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Die Mohicaner von Paris

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XXIII
Die Moschiten

Es gibt in Indien, besonders in Korrah, ein häßliches Insekt, eine Art von Mücke genannt Moschit, dessen Stich höchst gefährlich ist; es begnügt sich nicht damit, daß es das Blut aussaugt wie der Zinzaro, oder mit einem Stachel sticht wie die Wespe; es legt in das Loch, welches es seinem Opfer ins Fleisch gemacht hat, ein kleines Ei, das in drei Tagen auskriecht, und einen Wurm gebiert, der wiederum eine Anzahl anderer Würmer erzeugt, die Euch bei lebendigem Leibe verzehren.

Meistens stirbt man hieran in zwölf bis dreizehn Tagen.

Um diesem Unfall zuvorzukommen, muß man, sobald man sich gestochen fühlt auf der mit einem Bistouri losgestrammten Wunde ein Blatt Kautabak ausbreiten.

Es gibt rings um uns her, in Europa, in Frankreich, in Paris, allerdings unter einer andern Form, aber noch gefährlichere Insekten in der Art der Maschiten von Korrah: das sind die Nachbarn.

Gefährlicher haben wir gesagt, denn man weiß, welchen Balsam man auf die von der Mücke gemachte Wunde anzuwenden hat, während die von den Nachbarn gemachten Wunden tödtlich sind.

Der Nachbar ist ohne Mitleid. ohne Gemüth, ohne Herz; er tritt bei Euch durch die Thüre ein, wenn Ihr die Thüre offen laßt; durch das Fenster, wenn Ihr das Fenster offen laßt; durch das Schlusseilloch, wenn Ihr das Fenster schließt. Er stiehlt Euch Euer Geheimnis mit derselben Frechheit, mit der Euch der abgefeimteste Dieb in der Nacht Euer Geld stiehlt; dabei findet in dessen ein Unterschied zwischen den Nachbarn und den Dieben zum Vortheil des Diebes statt: der Dieb setzt wenigstens sein Leben aufs Spiel, während der Nachbar das Leben der Andern aufs Spiel setzt.

Man würde sich mit einem Seufzer begnügen und sich in diese Geißel fügen, wie sich Indien in die Cholera fügt, wie sich Aegypten in die Pest fügt, wie die Engländer sich in den Nebel fügen, wenn in der Naturgeschichte nachgewiesen wäre, das Gebrechen, das man die Nachbarschaft nennt, klebe der ganzen Gattung an; aber keines Weges; es ist dem privilegierten Lande, das man Frankreich nennt, eigenthümlich; überall, in Deutschland, in England, in Spanien, hat man die Achtung von den Andern, weil man die Selbstachtung hat.

In unserem Frankreich allein, in sein Zimmer zurückgezogen, bei verschlossener Thüre und verschlossenen Läden fühlt man um sich her das Auge und das Ohr des Nachbars.

Nicht als wäre er Euch gerade gehässig, nein – dann würde der Strafcodex eine Rechtfertigung für ihn zulassen; oft sogar, wenn er Euch Böses anthut, geschieht es unwillkürlich, obschon er es immer thut; nein: er will ganz einfach sehen, was bei Euch vorgeht; Ihr seid ihm Rechenschaft schuldig über das, was in Eurem Hause gesagt wird, geschieht; Ihr seid sein natürlicher Schuldner; er ist Gläubiger Eures Glückes.

Außerdem sind alle diese Leute redlich, wenn Ihr wollt; sie beobachten die im Bulletin aufgeführten Gesetze; sie unterwerfen sich streng allen Polizeiverordnungen; sie bezahlen pünktlich ihre Steuern, fegen die Schwelle ihrer Bude im Winter, besprengen das Vordertheil ihres Magazins im Sommer, halten ein neues Brunnenfell für den Brandfall bereit, gehen am Sonntag in die Kirche, am Montag ins Theater, beziehen einmal wöchentlich die Wache, kurz, sie führen sich auf wie Jedermann, vergessen jedoch, daß die Discretion eine erhabene Tugend ist, und die Neugierde natürlich ein abscheuliches Laster.

