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Loe raamatut: «Die Mohicaner von Paris», lehekülg 16

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XXXI
Rose-de-Noël

Eines Abends, – das war am 20. August ungefähr um neun Uhr, – kam die Brocante mit einem Karren, den Justin im Hofe hätte sehen können, und mit einem Esel, den er hätte können in einem Stalle schreien hören, – die Brocante kam, sagen wir, von einem Verkaufe einer Last Lumpen in der Papierfabrik in Essonne zurück, da sah sie am Rande der Straße, als käme sie aus dem Graben hervor, die Silhouette eines Kindes sich erheben, das mit offenen Armen, mit bleicher Stirne, die Brust keuchend, den ganzen Leid schauernd, und mit allen Zeichen des tiefsten Schreckens auf sie zustürzte und schrie:

»Zu Hilfe! zu Hilfe! zu Hilfe!«

Die Brocante gehörte zu jener Rare von Zigeunerinnen, die den seltsamen Instinkt hat, die Kinder zu entführen, wie die Raubvögel die Lerchen und die Tauben entführen; sie hielt ihren Esel an, sprang von ihrem Karten herab, nahm die Kleine in ihre Arme, stieg wieder mit ihr auf und peitschte ihren Esel.

Und wir müssen sagen, indem sie diese Handlung vollbrachte, hatte sie viel mehr das Ansehen einer Wölfin, die ein Lamm fortschleppt, als einer Frau, die ein Kind rettet.

Schnell wie der Gedanke, war dieses Ereigniß fünf Meilen von Paris zwischen Juvisy und Fromenteau vorgefallen.

Die Kleine kam von der linken Seite der Straße.

Ganz nur beschäftigt, sich rasch zu entfernen, dachte die Brocante erst nachdem sie ungefähr eine Viertelmeile im Trabe ihres Esels gemacht, daran, das Kind zu untersuchen.

Die Kleine war baarköpfig, ihre langen Haare, deren Flechten sich entweder bei dem Laufe, den sie gemacht, oder in dem Kampfe, den sie ausgehalten, aufgelöst hatten, hingen hinten ihr herab; ihre Stirne rieselte von Schweiß; ihre Füße zeugten von einem langen Laufe querfeldein, und ihr weißes Kleid war ganz durchfurcht von einer Blutrinne, die aus einer zum Glücke nicht sehr tiefen Wunde kam, welche mit einem spitzigen oder schneidenden Instrumente gemacht oder vielmehr versucht worden zu sein schien.

Einmal im Karren, war die Kleine, welche höchstens fünf bis sechs Jahre alt zu sein schien, – den Umstand benützend, daß die Brocante beide Hände brauchte, um ihren Esel zu führen und zu peitschen, – wie eine Natter vom Schooße der alten Frau auf den Boden des Karrens geschlüpft und hatte sich in die entfernteste Ecke geflüchtet, von wo sie alle Fragen nur mit den Worten erwiderte:

»Sie läuft mir nicht nach? nicht wahr, sie läuft mir nicht nach?«

Wonach die Brocante, welche, wie es schien, ebenso sehr als das kleine Mädchen verfolgt zu werden befürchtete, den Kopf verstohlen aus ihrem Karten hervorstreckte, auf die Straße schaute, und da sie dieselbe öde und verlassen sah, das Kind beruhigte, bei dem der Schrecken so groß zu sein schien, daß die materielle Thatsache seiner Wunde und der Schmerzen, die es hierdurch empfinden mußte, nur eine fast vergessene Einzelheit war.

Gegen Mitternacht, – dergestalt hatte die Brocante, den Eifer des Mädchens unterstützend, den Esel zu raschem Trabe angetrieben, – gegen Mitternacht kaut man an der Barrière von Fontainebleau an.

Beim Gitter durch die Octroi-Beamten angehalten, brauchte die Brocante nur ihren Kopf zu zeigen und zu sagen: »Ich bin es, die Brocante,« und da die Octroi-Beamten sie einmal im Monat mit ihrer Ladung Lumpen heran fahren und am andern Tage mit dem leeren Karten zurückkommen zu sehen gewohnt waren, so entfernten sie sich sogleich, und der Esel, der Karren, die alte Frau und das kleine Mädchen zogen in die Stadt ein.

Durch die Rue Monffetard und die Rue de la Clef reichten sie sodann die Rue Triperet.

