Loe raamatut: «Tok-Tok im Eulengrund»

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Albert Wendt

wurde 1948 geboren. Er lebt seit seiner Kindheit in einem Dorf bei Leipzig. Nach dem Abitur arbeitete er als Heizer, Schlosser, Ringer, Traktorist, Armist, Kulturwissenschaftler, Bühnenarbeiter und Dichter. Er schreibt Aphorismen, Gedichte, Hörspiele, Kindergeschichten und Theaterstücke.

Bei Jungbrunnen sind folgende Titel von Albert Wendt lieferbar: Adrian und Lavendel (2004), Betti Kettenhemd (2008), Marta-Maria (2010), Der kleine Waldräuber (2012), Der kleine Fallschirmspringer (2013), Das tanzende Häuschen (2015) und Henrikes Dachgarten (2019).

ISBN 978-3-7026-5949-3

eISBN 978-3-7026-5950-9

1. Auflage 2020

Einbandgestaltung: b3k

© 2020 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Druck und Bindung: Buch Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

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Albert Wendt

Tok-Tok im Eulengrund

Das Geheimnis der Vogelfrau


Inhalt

1. Kapitel Rose-Rad-ab macht sich fein

2. Kapitel Ein Bär tappt in die Falle

3. Kapitel Drei Frauen im „Kopfstand“

4. Kapitel Wer schleicht da durch die Nacht?

5. Kapitel Das große Glüh

6. Kapitel Wasser und Brot

7. Kapitel Erste Berufserfahrungen als Kinderschreck

8. Kapitel Ich bekam Prügel und Kupferspecht ein Frühstück

9. Kapitel Angriff und Belagerung

10. Kapitel Hohe Schule der Niedertracht

11. Kapitel Nachtschicht mit Kupferspecht

12. Kapitel Ich lüge und werde belogen

13. Kapitel Ein Habicht stürzt ins Lerchennest

14. Kapitel Koboldjagd

15. Kapitel Aller Liebreiz dieser Erde

16. Kapitel Letzte Nacht

17. Kapitel Eine Entdeckung und eine Beförderung

18. Kapitel Ein Mondgesicht ist in Gefahr

19. Kapitel Der Überfall

20. Kapitel Glühwürmchen kämpft gegen Drachenfuß

21. Kapitel Es grünt so grün

22. Kapitel Miranda fliegt und stürzt ab

23. Kapitel Rückzug mit dicker Lippe

24. Kapitel Miranda und Tok-Tok

25. Kapitel Tok-Tok verschwindet spurlos und Rose füttert Sperlinge

26. Kapitel Zwei schüchterne Männer auf dem Mädchenstein

27. Kapitel In der Ferne ein Krokodil

1.Kapitel
Rose-Rad-ab macht sich fein

Der Eulengrund war eine Wildnis am Rande einer großen Stadt. Dort wucherte ein Dickicht über den Ruinen einer Eisenfabrik. Und mittendrin lag der Mädchenstein. Dieser Stein war eine Betonplatte, versteckt in einer Kuhle aus grobem Kies. Der Mädchenstein hieß Mädchenstein, weil kein Junge den Stein, das Kiesbecken und das Gestrüpp daneben betreten durfte.

An einem warmen Frühlingstag lagen zwei Mädchen, etwa 14 Jahre alt, winterblass und bezaubernd schön, auf dem Mädchenstein und sonnten sich. Die eine, etwas dünn, hieß Miranda, die andere, etwas rundlich, hieß Anna-Muriel und wurde Anna-Mu genannt. Neben ihnen spielte Bäumchen, Anna-Mus fünfjährige Schwester, mit Kieselsteinen.