Wir verzweifeln auch gar nicht, binnen einigen Jahren, – das fängt schon an, – die intelligente Bevölkerung von Paris diese Kasernen, welche man die Häuser von vier Stockwerken nennt, verlassen und mit Hilfe der Eisenbahnen sich aus einen Rayon von zehn Stunden um Paris in abgesonderte Wohnungen verbannen zu sehen, wo die Schwächen der Einen verborgen und die Tugenden der Andern vor dem Verdachte geschützt sein werden.

Das Wort, das der Straßenjunge ausgesprochen: der Liebhaber der Kleinen, war übrigens nicht das erste dieser Art, von dem die Ohren von Justin betroffen worden.

Mehr als einmal, wenn er mit dem Mädchen am Arme durch die Vorstadt ging, hatte er in den Augen der Nachbarn spöttische Blicke und auf ihren Lippen zweideutiges Lächeln wahrgenommen.

Dieses schöne Mädchen, am Arme des jungen Mannes, das mit ihm ausging, während er weder der Gatte, noch der Bruder, war das nicht etwas, um darein zu beißen und hieß das nicht die am wenigsten scharfen Zähne der Vorstadt versuchen?

Es ist wahr, man hatte Mina als Kind gekannt; doch plötzlich vergessend, daß man sie nach und nach hatte heranwachsen sehen, wollte man sie nicht für das nehmen, was sie war, nämlich für ein großes, heirathsfähiges Frauenzimmer, das aber nicht heirathete.

Man suchte auf jede Weise die Ursache dieses doppelten Cölibats zu finden; man vergaß, daß keine Zeit verloren war, da Mina kaum fünfzehn und ein halbes Jahr zählte; man dachte, es stecke ein Geheimnis dahinter; die Neugierigsten ließen sich wie diebische Vögel auf die Familie nieder, um ihr ihr Geheimnis zu stehlen; sie wurden sanft zurückgetrieben; man war auf Muthmaßungen reduziert; von Muthmaßungen ging man zu den Geschwätzen über und von den Geschwätzen zum Geschrei. Endlich mischte sich die Verleumdung darein, klopfte an die Schwelle des friedlichen Hauses, stieg von Stufe zu Stufe hinauf, und erstürmte es völlig.

Das Leben war so nicht mehr möglich. Justin hatte den Gedanken, auszuziehen; doch das Quartier verlassen hieß Gefahr laufen, ein schlimmeres zu finden, hieß der Bosheit der Nachbarn Recht geben; und dann, im Grunde war es leicht, von diesem Hause zu scheiden, wo man zugleich so glücklich und so elend gelebt hatte? war es nicht ein Theil von sich selbst, den man so fern von sich werfen sollte? war nicht das ganze Leben dieser vier Personen in unvertilgbaren Charakteren an die Wände dieser zwei Stockwerke geschrieben?

Nein. das war mehr als schwierig, das war unmöglich!

Man verzichtete also darauf, das Haus zu verlassen; da man jedoch einen Entschluß fassen mußte, da man nicht mit einem Rasirmesserschnitte alle schlimme Zungen des Quartiers abschneiden konnte, so beschloß man, den alten Professor um Rath zu fragen.

Dazu griff man übrigens immer in verzweifelten Lagen

Herr Müller kam zur gewöhnlichen Stunde; man ließ das Mädchen in der Wohnung oben: die Mutter ging für dies Mal in das Zimmer ihres Sohnes hinab, und als alle Vier, Herr Müller die Mutter, die Schwester und der junge Mann, versammelt waren, hielt man einen Familienrath.

Der Rath des alten Professors war ganz einfach.

»Laßt Morgen die Kinder als Verlobte aufbieten, und verheirathet sie in vierzehn Tagen.«

Justin gab einen Freudenschrei von sich.

Dieser Rath von Müller entsprach dem Verlangen seines Herzens.

Eine Heirath brachte in der That sogleich jeden Verdacht zum Schweigen. Man hatte also nicht zu schwanken, es war unnütz, ein anderes Mittel zu suchen; dieses war das wahre, das gute, das einzige.

Man würde diesen Beschluß gefaßt haben, hätte die Mutter nicht die Hand ausgestreckt und gesagt.

»Einen Augenblick Geduld! ich habe nur eine Einwendung zu machen, doch sie ist ernst.«

»Welche?« fragte Justin erbleichend.