Das in der entferntesten Ecke des Karrene gekauerte oder vielmehr auf sich selbst zusammengerollte Mädchen hatte, wie gesagt, kein anderes Lebenszeichen von sich gegeben, als daß es von Zeit zu Zeit die Brocante mit einer Stimme voll unaussprechlicher Angst gefragt:

»Sie läuft mir nicht nach? nicht wahr, sie läuft mir nicht nach?«

Kaum war sie vom Wagen herabgestiegen, da stürzte sie in den Gang, sie erreichte, als hätte sie die Fähigkeit, bei Nacht zu sehen, die Treppe und kletterte so rasch die Stufen hinauf, als es nur die behendeste Katze hätte thun können.

Die Brocante stieg hinter ihr hinauf, öffnete die Thüre ihres elenden Winkels und sagte zu dem Mädchen:

»Tritt ein, Kleine! Niemand weiß, daß Du hier bist; sei also ruhig.«

»Sie wird mich nicht hier suchen?« fragte das Kind.

»Es ist keine Gefahr.«

Und die Kleine schlüpfte wie ein Wiesel durch die geöffnete Thüre.

Die Brocante machte die Thüre zu und verschloß sie mit dem Schlüssel; dann ging sie hinab, um ihren Karren unter den Schuppen und ihren Esel in den Stall zu bringen.

Wieder hinaufsteigend, nahm sie dieselben Vorsichtsmaßregeln, schloß die Thüre hinter sich, und schob den Riegel vor.

Sie zündete ein auf dem Scherben einer zerbrochenen Flasche aufgespießtes Lichtstümpchen an und suchte, mit diesem bleichen Scheine leuchtend, die arme kleine Flüchtige.

Diese war tappend in den entferntesten Winkel des Speichers gelangte hier war sie niedergekniet und sprach nun Alles, was sie von Gebeten wußte.

Die Brocante rief ihr.

Aber die Kleine machte ihr mit dem Kopfe ein Zeichen der Weigerung.

Die Brocante nahm sie bei der Hand und zog sie nach sich.

Die Kleine kam, jedoch mit einem offenbaren Widerwillen.

Die Alte zog sie an sich, um sie zu befragen.

Doch auf alle ihre Fragen erwiderte das Kind nur die Worte:

»Nein, sie würde mich tödten!«

So konnte die Brocante weder erfahren, aus welcher Gegend das Kind war, noch wer seine Eltern, noch wie es hieß, noch warum man es tödten wollte, noch warum man ihm die Wunde gemacht, die es an der Brust hatte.

Die Kleine beobachtete fast ein Jahr lang eine völlige Stummheit; nur einmal rief sie in ihrem von einem erschrecklichen Traume bewegtest Schlafe, einem gräßlichen Alp preisgegeben:

»Ah! Gnade! Gnade, Madame Gerard! ich habe Ihnen nichts zu Leide gethan; tödten Sie mich nicht!«

Alles, was man also wußte, war, daß die Frau, die sie hatte tödten wollen Madame Gèrard hieß.

Was das Kind betrifft, da man es mit irgend einem Namen rufen mußte, und da es so bleich war, als die Rosen. welche mitten im Winter blühen, so nannte es die Brocante, ohne zu vermuthen, welche poetische Taufe sie ihm gab, Rose-de-Noël.10

An demselben Abend, als sie sah, daß die Kleine nichts sagen wollte, zeigte ihr die Brocante in der Hoffnung, sie werde am andern Tage ein wenig geschwätziger sein, eine Art von Bett, auf dem ein Kind lag, das ein paar Jahre älter als sie, und hieß sie bei dem Kinde Platz nehmen.

Doch sie weigerte sich hartnäckig: die Farbe der Matratze, der Schmutz der Decke widerstrebten der Klenen, welche ihre feine Wäsche und der elegante Schnitt ihren Kleides als einer reichen Familie angehörend bezeichneten.

Sie nahm einen Stuhl, lehnte ihn an die Wand an, setzte sich darauf und sagte, sie werde so sehr gut sein.

Sie brachte die Nacht wirklich auf diesem Stuhle zu.

Bei Tagesanbruch entschlief sie aber.

Gegen sechs Uhr Morgens, während das Kind schlief, stand die Brocante auf und verließ das Haus.

Sie ging nach der Rue Neuve-Saint-Médard, um einen vollständigen Anzug für das kleine Mädchen zu kaufen.