„Keine Angst, Anna-Mu“, sagte Miranda, „die Jungen haben versprochen, uns nicht zu belauern. Das ist abgemacht, mit Schwur und Handschlag.“

„Elle Endstelle ist richtig mies, ganz der Vater, und Carlito ist auch nur ein Junge. Mimi-Randa, glaube mir, Jungs lassen sich so etwas nicht entgehen. Jungs müssen einfach herumschleichen und Mädchen, die sich nackt sonnen, ganz frech anglotzen.“

„Carlito ist so eine Art Königssohn“, sagte Miranda unverstellt schwärmend. „Er kann gar nicht unedel handeln. Er schleicht sich nicht an und äugt.“

„Da! Da!“, rief plötzlich das Bäumchen. „Der Schuft, er guckt!“

Die Mädchen kreischten, richteten sich auf, zogen die Beine an die Körper und umschlangen die Knie mit den Armen.

„Wer? Wo?“

„Der Kerl da am Himmel.“

„Ein Vogel, ein Milan“, sagte Miranda erleichtert.

„Blöde, kleine Kröte“, schimpfte Anna-Mu, „uns so zu erschrecken.“

„Aber der große Vogelkerl kreist schon so lange über uns, weil er gucken will.“

„Der Milan kreist“, erklärte Miranda, „weil es hier massenhaft Wildkaninchen gibt.“

Die Jungs, von denen auf dem Mädchenstein die Rede war, Carlito, der Königssohn, und sein Freund Elle Endstelle, hielten ihr Versprechen. Sie schlichen nicht durch den Ginster, um die nackten Mädchen zu belauern. Sie kletterten im Innern eines baufälligen Schornsteins an rostigen Eisenklammern hinauf zur Schornsteinöffnung. Das schwarze, rissige Bauwerk hieß Eulenschlot, weil abends manchmal Eulen auf ihm saßen. Der Eulenschlot ragte trotzig aus den Kletterpflanzen empor, die ihn schon zur Hälfte erobert hatten. Außen kletterten Geißblatt und wilde Rosen und innen kletterten Carlito und Elle Endstelle.

„Warte, Carlito, ich muss dir etwas ganz Wichtiges sagen.“

„Weiter, Elle, sag’s beim Klettern.“

„Ich habe gehört, dass Jungs manchmal ohnmächtig werden, wenn sie zum ersten Mal so etwas Schönes sehen.“

„Richtig bewusstlos, meinst du? Schwarz vor Augen, weggetreten?“

„Ja, Carlito, das kommt oft vor. Eigentlich fast immer. Man sieht das Schöne an den Mädchen, oben und unten, dann flimmert es und schon ist es dunkel im Kopf und man ist weggetreten.“

„Und Abflug in die Tiefe.“

„Und Peng! Und Matsch.“

„Ach, das ist es wert“, sagte Carlito, verharrte aber auf seiner Sprosse.

„Schon. Aber …“

„Na, dann weiter.“

„Aber geht’s nicht auch anders, ohne Peng und Matsch?“

„Gut. Ich gucke zuerst, ganz allein, und du bleibst dicht unter mir. Wenn ich ohnmächtig werde, dann fängst du mich auf.“

„Ohnmächtige sind ungeheuer schwer, fast so schwer wie Besoffene. Ich müsste mich dann entscheiden, stürzen wir beide ab, oder nur einer von uns. Carlito, mein Freund, ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dann vielleicht doch entscheiden werde, nicht mit dir zusammen abzustürzen.“

„Ach, Elle, wenn du diese Art Freund bist, dann … dann …“

„Dann ist es wohl besser, wir klettern wieder runter.“

„Jammerlappen.“

„Verzeih mir.“

„Nein.“

„Au, meine Hand. Nicht so schnell. Ich kann nun mal nicht gut klettern. Bin doch kein Affe.“

Carlito und Elle Endstelle krochen durch das Labyrinth der Züge und Feuerluken der schon lange erkalteten Heizanlage ins Freie. Verdreckt und verkühlt hockten die beiden in der Frühlingssonne. Verdreckt und verkühlt war auch Carlitos Laune.