»Es gibt keine Einwendung,« sprach der alte Professor.

»Doch. Herr Müller,« erwiderte Madame Corby, »es gibt eine.«

»Welches Lassen Sie hören.«

»Sprechen Sie, meine Mutter, murmelte Justin mit zitternder Stimme.

»Man kennt die Eltern von Mina nicht.«

»Ein Grund mehr, daß sie über sich selbst verfügt, da sie nur von sich allein abhängt, versetzte der alte Professor.

»Und dann,« wagte schüchtern Céleste zu bemerken, die Eltern von Mina haben auf sie von dem Tage an verzichtet, wo sie aufhörten, die Rente zu bezahlen, die sie der Mutter Boivin zukommen zu lassen sich verpflichtet hatten.«

Diese fast mit leiser Stimme, durch einen schüchternen Mund, gemachte Bemerkung schien indessen Justin vortrefflich.

»Ah! Ja!« rief er, »Céleste hat Recht.«

»Ich glaube wohl, daß sie Recht hat,« sagte der Professor.«

»Sie könnte in der That nicht Unrecht haben, erwiderte Madame Corby, und ich will einen Mittelweg vorschlagen, der hoffentlich Jedermann befriedigen wird.«

»Sprechen Sie, meine Mutter,« rief Justin; »wir wissen Alle, daß Sie die auf hie Erde herabgestiegene Weisheit sind.«

»Die Gesetze erlauben erst mit fünfzehn Jahren und fünf Monaten zu heirathen; heirathet Ihr sogleich, so werdet Ihr das Ansehen haben, als hättet Ihr nur auf den Augenblick wo das Gesetz die Heirath erlaubte, gewartet und von seiner Wohlthat mit einer Geschwindigkeit Gebrauch gemacht, deren Intention schlecht ausgelegt werden kann.«

»Das ist wahr, Justin.« sagte der Professor.

Justin seufzte.

Es ließ sich in der That nichts hierauf erwidern.

»In sieben Monaten, am nächsten 5. Februar wird Mina sechzehn Jahre alt; warten wir so lange. Sechzehn Jahre, das ist beinahe das Alter der Vernunft für eine Frau; es ist wichtig. mein Sohn. daß man erfahre, Mina habe sich gegeben: heirathest Da sie heute, so hättest Du das Ansehen, Du habest sie genommen.«

»Und dann?« fragte Justin ganz zitternd vor Freude.

»Dann, da der Pfarrer der Bouville zur Stunde den Vormund von Mina vertritt, wirst Du Dir zum Voraus die Einwilligung des würdigen Priesters verschaffen, und am nächsten 6. Februar wird Mina Deine Frau sein«.

»Oh! meine Mutter! meine gute Mutter!« rief Justin. Und er fiel vor seiner Mutter auf die Kniee, drückte sie an sein Herz und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

»Aber mittlerweile?« fragte Céleste.

»Ja,« sagte der Professor, »mittlerweile werden die Schwätzereien, die Verleumdungen ihren Fortgang nehmen.«

»Man müßte auch daran bedacht sein, Mina während der sieben Monate irgendwohin zu bringen.«

»Irgendwohin, meine Mutter? Wohin sollen wir sie denn bringen, die Arme?«

 

»In ein Pensionat . . . gleichviel, wohin, wenn sie nur nicht hier bleibt.«

»Ich kenne Niemand, dem ich Mina anzuvertrauen mich entschließen würde!« rief Justin.

»Warten Sie doch, warten Sie doch.« versetzte der gute Professor, »ich habe, was Sie brauchen.«

»Wahrhaftig, mein lieber Herr Müller?« fragte Madame Corby, indem sie mehr der Stimme des alten Professors, als dem alten Professor selbst, den sie nicht sah, die Hand reichte.

»Was haben Sie im Blicke und man wollen Sie uns vorschlagen?« fragte Justin mit dem Tone entschiedener Ungeduld.