Die Rue Neuve-Saint-Médard ist der Temple des Quartier Saint-Jacques..

Dieser vollständige Anzug bestand aus einem Kleide von blauem Baumwollzeug mit weißen Tüpfeln, einem gelben Halstuche mit rothen Blumen, einer Kinderhaube, zwei Paar wollenen Strümpfen und einem Paar Schuhe.

Das Ganze hatte sieben Franken gekostet. Die Brocante hoffte wohl die Verlassenschaft des kleinen Mädchens um die vierfache Summe zu verkaufen.

Eine Stunde nachher kam sie mit ihrem Einkaufe zurück; sie fand die Kleine immer noch auf ihrem Strohstuhle gekauert und allen Lockungen widerstehend, die ihr Babolin machte, um sie zu bestimmen, mit ihm zu spielen.

Als sich der Schlüssel im Schlosse drehte, zitterte das kleine Mädchen an allen Gliedern, als die Thüre sich öffnete, wurde es bleich wie der Tod.

Da sie die Kleine einer Ohnmacht nahe sah, fragte sie die Brocante, was sie habe.

»Ich glaubte, sie sei es!« antwortete das Mädchen.

»Sie! . . . « Also war es entschieden eine Frau, die es floh.

Die Brocante breitete auf einem Schemel das blaue Kleid, das gelbe Halstuch, die Haube, die Strümpfe und die Schuhe aus.

Das Kind schaute ihr mit einer gewissen Unruhe zu.

»Komm hierher!« sagte die Brocante zu der Kleinen.

Ohne sich vom Stuhle zu rühren, deutete die Kleine mit dem Finger auf die Kleider.

»Diese Kleider sind nicht für mich?« fragte sie mit«einer verächtlichen Miene.

»Und für wen denn?« sagte die Brocante.

»Ich werde sie nicht anziehen,« erwiderte das Kind.

»Du willst also, daß Sie Dich wieder erkennt?«

»Nein, nein, nein, das will ich nicht.«

»Dann mußt Du diese Kleider anziehen.«

»Und mit diesem Anzug wird sie mich nicht erkennen?«

»Nein.«

»Dann kleiden Sie mich sogleich an.«

Und ohne eine Schwierigkeit zu machen, ließ sie sich ihr hübsches weißes Kleid, ihren Batistunterrock, ihre feinen Strümpfe und ihre zierlichen Schuhe ausziehen.

Alles dies war übrigens mit Blut befleckt: man mußte es sogleich waschen, um nicht Verdacht bei den Nachbarn zu erregen.

Das Mädchen zog die Kleider an, die ihm die Brocante gekauft hatte: eine demüthige Livree des Elends, ein offenbares Symbol des Lebens, das ihrer harrte.«

Die Brocante wusch die Kleider des Kindes, ließ sie trocknen und verkaufte sie um dreißig Franken.

Das war schon ein gutes Geschäft.

Doch die alte Hexe hoffte eines Tags ein besseres dadurch zu machen, daß sie die Eltern des Kindes entdecken und es seiner Familie zurückgeben, oder vielmehr an seine Familie verkaufen würde.

Denselben Widerwillen, den es dem Kinde bereitet Kleider geringerer Art zu tragen, offenbarte es, als es sich darum handelte, die Mahle der Familie zu theilen.

Ein Ueberrest von Fleisch in einer Pfanne gewärmt, ein Stück schwarzes Brod beim Ausschuß gekauft oder in der Stadt erbettelt, das war die gewöhnliche Kost der, Brocante und ihres Sohnes.

Babolin, der nie an einer andern Tafel, als an der seiner Mutter gespeist, hatte keine gastronomische Wünsche über seiner Lage.

Nicht dasselbe war bei Rose-de-Noël der Fall.

Ohne Zweifel war die Arme gewohnt, ausgesuchte Gerichte mit Silbergeschirr, von Tellern und Schüsseln von Porzellan zu essen, denn sie warf nur einen Blick auf das Frühstück von Babolin und Brocante und sagte:

»Ich habe keinen Hunger.«

Beim Mittagessen war es dasselbe.

Die Brocante begriff, das elegante Kind würde eher vor Entkräftung sterben, als etwas von ihrer Küche anrühren.