„Schöne Pleite.“

„Pleite, aber am Leben.“

„Feiglingsleben ist halb tot.“

„Halb tot ist besser als ganz tot.“

„Nein.“

„Mach mich nicht fertig, Carlito. Ich habe Verzeihung gesagt.“

„Schon gut. Verziehen. Du bist nun mal, wie du bist.“

So entschlossen sich Carlito und Elle Endstelle schließlich, einen Aussichtsturm zu bauen mit einer Plattform, auf der zwei ohnmächtige Jungs bequem liegen konnten, ohne abzustürzen. Der Turm sollte oben auf dem „Klinkergebirge“ stehen, dem höchsten Trümmerhaufen des Geländes. Sie schleppten Paletten hinauf auf den Ziegelschutt. Diese stabilen Holzplatten lagen verstreut im Gelände. Aber – habt ihr schon mal eine erdfeuchte, angefaulte Palette auf einen Trümmerhaufen geschleppt? Niemand im Normalzustand kann so etwas schaffen. Carlitos und Elles Zustand machte es dennoch möglich.

„Die Kinder müssen vom Gelände verschwinden“, sagte nachdenklich eine alte Frau, die in dieser Wildnis vor einem noch recht gut erhaltenen Gemäuer saß und Sperlinge fütterte. Neben ihr standen zwei junge Frauen und reichten Brotstückchen.

„Wir sollten ihnen Angst machen, ehrwürdige Tok-Tok, vielleicht mit etwas Hexen-Spektakel“, schlug eine der jungen Frauen vor. Sie war zierlich und hatte eine Rose im Haar.

Die alte Frau, die mit ehrwürdige Tok-Tok angeredet wurde, schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, mein Kind, wir sollten uns nicht als Hexen verdächtig machen. Das ist nicht gut. Hexen kann man sich nähern, man kann sie sogar fassen, fesseln und wegschleppen. Feenzauber ist besser. Feen sind nicht recht greifbar, man wagt sich nicht zu nah heran. Feen kann man auch nicht quälen und verbrennen. Es gibt das Wort Hexenjagd, das Wort Feenjagd gibt es nicht.“

Die ehrwürdige Tok-Tok überlegte. „Nein, mein Kind, ich fürchte, jeder Hokuspokus, auch Feenwunder, weckt nur Neugierde und lockt eher noch mehr Kinder an. Wir brauchen etwas Plumpes, Einfaches, das Kinder abschreckt.“

Die Frauen schwiegen. Die Sperlinge lärmten. Die Bienen summten in den blühenden Sträuchern.

„Wir brauchen, ehrwürdige Tok-Tok, eine lebendige Vogelscheuche für Kinder, wir brauchen eine Kinderscheuche“, sagte die zierliche junge Frau.

„Das übernehme ich“, rief lebhaft die andere, eine sehr runde junge Frau. „Ich verjage sie mit dem Besen.“

„Nein, mein Glühwürmchen“, widersprach die alte Dame.

„Als Kinderschreck bist du viel zu schön. Wir brauchen etwas ganz Abscheuliches, etwas unsäglich Hässliches, wir brauchen eine Art von Ungeheuer.“

„Wir brauchen einen Mann“, sagte die Zierliche.

„Rose hat recht. Wir brauchen einen Berg von einem Mann“, sagte die alte, ehrwürdige Tok-Tok. „Wir brauchen ein Scheusal von einem Mann, einen zottigen Raufbold brauchen wir.“

„Und er muss grimmig brüllen und grunzen. So: Uuuu! Und sich dabei mit den Fäusten auf die Brust trommeln“, stimmte begeistert die runde junge Frau zu. Die Sperlinge flogen auf, die Frauen lachten, dann summten wieder Bienen und Gedanken, und die Spatzen kamen zurück.

„So etwas muss es doch geben“, sagte die Alte. „So ein fürchterliches Dings muss doch irgendwo aufzutreiben sein.“

„Du warst lange nicht in der Stadt, ehrwürdige Tok-Tok“, sagte die mit Rose angesprochene junge Frau. „Die Männer sind jetzt alle schmal, glatt und sehr nett. Männer zum Fürchten, die gibt’s nicht mehr. Ich, jedenfalls, ich kenne keinen.“

Die ehrwürdige Tok-Tok betrachtete liebevoll lächelnd die zierliche junge Frau.