»Was ich vorschlagen will, mein lieber Justin? Das Einzige, bei Gott! was unter den schwierigen Umständen, in denen wir uns befinden, vorzuschlagen ist. Ich habe in Versailles eine alte Freundin von dreißig Jahren her, die einzige Frau, dies ich vielleicht geliebt haben würde,« fügte der gute Professor mit einem Seufzer bei, »wenn ich Zeit gehabt hätte; sie hält gerade ein Pensionat von Mädchen: Mina wird diese sieben Monate bei ihr bleiben, und einmal in der Woche . . . nun, einmal in der Woche wirst Du ihr Deinen Besuch im Sprachzimmer machen . . . Steht Dir das an, mein Junge?«

»Ei! das muß mir wohl anstehen,« erwiderte Justin.

»Potz Tausend! wie schwierig Du wirst! vor sechs Monaten hättest Du das mit schönen Kußhänden angenommen.«

»Und ich nehme es noch mit Dank an, mein guter, theurer Freund,« sprach Justin, indem er Müller beide Hände reichte.

»Und Sie. was sagen Sie, liebe Madame Corby?« fragte der Professor.

»Ich sage, daß Sie schon morgen mit Justin nach Versailles gehen müssen, lieber Herr Müller.«

Hiernach trennte man sich, indem man sich Rendezvous in der Rue de Rivoli bei der Station gab, wo man zu jener Zeit die Gondoles7 nahm; das waren die einzigen Wagen, welche mit den Coucous8 der Place Louis XV. den Transport der Reisenden von Paris nach Versailles besorgten.

Nach einer Unterredung von einer Viertelstunde mit der Vorsteherin des Pensionats bemerkte der junge Mann daß Müller die soliden Tugenden seiner alten Freundin durchaus nicht übertrieben habe.

Als sie erfuhr, welches Interesse Müller für ihre zukünftige Pensionaire hegte, erbot sie sich Mina für den Preis ihrer Kost zu nehmen, und man kam überein, sie am nächsten Sonntag zu bringen.

Die zwei Freunde verließen das Pensionat entzückt über die Vorsteherin und kehrten zu Fuß durch den Wald von Versailles zurück, der für sie von unaussprechlichen Erinnerungen erfüllt war.

Wir sagten, man habe von diesem Familiencomplott nichts gegen Mina merken lassen, die Arme wußte also nicht das erste Wort davon. Sie hatte wohl einiges Geflüster gehört; sie hatte wohl die Einen und die Andern sich gewisse Blicke zuwerfen sehen, deren Ausdruck sie nicht ganz verstand, sie fühlte unbestimmt, daß ein Geheimnis sie umschwebte; sie witterte es, so zu sagen, jedoch ohne die Spuren davon finden zu können.

Diese Kunde traf sie also eines Morgens wie ein Donnerstreich. Sie hatte nie gedacht, ihr Leben könnte, sich ändern,. so sehr hatte sie sich aus diesem Leben eine süße Gewohnheit gemacht; wie die Mauer des Hofes ihr ganzer Horizont war, so war ihr Leben in der Familie von Justin ihre ganze Zukunft; es war ihr nie in den Sinn gekommen, sie könnte eine andere Zukunft oder einen andern Horizont haben; sie verschloß freiwillig ihre Augen ihrem Geschicke, ohne etwas Anderes zu denken, wenn die Blätter fielen, als der Winter sei nahe, ohne etwas Anderes zu sehen, wenn die Blätter wiederkamen, als die Rückkehr des Frühlings.

Eines Tags hatte sie die Mutter gefragt:

»Was wird nach meinem Tode aus Dir werden mein Kind?«

»Ich werde Ihnen folgen,. hatte Mina lächelnd geantwortet; »müssen Sie nicht Jemand haben, der Sie im Himmel bedient wie auf der Erde?«

»Im Himmel werde ich alle Engel des Paradieses um mich haben.«

»Das ist wahr; doch sie haben nicht, rote ich fünf Jahre mit Ihnen gelebt.«

Und wie es ihr unmöglich geschienen, die arme Blinde zu verlassen, so schien es ihr unmöglich, je das Haus zu verlassen. Mit tiefem Kummer nahm sie also die Kunde dieser plötzlichen Abreise auf; man erklärte ihr Anfangs die Gründe davon nur sehr unvollkommen; sie war so rein, daß sie nicht zu begreifen vermochte, man könne von ihren Ausgängen übel reden, sie war so keusch, daß sie nicht wußte, welche Folgerungen man aus ihrem Zusammenwohnen mit einem jungen Manne ziehen konnte.