»Was brauchst Du denn? Fasanen mit Orangensauce oder getrüffelte Poularden?«

»Ich verlange weder getrüffelte Ponlarden, noch Fasanen mit Orangensauce; aber ich möchte gern ein Stück Weißbrod haben, wie man es bei uns am Sonntag den Armen gab.«

Die Brocante, so hart sie war, wurde gerührt von dieser so einfachen und zugleich so kläglichen Antwort; sie gab Babolin einen Sou und sagte:

»Hole ein Brödchen beim Bäcker in der Rue Copeau.

Babolin nahm den Sou, machte nur einen Satz die Treppe hinab, nur einen Sprung von der Rue Triperet zur Rue Copeau, kam nach fünf Minuten zurück und brachte ein Brödchen mit weißer Krume und goldener Kruste.

Die arme Rose-de-Noël hatte großen Hungers sie verzehrte es bis auf das letzte Krümchen.

»Nun, behagt Dir das besser?« fragte die Brocante.

»Ja, Madame, und ich danke Ihnen,« erwiderte das Kind.

Nie war es einem Menschen eingefallen, die Brocante Madame zu nennen.

»Schöne Madame!« sagte sie. »Und nun, Fräulein Zierling, was wollen Sie zu Ihrem Nachtische?«

»Ich möchte gern ein Glas Wasser haben,« erwiderte das Mädchen.

»Gib den Krug,« sagte die Brocante zu ihrem Sohne.

Babolin brachte einen ganz abgestoßenen Krug ohne Henkel und reichte ihn der Kleinen.

»Sie trinken hieraus?« sagte sie mit sanfter Stimme zu Babolin.

»Das heißt, die Mutter trinkt hieraus; ich stütze mir das Wasser in den Hals.«

Und er hob den Krug einen halben Fuß über seinen Kopf, ließ einen Wasserstrahl herauslaufen, und empfing ihn in seinem Munde mit einer Geschicklichkeit, welche die Gewohnheit, die er in dieser Uebung hatte, beurkundete.

»Ich werde nicht trinken, sagte das Kind.

»Warum nicht?« fragte Babolin.

»Weil ich nicht wie Sie zu trinken verstehe.«

»Gut! Du siehst, daß das Fräulein ein Glas braucht,« sprach die Brocante, die Achseln zuckend.

»Wenn das nicht zum Erbarmen ist!«

»Ein Glas?« versetzte Babolin, es muß irgendwo eines sein.«

Und nachdem er einen Augenblick gesucht, entdeckte er eines in einer Ecke.

»Hier,« sagte er, indem er das Glas mit Wasser füllte und es dem Mädchen reichte, »trink!«

»Nein,« erwiderte die Kleine, »ich werde nicht trinken.«

»Und warum wirst Du nicht trinken?«

»Weil ich keinen Durst habe.«

»Doch, Du hast Durst, da Du so eben zu trinken verlangtest.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Du siehst wohl, daß wir Lumpenpack sind,« sagte die Mutter, »und daß das Fräulein weder aus unsern Krügen, noch aus unsern Gläsern zu trinken vermöchte.«

»Nein, wenn sie schmutzig sind,« sprach sanft und traurig das Mädchen; »und ich habe doch . . . ich habe sehr Durst,« fügte das Kind in Thränen zerfließend bei.

Babolin eilte hinab, wie er es das erste Mal gethan, lief zum nächsten Brunnen, wusch das Glas drei oder viermal, und brachte es durchsichtig wie ein böhmischer Kristall und voll von einem frischen, klaren Wasser zurück.

»Ich danke, Herr Babolin,« sagte die Kleine.

Und sie leerte das Glas aus einen Zug.

»Oh! Herr Babolin!« rief der Straßenjunge, indem er ein Rad schlug. »Sage doch, Mutter, wenn wir zu Croc-en-Jambe gehen, wird man ›Herr Babolin und Madame Brocante!»melden.«

»Verzeihen Sie,« erwiderte die Kleine, »man hat mich Herr und Madame sagen gelehrt; »ich werde es nicht mehr sagen, wenn es nicht gut ist.«

»Doch, mein Kind, doch, es ist gut»«, versetzte die Brocante, »unwillkürlich unterjocht durch diese Überlegenheit der Erziehung, über welche die Leute aus dem Volke zuweilen spotten, die aber immer ihre Wirkung auf sie hervorbringt.

Am Abend, beim Schlafengehen, wiederholte sich die Scene vom vorhergehenden Tage.