„Rose, du Schöne, du kleine Schlange, du Lügnerin, da war ein Zögern, ein Flackern im Auge. Du hast in deinen weiblichen Tiefen so einen Unhold versteckt, willst ihn aber nicht hergeben. Rück ihn raus.“

„Nun ja, es ist lange her. Auf der Universität hatte ich mal einen schüchternen Verehrer. Er war Kraftsportler, ein Ringkämpfer, zwei Zentner, zwei Meter, stark behaart, nur auf dem Kopf nicht – eher kahl. Äußerlich passt er, innerlich nicht. Er ist ein Kindskopf. Er schreibt jetzt, so hörte ich, Kinderbücher.“

„Aber hässlich, wenigstens, ist er doch?“

„Naja, nicht ganz so hässlich wie Quasimodo, der Glöckner von Notre-Dame, aber doch stark mit Muskeln verbeult, auf den Beulen wuchert dunkles Kraut.“

„Ach“, sagte fröhlich die ehrwürdige Alte, „hole mir das Muskeldings erst einmal her. Ich schau es mir an. Geh, Rosalinde, mein Honigtöpfchen, und locke mir diesen Bären in die Falle.“

Tok! Tok! Der Stock der alten Dame stieß zweimal auf den Boden. Die Sperlinge flogen nicht auf, sie kannten das schon. Rose verschwand im Haus und machte sich stadtfein.

Habt ihr, Kinder, …

Verzeiht, liebe Jugendliche und Erwachsene, diese Anrede. Nehmt sie als Hochachtung. Ich finde keine höhere. Also, habt ihr, Kinder, schon einmal eine Frau betrachtet, die in der Wildnis wohnt und sich für die große Stadt fein macht? Himmel, was treibt die doch für einen Aufwand. Nun, das ist verständlich. In der Wildnis sehen nur ein paar Augen auf sie, in der Stadt aber sind es Tausende. Weil das hier eine Geschichte ist, in der viel von klugen und dummen Augen geredet wird, wollen wir unsere Augen staunend aufreißen und Rose bei ihren weiblichen Künsten beobachten.

Rose begann mit ihrem Prachthaar. Sie rieb sich sorgfältig Gänseschmalz hinein und drückte es auf der Kopfhaut fest. Sie frisierte das Ganze auf etwa vier Wochen ungewaschen. Die Blume im Haar aber, wie ein bitterer Spott, blieb. Dann kamen das Gesicht, der Hals und die Hände dran. Dort legte sie etwas Ruß auf. Viel Ruß legte sie unter den Augen auf. Sie krallte ihre Fingernägel in die feuchte Erde eines Blumentopfes und pustete auf die Fingerspitzen. Über die schönen Zähne wischte Rose etwas Heidelbeermarmelade.

Sie trat vor den Spiegel, kontrollierte gründlich ihre Arbeit und schickte zufrieden dem Spiegelbild einen Kuss. Dann übte sie noch einige passende Körperhaltungen, machte einen schiefen Hals und ließ die Schultern hängen. So zog die verwandelte Frau mit einem schäbigen Rollkoffer, dem ein Rad fehlte, los in die Stadt, um einen Bären in die Falle zu locken.

„Ich bin auch ein Honigtöpfchen“, maulte das runde Glühwürmchen. „Warum darf ich nicht losziehen und einen großen Rüpel anlocken?“

„Ach, mein liebes Glüh“, sagte Tok-Tok und streichelte die sehr große und sehr kindliche Hand der jungen Frau, „du bist kein Honigtöpfchen, du bist ein Tanklaster voll Honig. Du verschreckst die Männer. Die rennen um ihr Leben und verkriechen sich, wenn du sie frontal ansteuerst.“

„Aber ich könnte doch so einen Unhold unter den Tisch trinken, und dann, zack, über die Schulter werfen wie einen Kartoffelsack und hierher schleppen. Nie darf ich Spaß haben. Ich bin so unglü…, ich bin so unglü…, ich bin so unglücklich.“