Sie würde unschuldig in seinem Zimmer geschlafen haben, ohne daß es ihr eingefallen wäre, es konnte Jemand etwas daran zu mißbilligen finden.

Man mochte ihr immerhin zu verstehen geben, es sei ein Gebrauch, der Gesetzeskraft habe, daß ein sechzehnjähriges Mädchen nicht in demselben Hause mit einem jungen Manne wohnen dürfe; trotz der Ansicht der Mutter und der Schwester, trotz der Meinung selbst des Professors, wollte sie es nicht glauben, und sie nahm nie das seltsame Princip an, man könnte sich darüber aufhalten, daß man Justin mit ihr wohnen sah, während man sich nicht darüber aufhielt, daß er mit Céleste wohnte.

Mit beklommenem Herzen und die Augen voller Thränen sollte sie also dieses traurige Haus verlassen, das für sie das Paradies ihres Glückes geworden war.

XXIV
Das Pensionat

Am ersten Donnerstag des Monats Juli im Jahre 1826 führte sie Justin in Begleitung seines alten Lehrers nach Versailles.

Den ganzen Wegs entlang that Mina den Mund nicht auf; sie war bleich und düster und schaute kaum umher.

Einen Augenblick, da er sie so traurig sah, fühlte Justin sein Herz schwach werden. und er gedachte sie, allem Weibergeklatsche des Quartiers trotzend, nach Hause zurückzuführen.

Er theilte seine Absicht Herrn Müller mit.

Aber mochte nun der alte Professor einsehen, welches egoistische Interesse unwillkürlich die Worte von Justin dictirte, oder mochte er minder interessiert bei der Frage und mit seinem freieren Gewissen, um zu handeln, begabt, bis zum Ende zu gehen entschlossen sein, Herr Müller hielt fest und warf Justin seine gefährliche Schwäche vor.

Man kam nach dem Pensionat.

Der Unschuldige, den man zum Schaffot führt, hat kein so bestürztes Gesicht, wenn er auf den Richtplatz kommt und das Werkzeug der Todesstrafe sieht, wie es das der armen Mina war, als sie die großen steinernen Mauern, welche die Pension umgaben, und das eiserne Gitter sah, durch das man eintrat.

Diese Martern waren doch mit Epheu bedeckt und von Waldreben überragt; die Spieße dieses Gitters waren doch vergoldet.

Frau von Staël sehnte sich, vor dem Genfer See, nach ihrer Gasse in in der Rue Saint-Honoré zurück.

Die arme Mina hätte sich von einem Palaste nach dem traurigen Hause des Faubourg Saint-Jacques zurückgesehnt.

Sie schaute ihre beiden Reisegefährten mit ihren in Thränen schwimmenden Augen an.

Mein Gott! welch ein schmerzlicher Blick! Die zwei Männer mußten wahrhaftig Herzen von Stein gemacht wie die Mauern dieses Pensionats haben, daß sie nicht vor diesen schönen flehenden Augen schmolzen.

Sie schaute sie so Beide lange, von Einem zum Andern übergehend, an, ohne in diesem äußersten Augenblick zu wissen, an wen sie sich wenden sollte, an den, welchen sie als ihren Vater betrachtete, oder an den, welchen sie ihren Freund nannte.

Justin wäre bald schwach geworden; er hatte die Augen abgewandt, nur die Wunde zu vermeiden, die ihm dieser Blick ins Herz bohrte,.

Müller nahen seine Hand und drückte sie kräftig; dieser Druck der Hand bedeutete:

»Muth, Junge! ich habe auch große Lust, zu weinen, und zum Beweise dient, daß ich ersticke, doch Du siehst, ich bewältige mich. Muth! wenn wir in ihrer Gegenwart weich werden, sind wir verloren! Suchen wir also stark zu bleiben; wir werden mit einander bei der Heimkehr weinen!«

Das sind die tausend Dinge, welche der einfache Händedruck des alten Professors bezeichnete.

Man führte Mina zur Vorsteherin der Pension; diese empfing sie in ihren Armen und küßte sie mehr wie eine Tochter, als wie eine Kostschülerin.