Die Mutter und der Sohn schliefen auf einer einzigen, mitten unter Lumpen, in eine Ecke der Stube geworfenen Matratze.

Rose-de-Noël weigerte sich beharrlich, neben ihnen Platz zu nehmen.

Auch in dieser Nacht schlief sie auf ihrem Stuhle.

Am andern Tage machte die Brocante eine Anstrengung.

Sie steckte in ihre Tasche die dreißig Franken, den Preis der Kleider des Kindes, kaufte eine Schlafbank für vierzig Sous, eine Matraze für zehn Sous, – ein wenig dünn, aber reinlich, – ein Kopfkissen für drei Franken fünfzig Centimes, zwei Paar Tücher von Madapolam11 und eine baumwollene Decke; Alles von einer tadellosen Weiße.

Sie ließ dies in ihren Speicher tragen.

Sie hatte gerade für drei und zwanzig Franken gekauft und war also quitt mit dem Mädchen.

»Oh! das hübsche weiße Bettchen!« rief die Kleine als sie ihr Lager aufgestellt und geordnet sah.

»Das ist für Sie, Fräulein Zierling,« sagte die Brocante; »da es scheint, daß Sie eine Prinzessin sind, so behandelt man sie auch als Prinzessin.

»Ich bin keine Prinzessin,« erwiderte das Mädchen; »ich hatte aber dort ein weißes Bett.«

»Nun, Sie werden hier eines haben wie dort . . . Sind Sie zufrieden?«

»Oh! Sie sind sehr gut!« rief das Mädchen.

»Wo werden Sie nun wohnen? muß man Ihnen nicht in der Rue de Rivoli einen ersten Stock über dem Entresol miethen?«

»Wollen Sie mir diesen Winkel hier geben?« fragte das Mädchen.

Und sie bezeichnete eine Vertiefung des Speichers, die eine Art von Cabinet bildete.

»Das wird Ihnen genügen?« sagte die Brocante.

»Ja Madame,« erwiderte das Kind mit seinem gewöhnlichen sanften Tone.

Man schob das Lager in den Winkel.

Allmählich meublierte sich der Winkel und wurde eine Art von Zimmer.

Die Brocante war durchaus nicht so arm, als sie zu sein den Anschein hatte; sie war nur entsetzlich geizig und es kostete sie eine ungeheure Ueberwindung, das Geld aus dem Verstecke zu nehmen, wo sie es aufbewahrte.

Doch die Brocante hatte eine Industrie: sie schlug Karten.

Statt sich in Geld von ihren Kunden bezahlen zulassen, – was oft nicht ohne Schwierigkeit in einem so armen Quartier, wie das, welches sie bewohnte, war, hatte sie die Idee, sich in Naturalien bezahlen zu lassen.

Von der Trödlerin forderte sie einen Zitzvorhang vom Ebenisten einen kleinen Tisch; vom Ausschußwaarenhändler einen Teppich; so daß der Winkel von Rose-de-Noël nach Verlauf eines Monats meublirt war. und die Ecke, die sie auf dem Speicher bewohnte, Ruhealtar genannt wurde.

Rose-de-Noël war glücklich oder beinahe glücklich.

Wir sagen beinahe glücklich, weil ihr Kleid von blauem Baumwollzeug, ihr gelbes Halstuch mit rothen Blumen, ihre wollenen Strümpfe und ihre Kinderthaube ihr ungemein mißfielen.

So wie sich diese Gegenstände abnutzten machte sich auch Rose-de-Noël eine Art von eigener Toilette.

Dies betraf vor Allem ihre Haare, welche sie mit außerordentlicher Sorgfalt kämmte, und die so lang waren, daß sie, wenn sie dieselben zurückwarf, auf ihren Enden mit den Fersen ging.

Sodann bald ein Hemd von rohem Stoffe mit einer improvisierten Knotenschnur um den Leib geknüpft; bald ein Turban auf einer Schürze von lebhafter Farbe gemacht, bald ein alter Shawl, in den sie sich drapierte wie in einen Mantel, bald ein Weißdornzweig, aus welchem sie sich einen duftenden Kranz machte; doch so wie sie sich kleidete, näherte sich ihr pittoreskes Gewand immer einem Typus, wobei der Maler seine Rechnung gefunden hätte, wäre es nun seine Aufgabe gewesen, die Creolin der Antillen, die Gitana Spaniens oder die Druidin Galliens darzustellen.