Es klapperten die Bestecke, es klirrten die Gläser auf den Tischen vor dem „Gasthaus zur Endstelle“, es brummte das Geschäft. Der Wirt strahlte mit der milden Frühlingssonne um die Wette. Die Ankunft der Straßenbahn in der Wendeschleife war zu hören, ihr Halten und das Öffnen der Türen. Kurz darauf näherte sich aus der entgegengesetzten Richtung ein unangenehmer Kratz- und Schleifton. Der Wirt hob besorgt die Augenbrauen. Rosalinde schlurfte mit ihrem Rollkoffer an den Tischen vorbei zur wartenden Bahn. Bestecke, Gläser und Gespräche verstummten. Als die verstörende Erscheinung in der Bahn verschwunden war, belebte sich der Freisitz wieder.

„Was war denn das?“, murmelte ein Gast.

„Nur eine arme Irre“, beruhigte der Wirt die Gäste. „Rose-Rad-ab heißt sie und ist ganz harmlos. Sie wohnt seit ein paar Wochen im Eulengrund. Die Hochherzigen Brüder e.V. stecken dahinter, die haben das Dach von einem halb verfallenen Klinkerbau repariert. Sie nennen diese Bruchbude nun Sozialstation für unbetreutes Wohnen. Unbetreut? Dass ich nicht lache. Pflegekräfte und Wachpersonal wollen die Geizhälse sparen. Bis jetzt hausen nur drei Frauen dort.“

„Keine schlechte Sache“, mischte sich ein Gast vom Nachbartisch ein. „Ein Sozialmensch kam in die Siedlung, ging von Haus zu Haus und hat alles erklärt. Der Verein, also diese Hochherzigen Brüder oder so ähnlich, haben auf dem Gelände ein Obdach für Menschen in Not eingerichtet. Die sollen dort leben dürfen wie sie wollen und sollen dort Gartenwirtschaft treiben und Tiere halten. Und wir, die Nachbarn, sollen sie in Ruhe lassen. Das sind ganz normale obdachlose Frauen.“

Der Wirt grinste breit.

„Ja, das sind ganz normale Schnapsdrosseln, wenn ihr mich fragt. Massenhaft liegen dort Flaschen im Gras und Schlimmeres. Ich sehe nicht hin, geht mich nichts an. Aber hier oben sehe ich hin, hier gibt’s keine Bettelei, kein Vollquatschen der Gäste, kein Wühlen in den Papierkörben. Bei allem Verständnis, mein Geschäft soll nicht leiden unter dieser Nachbarschaft.“

Er schlenderte zwischen den Tischen ins Innere der Wirtschaft. „He, Kupferspecht, ich lade dich ein.“

Der Kupferspecht, durch und durch ein Gauner, stand an der Theke. Er nannte sich Buntmetallhändler, schlich nachts herum und klaute Blei- und Kupferrohre, zerschnitt sogar lebendige Kabel. Der Kupferspecht kannte den Eulengrund wie seine Westentasche. Wie ein Schatzgräber durchwühlte er täglich und nächtlich das Gelände der alten Eisenwerke.

„Die drei Frauen leben vorn im alten Betriebsbahnhof“, flüsterte er dem Wirt zu, der zwei Gläser füllte. „Sie kochen und schlafen dort. Dahinter steht auf vier Säulen das Schaltwerk, ein hoher Kasten mit vielen Fenstern. Eine schmale Eisentreppe zwischen den Säulen führt nach oben. Das scheint ihr Wohnzimmer zu sein. Dort verbringen sie die halbe Nacht. Die Fenster sind dicht mit Lappen verhängt. Dort werden sie wohl saufen, naschen und fernsehen. An den Lappen flackert immer Fernsehlicht.“