Ach! dieser mütterliche Kuß verdüsterte Mina, statt sie aufzuheitern.

So war also die Welt! eine Fremde hatte also das Recht, Euch zu küssen mir eine Mutter? Sie erinnerte sich ihres ersten Erwachens im Zimmer der Schwester: die Tapete bei der Vorsteherin der Pension war ungefähr der im Zimmer von Céleste ähnlich.

Alle Erinnerungen ihrer ersten Stunden der Einsamkeit kehrten in ihren Geist zurück; sie fühlte sich mehr verlassen und allein als je.

Justin küßte sie auf die Stirne, der alte Professor küßte sie auf beide Wangen, und fünf Minuten nachher hörte die arme Mina die Thüre des Pensionats mir der Herzbeklemmung des Gefangenen schließen, der die Riegel seines Kerkers hinter sich verschieben hört.

Die Vorsteherin der Pension ließ sie zu sich sitzen, nahm ihre Hände und suchte sie, auf dem Gesichte des Mädchens die Spuren eines riefen Kummers mehr errathend als lesend, zu trösten.

Doch statt sie zu beruhigen, reizten sie diese Alltagströstungen nur: sie verlangte in das Zimmer geführt zu werden, das man für sie bestimmte: denn es war zwischen der Vorsteherin der Pension und den zwei Freunden verabredet worden, daß ihr ein besonderes Zimmer gegeben werden sollte, um ihr das Verdrießliche des gemeinschaftlichen Schlafsaales zu ersparen.

Man entsprach ihrem Wunsche und führte sie in ihr Zimmer. Es war ein wahres Boudoir einer Pensionaire, zu zierlich für eine Nonne nicht genug für ein Mädchen der Weit; die Kattuntapete mit blauen Blumen erinnerte an die, welche Mina für das Zimmer von Justin gewählt hatte; eine zwischen zwei Alabastervasen, welche künstliche Blumen enthielten, stehende Pendeluhr stellte Paul vor, wie er Virginie über den Fluß bringt; ein Kupferstich das Martyrium der heiligen Julie, der Patronin der Vorsteherin, vorstellend zierte die Wand, oder befleckte sie vielmehr, unserer Ansicht nach, mit ihrem schwarzen Rahmen: sechs leichte Stühle von Bambus und verschiedenfarbigem Stroh, ein Lager mit blauen, von einem Baldachin herabfallenden Zitzvorhängen, ein Klavier zwischen dem Fenster und dem Kamin, ein paar Meubles von einfachem Geschmack vervollständigten das Geräth des Zimmers, mit dem sich streng genommen auch ein Mädchen, das mehr als Mina an Luxus und Comfort gewöhnt gewesen wäre, hätte begnügen können.

Das Kind war selbst betroffen von der Heiterkeit, die man in diesem Zimmer athmete; wenn es einmal eine Einsamkeit sein sollte, so war sie blühend und duftend immerhin mehr werth.

Blühend und duftend war das richtige Worte durch das geöffnete Fenster erstreckte sich der Blick über ungeheure Gärten voller Bäume und Blumen.

Plötzlich hörte Mina ein gewaltiges Freudengeschrei fast unter ihr.

Sie trat aus Fenster.

Es war die Erholungsstunde, und ungefähr dreißig Mädchen stürzten in den Hof, um diese Stunde, einen Sonnenstrahl zwischen der doppelten Nacht der Classen, so fröhlich als möglich anzuwenden.

Der Hof war mit Sand bestreut, mit Linden und Maulbeerfeigenbäumen bepflanzt.

Durch das Blätterwerk der Bäume sah Mina wie durch einen beweglichen Schleier die geräuschvolle Schaar auf alle Arten laufen, spielen, springen, tanzen.

Die Großen gingen zu Zwei und Zwei in den abgelegensten Winkeln spazieren. Wovon sprachen diese vierzehnjährigen Herzen und Lippen?

Oh! wie verlangte sie auch nach einer Gefährtin, um ihr das Geheimnis ihres Herzens zu sagen, dem Justin nichts hatte wissen wollen.