Da aber Rose-de-Noël nie ausging, da die Sonne in den Speicher nur durch schmale Oeffnungen gelangte, da sie nur Brod aß und Wasser trank, da die Kälte von allen Seiten in die Stube von Brocante eindrang, da sie keinen Unterschied zwischen dem Sommer und dem Winter machte und immer auf dieselbe Art, bei zehn Grad Kälte oder sechs und zwanzig Grad Wärme, gekleidet war, so bot sie den kränklichen. leidenden Anblick, den wir zu schildern versucht haben; abgesehen davon, daß von Zeit zu Zeit ein trockener Husten der auf die Wangen von Rose-de-Noël eine lebhaftere Farbe brachte, so oft er eintrat, andeutete, die elende Wohnung, die sie bedeckte, ohne sie zu schützen, habe schon auf ihre Gesundheit einen unglücklichen Einfluß gehabt und könne in der Zukunft einen noch unglücklicheren Einfluß auf sie haben.

Von ihrer Familie und von dem erschrecklichen Erlebnis, das ihr Zusammentreffen mit der Brocante herbeigeführt, die das arme Kind allmählich so sehr nehm liebte, als sie zu lieben fähig war, hatte man nie mehr gesprochen, als das, was wir gesagt.

Dies war Rose-de-Noël, das heißt das Kind, das zwischen den Beinen der Brocante in dem Augenblick kniete, wo Babolin und der Schulmeister auf der Thürschwelle erschienen.

XXXII
Sinistra Cornix

Das Schauspiel, das die Augen von Justin traf, war also im Stande, die Aufmerksamkeit eines Menschen zu erregen, der weniger als er in einen einzigen Gedanken versunken: in den der entführten und um Hilfe rufenden Mina.

Er trat in den Speicher ein, unempfindlich für jede andere Idee, als die, weiche ihm das Herz zusammenschnürte.

»Mutter,« sprach Babolin, der dem jungen Manne voranging, wie ein Dolmetscher demjenigen, für welchen er das Wort zu führen beauftragt ist, vorangeht; »hier ist Herr Justin, der Schulmeister: er wollte in Person kommen, um Sie über Dinge zu fragen, die ich ihm nicht sagen konnte.«

Die Alte lächelte wie eine Frau, die diesen Besuch erwartete.

»Und der Louis d’or sit frage sie halblaut.

»Hier ist er,« antwortete Babolin, indem er ihr das Goldstück in die Hand gleiten ließ. »Doch Ihr müßtet dafür Rose-de-Noël einen guten wattirten Rock kaufen.«

»Ich danke, Babolin,« sagte das Mädchen, seine Stirne dem Straßenjungen darbietend, der sie brüderlich küßte; »doch- ich friere nicht.«

Und während sie dies erwiderte, hustete sie zwei- bis dreimal auf eine Art, welche die Worte die sie gesprochen, Lügen strafte.

Dach, wie gesagt, alle diese Einzelheiten, welche einem Andern als Justin aufgefallen wären, existierten nicht für ihn oder existierten nur im Zustande der Morgendünste, welche zwischen dem Reisenden und dem Ziele, das er erreichen will, aufsteigend dieses Ziel verschleiern, ohne es ihm zu verbergen.

»Madame,« sagte er.

Bei dem Wort Madame schaute die Brocante empor, um zu sehen, ob wirklich sie es war, an die man sich wandte.

Justin war die zweite Person, die sie Madame genannt hatte; die erste war Rose-de-Noël.

»Madame,« sagte Justin, »Sie haben diesen Brief gefunden?«

»Ei! das scheint wohl so, da ich es bin, die Ihnen denselben geschickt hat,« erwiderte die Brocante.

»Ja, und ich bin Ihnen sehr dankbar hierfür; nur wollte ich Sie fragen, wo Sie ihn gefunden haben.«

»Im Quartier Saint-Jacques sicherlich.«

»Ich möchte gern wissen, in welcher Straße.«

»Ich habe nicht nach dem Anschlage geschaut; doch das mußte so etwa in der Gegend der Rue Dauphine zur Rue Manffetard sein.«

»Ich bitte Sie inständig,« sprach Justin, »suchen Sie sich genau der Einzelheiten zu erinnern.«

»Ah!« rief die Brocante, »ich glaube entschieden, daß es in der Rue Saint-André-des-Arcs war..«

Für einen mehr als Justin mit dieser Art von Zigeunerin, mit der er es zu thun hatte, vertrauten Beobachter wäre es klar gewesen, daß die Brocante in einer bestimmten Absicht in ihren Reden umherschweifte.