„Hast du dich mal innen umgesehen?“

„Nein. Man kommt nicht nah heran.“

„Hält das dicke Nilpferd mit ihrem Besen Wache?“

„Nein, Cora X-Bein hält Wache.“

„Cora X-Bein? Ist das die Alte, die mit dem Zauberstock?“

„Nein, die Alte mit dem Knüppel heißt Tok-Tok, sicher weil sie so Tok! Tok! auf die Erde klopft. Nein, nein, Cora X-Bein ist ein Untier, sie ist Das wirklich Böse unter der Sonne. Das ist eine Kampfziege, wachsam und gefährlich wie ein Hofhund. Dieses Ziegenvieh ist schlau, versteckt sich oder stellt sich tot und greift dann tückisch von hinten an. Das X-Bein wohnt in den Mauerresten der zerfallenen Werkskantine und schläft dort im alten Backofen. Da kommt man nicht unbemerkt vorbei. Ja, und diese gehörnte Hexe hätte mich gestern Nacht fast erwischt.“

„Eine Ziege, die in einem Backofen wohnt“, sagte der Gastwirt lachend, „das hat was.“

„Ja, das hat was Teuflisches“, sagte der Kupferspecht.

Dann wurde der Wirt ernst und sagte leise: „Das Lumpengesindel muss verschwinden.“ Er schenkte dem Kupferspecht ein. „Dabei bin ich nicht knausrig.“

2.Kapitel
Ein Bär tappt in die Falle

Man darf zwischen fremden Leuten nicht einfach umfallen, sich auf die Straße legen und heulen. Das macht man nicht. Man macht es schon gar nicht, wenn Kinder dabei sind. Sind Kinder dabei, muss man mit einigem Anstand verzweifeln. Ich hielt mich also aufrecht, als mich der Schlag traf, den man Schicksalsschlag nennt. Ich fiel nicht um und heulte auch nicht. Ich taumelte über die Straße. Ich lehnte mich mit der einen Hand an die Haustür und suchte mit der anderen nach dem Schlüssel. Ich hätte wohl lange so gestanden, wenn nicht ein Nachbar die Tür geöffnet hätte. Ich schleppte mich die Treppen hinauf. In meiner Wohnung warf ich mich auf das Bett und träumte mich zehn Jahre zurück.

Ich träumte von einer Mädchenhorde, und mittendrin in diesem quietschenden und lachenden Knäuel war sie, Rosalinde, Rose genannt, das schönste und klügste Mädchen der Universität. Wenn sie da war, war es etwas heller im Hörsaal. Es leuchteten die Augen der Studenten und Lehrer, vom schüchternen Erstsemester bis hin zum alten Professor. In Rosalindes Nähe reckten sich alle ein wenig in die Höhe und waren stolz, weil sie ja irgendwie zu der gleichen Art Lebewesen gehörten wie diese wunderbare junge Frau.

Eines Tages verschwand Rosalinde aus der Universität, aus der Stadt und, wie es schien, aus der Welt. Studenten und Professoren schrumpften um einige Zentimeter.

„Verlassen, wie der Saufnapf eines gestorbenen Wellensittichs“, murmelte ein Lichtenberg-Kenner. Doch nach und nach trösteten wir uns. Wir waren sicher, dass Rosalinde wieder auftauchen würde, ganz oben, in der höchsten Liga. Sie würde als Sonderbotschafterin der UNO Kriege verhindern, sie würde als Ärztin Seuchen besiegen oder sie würde auf der Liste der Nobelpreisträger erscheinen. Nein, so ein Glücksfall Mensch kann nicht einfach verschwinden. Und nun, etwa zehn Jahre später, traf ich Rosalinde, den Glücksfall Mensch, meine unerreichbare Studentenliebe. Ich traf sie an der Haltestelle vor meiner Wohnung. Sie bemerkte mich nicht, sie war beschäftigt. Sie wühlte in einem Papierkorb.

Sie holte angebissene Brötchen heraus. Sie roch daran und pustete Schmutz und Zigarettenstummel von den Brotresten herunter. Sie stopfte ihre Beute in einen speckigen Rollkoffer, den sie hinter sich her zerrte. Dem Rollkoffer fehlte ein Rad und die Achse kreischte über das Pflaster. Dieses Kreischen schrillte in meinen Ohren, als ich auf dem Bett lag.