Und das schallende Gelächter, das freudige Geschrei der Mädchen wirkten doch ganz anders auf sie, als die Beileidsbezeigungen der alten Freundin des Professors; sie durchging alle Erinnerungen ihrer ersten Jahre; sie sah das Häuschen der Boivin wieder, die Mutter Boivin, die weiß und schwarze Kuh, welche so gute Milch gab, daß sie nie ähnliche getrunken, ihren guten Pfarrer, der ein und sechzig Jahre alt gewesen war, als sie ihn verlassen, und nun siebzig sein mußte. Sie dachte von diesem Fenster aus, wo sie war, viele von den reichen Mädchen, die sie in den Winkeln spazieren gehen und plaudern sah, wären zu glücklich gewesen, wie sie ein abgelegenes Zimmer in diesem aristokratischen Hause bewohnen zu dürfen; sie gedachte endlich der wackeren Leute, die sie, arm, umherirrend, eine Waise, bei sich aufgenommen, die sie zu dieser Erziehung geführt, zu diesem Range erhoben; sie dachte an die fromme Mutter Corby, an die gute Schwester Céleste, an den trefflichen Professor und besonders an Justin! an Justin, dessen Thränen sie gesehen, dessen Hand sie zittern gefühlt, und der ihr mit einem so zarten Tone, während er seine Lippen auf ihre Stirne drückte, zugeflüstert hatte: »Muth, meine geliebte Mina! sechs Monate sind bald vorüber!«

 

Da . . . da fand sie ihre Klagen egoistisch, ihre Traurigkeit undankbar; da schaute sie umher, sah Tinte, Feder und Papier, nahm Alles dies mit beiden Händen, setzte sich an den Tisch und schrieb an die Familie des Faubourg Saint-Jacques einen anbetungswürdigen Brief des Dankes und der Segnungen.

Es war Zeit, daß dieser Brief ankamt der arme Justin war beim Ende seiner Kräfte, und es bedurfte nicht weniger als dieser Erinnerung des Mädchens, um Ihn der Niedergeschlagenheit zu entreißen, in die ihn diese traurige Abreise versenkt hatte.

Ach! welch eine düstere Wanderung hatten sie bei der Heimkehr gemacht, – sein alter Freund und er!

Sie waren zu Fuß zurückgekehrt, im Glauben, eine Zerstreuung auf diesem lachenden Wege zu finden, – wenigstens sicher, hier die Einsamkeit zu finden.

Sie hatten nicht ein Wort gewechselt; man hätte denken sollen, es seien zwei Geächtete, welche aufs Gerathewohl fliehen, ohne das Ziel ihres Laufes zu kennen.

Herr Müller, der stärker dem Mädchen gegenüber gewesen, war Justin gegenüber schwach geworden.

Aus der Hälfte des Weges von Versailles nach Paris hatte er von seinem Zögling den Muth verlangt, den er selbst ihm zu geben versprochen.

Als man nach Hause kam, war es eine trostlose Scene; der Abend, der folgte, war ein Trauerabend.

Wäre Mina für immer abgereist, in Lebensgefahr, todt gewesen, man hätte sie nicht mehr beklagt und beweint, als man sie lebend und fünf Meilen von Paris beklagte und beweinte.

Der Greis glaubte vor den Frauen den Muth wiedergefunden zu haben, den er vor Justin verloren, und er versuchte es, sie zu trösten. Doch das stand ihm übel an: er fühlte, daß er falsch griff und wider sein Gewissen, wider sein Herz sprach, und so gestattete er seinen Empfindungen ihren Ausbruch und vermengte seine Thränen mit denen der Familie.

Ja, der Familie, denn Mina gehörte ganz und gar zur Familie.

Man klagte ihn sodann an, er habe seinen Plan, das Mädchen so zu entfernen, nicht genug reifen lassen, er habe die Ausführung zu leichtsinnig beschleunigt, die Abreise zu sehr übereilt, während noch nichts drohte, und man die Waise überdies in ein Pensionat von Paris hätte bringen können, wo man sie alle Tage besucht haben würde; man machte ihn verantwortlich für die Folgen des Ereignisses; Jedes glaubte seinen Theil des allgemeinen Unglücks zu erleichtern, wenn es dem guten Herrn Müller die Schuld beimesse.

