nicht erfreuen, zwischen Verlegenheit und Scham, wo ich doch in einer völlig anderen Welt aufgewachsen war, in der ein solches Verhalten hart bestraft wird. Um die Wahrheit zu sagen, ich wusste noch nicht, welcher Welt ich angehörte, ich fühlte mich weder als Teil meines Heimatlandes noch fühlte ich mich meiner neuen Heimat zugehörig. Die Bar war stets vernebelt mit einer Mischung aus Zigarettenrauch und Haschisch, die Übelkeit in mir erzeugte. Ich konnte es kaum erwarten, die Bar wieder zu verlassen. Oft ging ich hinaus und setzte mich auf eine Stufe vor dem Eingang an die frische Luft, während Bilal sich innen mit seinen Freunden vergnügte. Einmal führte mich Bilal in eine Diskothek, sie war überfüllt und halb dunkel. Die Musik war sehr laut, ließ das ganze Gebäude erzittern und betäubte jeglichen Gehörsinn. Es war das erste Mal, dass ich in der Schweiz auf eine Party ging. Ich freute mich darauf und war neugierig, doch als ich dort ankam, fand ich nicht das vor, was ich erwartet hatte. Die Menschen amüsierten sich, jeder auf seine Weise. Die Atmosphäre war für meinen Geschmack zu chaotisch. Die meisten jungen Leute waren betrunken und hatten eine Zigarette in der Hand. Wegen des Lärms musste man schreien, um von seinem Gegenüber gehört zu werden. Die Musik schien die Menschen im Geiste zu bewegen, in eine andere Welt zu entführen, in eine Welt, die so ganz anders war als das alltägliche Leben. Ich bemerkte, dass die Menschen einen leeren Blick hatten, auch wenn sie sich zu amüsieren schienen. Der Rauch vernebelte die Sicht und erschwerte das Atmen. Meine Aufmerksamkeit wurde sofort auf die runden und glänzenden Lampen gelenkt, die sich an der Decke des Lokals drehten. Sie reflektierten bunte Lichter auf die Gesichter der Gäste, um dann wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, wie von Zauberhand. Mir war klar, dass diese Art von Fest nichts mit unseren berberischen Empfängen zu tun hatte, wo die Menschen mit einem Spritzer Rosenwasser oder Orangenblüten begrüßt wurden, neben dem Duft von Weihrauch, der den ganzen Ort der Festlichkeiten erfüllte. Die Leute saßen ruhig und bequem auf bunten Teppichen und lauschten den Gesängen und sahen dem Volkstanz zu, der in der Mitte des Hofes des Hauses getanzt wurde, in dem das Fest stattfand. Niemand trank Alkohol und noch weniger wurden Zigaretten geraucht. Als Getränke kannten wir nur Tee und Wasser.