„Ich muss sie retten“, murmelte ich endlich nach ein paar Stunden und rappelte mich auf. „Ich muss sie zu mir nehmen, ins Bad führen, die Haare waschen, neu einkleiden, zum Doktor bringen … Vielleicht ist ihr ein Unglück zugestoßen oder eine Suchterkrankung oder eine Liebeskatastrophe. So was kann man reparieren. Ich bin doch kein Schwächling, ich schaffe das.

Zuerst aber muss ich sie finden. Ich werde die Stadt durchstreifen, in die finstersten Winkel kriechen, unter jeder Brücke nachsehen, jede speckige Steppdecke anheben und Rosalinde ohne Ekel auf den Arm nehmen und nach Hause tragen.“

Entschlossen trat ich aus dem Haus. Neben der Haustür lehnte ein alter Mann an der Wand. Die Kapuze einer Sportjacke, wie sie junge Leute tragen, hatte er tief über Stirn und Augen gezogen, und unter dem Arm trug er ein großes, rundes Brot.

„Sie wartet“, murmelte der Alte sanft vorwurfsvoll.

„Wer wartet?“, stotterte ich.

„Rosalinde, die du suchst, sie heißt jetzt Rose-Rad-ab“, antwortete ruhig der Alte. „Ich führe dich zu ihr.“ Dann schwieg der Alte und lief vor mir her zur Haltestelle.

„Du hast leere Hände“, sagte der Alte leise. „Das ist nicht gut. Ich habe niemals leere Hände, ich trage immer ein Brot bei mir, wenn ich zu Bedürftigen gehe.“

Die Straßenbahn kam. Wir stiegen ein. Wir fuhren lange. Wir fuhren aus der Stadt heraus. Wir fuhren bis zur Endstelle. Der Alte, immer noch schweigend, führte mich an einem Gasthof vorbei auf ein mächtiges Eisentor zu. Es war ein Fabriktor aus dem vorigen Jahrhundert, vom Alter verbogen und mit rostigen Ketten verschlossen. „Eisenwerke Pross und Co“, stand oben, in gut erhaltenen Buchstaben, handgeschmiedet.

Der Alte blieb stehen.

„Stillgelegt! Was für ein gutes, genaues Wort. Stillgelegt!“

Er schwieg, stand da und lauschte.

„Es ist sehr, sehr still. Eine stille Fabrik.“

„Ja“, sagte ich etwas verlegen.

„Hier war mal viel Krach“, sagte der Alte.

„Ja, das haben Eisenwerke so an sich“, sagte ich, schon etwas ungeduldig.

„Jetzt ist es still“, sagte der Alte und bewegte sich immer noch nicht. „Die Fabrik produziert in aller Stille weiter.“

„Aha!“

„Wird wohl Eulen produzieren, denn Eulengrund nennen die Leute nun die stille Fabrik.“

„Und Rosalinde?“, versuchte ich, den Alten weiter zu drängen.

„Ja, ja, der alte Eisenkönig, dieser Pross, der war etwas wunderlich. Er trug einen öligen Zahnkranz als Krone.“

Der Alte sah unter seinem Kapuzenrand spöttisch hervor. „Jeder hat sein Zeichen. Pross hatte seinen Zahnkranz, ich habe mein Brot und du, Poet, lässt ein Buch aus deiner Jackentasche ragen.“

Der Alte kannte also meinen Beruf. Und mit dem Berufszeichen hatte er recht, ich trug stets ein dickes Notizbuch bei mir.

„Und Rosalinde?“, drängte ich wieder.

„Rosalinde? Ja, Rosalinde hat ein Rad ab. Darum heißt sie Rose-Rad-ab.“

Der Alte mit der Mönchskapuze zeigte auf die rostigen Gitterstäbe des Tores. Darauf waren Reste verblichener Warnschilder.

Verboten, Einsturzgefahr, Privatgelände …

Ein nagelneues Schild überdeckte die alten Schilder:

Sozialprojekt – Hochherzige Brüder e.V.