Der gute Mann hörte alle diese zu späten Beschuldigungen an, nahm alle diese Vorwürfe mit einem übermenschlichen Heldenmuth auf den Rücken und ging, wie der Sündenbock, mit den Missethaten des Stammes beladen ab.

Sobald Herr Müller weggegangen, sobald diese drei armen Wesen allein waren, senkte sich die monotone Schwermuth der ersten Jahre auf ihr Haupt, breitete, wie die nächtliche Fledermaus, ihre Trauerflügel aus und umschwebte sie stillschweigend.

Und. in der That, nach dem Abgange des heiteren Kindes nahmen die Wände ihre düsteren Tinten wieder an; nachdem der Singvogel entflogen, war der Käfig traurig.

Alles in der Wohnung sprach von Mina, um zu sagen: »Sie war hier; sie ist nicht mehr da!«

Die Mutter!

Der Mutter, die sie Tag und Nacht unter der Hand hatte, der Mutter, die seit sechs Jahren. um ihre kranke Tochter zu erleichtern, die kleine Mina mit der Führung des Hauses beauftragt hatte, wobei sie sich mehr auf sie, als aus ihre eigene Tochter verließ, der Mutter zernagte das Herz der Gedanke, das zerbrechliche Rohr, auf das sie ihr Alter gestützt, werde ihrer Hand fehlen.

Die Schwester!

Die Schwester, dieses schwächliche Geschöpf, sie, die am Abend nicht einschlafen konnte, ohne die Stimme der reizenden Kleinen zu hören, deren Ankunft sie etwas in der Weit außer ihrem Bruder und ihrer Mutter lieben und wieder einigen Geschmack am Leben finden gemacht hatte; die Schwester, die die Güter vergaß, die Gott ihr verweigerte, in der Erinnerung an die Freuden, welche er Andern gab, die Schwester war auch gewohnt, ihn um sie her, welche fast immer unbeweglich saß, gehen, laufen, sich bewegen drehen zu sehen, diesen brennenden Salperter, den man ein Kind nennt.

Und der Bruder!

Der arme Justin, wieder der traurige Schulmeister geworden, war er es nicht, der am meisten durch diese Abwesenheit litt?

Als er in sein Zimmer zurückgekehrt war, – in dieses Zimmer, das Jean Robert und Salvator so jungfräulich und so sauber gefunden, – hatte er nur die alten kahlen Wände, den leeren Kamin, das große schwarze Gemacht, ein klägliches Symbol seiner erloschenen Freuden, seiner entflogenen Illusionen, gesehen.

Er hatte sich ganz angekleidet auf sein Bett geworfen und alle seine, durch die Gegenwart der Familie zurückgedrängtem Thränen geschluchzt.

Wie! dieses kleine Mädchen. einen Vogel des Morgens, – halb Nachtigall, halb Lerche, – dessen Gesang ihn alle Tage zur selben Stunde erweckte; diesen Engel, der alle Abende, ehe er seine Flügel schloß ihm seine weiße Stirne geboten hatte, er sollte ihn nicht mehr sehen, er sollte ihn nicht mehr hören! Mein Gott! Mein Gott!

Welche Nacht brachte er zu und welch ein düsterer Tag folgte aus diese düstere Nacht!

Zum Glücke kam, wie wir oben gesagt haben, der Brief des Mädchens an; das war eine Danksagung von drei Seiten, ein entzückender Lobgesang.

Sie bat die Familie um Verzeihung wegen ihrer Abwesenheit als wäre sie, die man mit Gewalt nach Versailles geschleppt hatte, die einzige Ursache ihres Abgangs gewesen.

Sie dankte für alles Gute was sie den ihnen empfangen, als ob nicht sie das Gute ihnen gegeben hätte!

Es waren die Gedanken eines Engels geschrieben durch die Hand eines Kindes.

Alles dies tröstete ein wenig den armen Justin.

Und dann, wie er dem Mädchen gesagt hatte, so sagte ihm die Hoffnung: »Geduld! sechs Monate sind bald vorüber!«

Wer weiß jedoch, welche Ereignisse im Zeitraume von sechs Monaten aus der halb geöffneten Hand des Geschickes fallen können?

7Gondeln
8Kukuke