„Dort wohnt sie“, sagte er. „Hier entlang!“

Neben dem Tor führte ein Trampelpfad über einen niedergetretenen Maschendraht in die Wildnis. Neben dem Pfad lagen leere Schnapsflaschen, glitzernde Verpackungen von Naschzeug, Fetzen bunter Zeitungen und widerliche Zigarettenschachteln.

Goldmarie sprang in den Brunnen und landete auf einer himmlischen Wiese, Alice fiel in ein Kaninchenloch und schwebte hinab in ein Wunderland, Robinson Crusoe wurde auf eine einsame Insel gespült und blieb dort achtundzwanzig Jahre, ich schritt durch Müll über zerfetzten Maschendraht in einen Dornenwald.

Der Alte, das Gesicht unter der Kapuze verborgen, mit seinem Brot unterm Arm, führte mich auf einem mit Kraut bewachsenen Weg. Unter der kargen Erdschicht spürte ich das Pflaster einer Straße. Wir kamen zu den Resten eines kleinen Bahnhofs. Das Bahnhäuschen war ein massiver Bau aus geschwärzten Klinkern. Die Schienen waren mit Bauschutt eingeebnet. Vor dem Bahnhaus fiel eine behagliche Bank auf, mit einem reinlichen Platz davor.

„Frauenhaus!“, sagte der Kapuzenmann. „Betreten verboten.“

Am Bahnhäuschen klebte auf vier Stahlsäulen ein Kasten mit Fenstern auf allen vier Seiten.

„Ehemaliges Schaltwerk“, sagte der Alte wie ein Reiseführer.

Die Fensterscheiben des Schaltwerkes waren vom Alter stumpf und milchig und dicht mit Lumpen verhangen.

„Betreten sehr streng verboten.“

Sehr streng also! Ich sah noch einmal hoch und entdeckte ein bläuliches Flackern an den Lappen. Es dämmerte schon. Ich konnte die Anlage neben dem Bahnhof nur undeutlich erkennen. Ich sah einige Mauerreste von Gebäuden, innerhalb dieser Quadrate waren Gärten angelegt.

„Das war mal die Buchhaltung“, erklärte der Alte, „jetzt wächst hier Gemüse. Viel ist noch nicht da, nur Salat, Kresse und Radieschen. Betreten erlaubt.“

Daneben waren die Mauern mit Draht und Brettern erhöht. Es schien ein Tiergehege zu sein.

„Das war mal die Werkskantine, jetzt wohnt hier eine Ziege. Betreten verboten, Lebensgefahr!“

Der Alte führte mich am Bahnhof vorbei, einen sehr schmalen, heftig gewundenen Pfad entlang. Dieser enge Gang mit seinen dichten Seitenwänden aus Dornengestrüpp, Schrott und Steinen erinnerte an ein Labyrinth, aus dem man nicht entweichen konnte. Etwa hundert Schritte vom alten Bahnhof entfernt, öffnete sich die Enge zu einer erfreulichen Lichtung. Dahinter stand, wie ein Waldhaus aus alten Zeiten, eine schiefe Blechhütte.

Auf die Flügeltüren am Giebel war grob „Zum Kopfstand“ gepinselt. Darunter konnte man noch einige Buchstaben aus dem Wort „Bauarbeiterhotel“ entziffern. Es gab keine Fenster. Zur Belüftung waren in die Seitenwände fünf handgroße Löcher ins Blech geschnitten. Aus den Löchern, die an Bullaugen erinnerten, kam warmes Licht. Schilfgras, Wilde Möhre und Rainfarn wuchsen an der Blechwand. In der Abenddämmerung sah die Hütte wie ein Schiff aus, das in grünen Wellen schaukelt. Der rechte Türflügel war in die Erde gesunken, der linke war einen Spalt offen. Das gleiche warme Licht der Bullaugen schimmerte durch den Spalt.

„Tritt ein, du wirst erwartet.“

€13,99