Justin glaubte zu begreifen.

»Hier,« sagte er, »das ist, um Ihre Erinnerungen zu unterstützen.«

Und er gab ihr einen zweiten Louis d’or.

»Mutter,« sagte Babolin, »gewähre doch Herrn Justin, was er den Dir verlangt; Herr Justin ist nicht Jedermann, und er ist gar wohl gelitten und geachtet im Quartier Saint-Jacques!«

»In was mischst Du Dich, Bube?« versetzte die Alte; »geh doch zum Brunnen, der spricht, und sieh, ob ich dort bin.

»Ah! wie Du willst,« versetzte Babolin, »im Ganzen hat Herr Justin mich ersucht, ihn hierher zu führen; er ist hier, er mag die Sache angreifen, wie er kann; er ist groß genug, um seine Angelegenheiten selbst abzumachen.«

Und er spielte mit den Hunden.

»Brocante,« sprach Rose-de-Noël mit ihrer sanften-harmonischen Stimme, »Sie sehen, daß dieser junge Mann sehr unruhig und sehr gequält ist; ich bitte, sagen Sie ihm, was er zu wissen wünscht.«

»Oh! ich beschwöre Sie, wein schönes Kind,« sprach der Schulmeister, die Hände faltend, »bitten Sie für mich!«

»Sie wird es sagen,« erwiderte Rose-de-Noël.

»Sie wird es sagen! sie wird es sagen! . . . Gewiß werde ich es sagen,« murmelte die Alte, wie einer höhern Macht gehorchend. »Du kennst weine Schwäche; Du weißt, daß ich Dir nichts verweigern kann.«

»Nun, Madame,« sprach Justin, der nur mit Mühe seine Ungeduld bemeisterte, »strengen Sie Ihr Gedächtniß an! erinnern Sie sich . . . . erinnern Sie sich, um des Himmels willen!«

»Ich glaube, es war . . . Ja, dort war es . . . nun bin ich meiner Sache sicher. Uebrigens könnte man sich an die Karten wenden.«

»Dann,« sagte Justin, wie mit sich selbst sprechend, und ohne auf die letzten Worte der Brocante zu merken, »dann sind sie wohl über den Pont-Neuf gefahren und haben sich wahrscheinlich zur Barrière Fontainebleau oder zur Barrière Saint-Jacques begeben.«

»Richtig,« versetzte die Brocante.

»Woher wissen Sie das?« fragte der junge Mann.

»Ich sage richtig, wie ich wahrscheinlich gesagt hätte.«

»Hören Sie, wenn Sie etwas wissen, in des Himmels Namen, sagen-Sie es mir.«

»Ich weiß nichts, als daß ich auf der Place Maubert einen Brief mit Ihrer Adresse gefunden, und daß ich Ihnen diesen Brief geschickt habe.«

»Brocante,« sprach Rose-de-Noël, »Sie sind ein böses Weib! Sie wissen noch Anderes und sagen es nicht.«

»Nein,« entgegnete die Brocante, »ich weiß nichts mehr.«

»Sie haben Unrecht, den Herrn wegzuschicken, wie Sie es thun, Mutter, es ist ein Freund von Herrn Salvator.«

»Ich schicke den Herrn nicht weg; ich sage ihm, ich wisse nicht, was er von mir verlangt; nur muß man, wenn man etwas nicht weiß, diejenigen fragen, weiche es wissen.«

»Wen muß ich über diese Sache fragen? Sagen Sie es geschwinde.«

»Diejenigen, welche Alles wissen: die Karten.«

»Es ist gut,« sprach der Schulmeister, »ich danke: was Sie mir gesagt haben, ist immer gut, wenn man es weiß; ich will zu Herrn Salvator auf die Polizei gehen.«

Nach diesen Worten machte der junge Mann ein paar Schritte gegen die Thüre.

Doch die Brocante besann sich ohne Zweifel eines Andern und rief:

»Herr Justin!«

Der junge Mann wandte sich um.

Die Alte deutete mit dem Finger auf die Krähe die über ihrem Kopfe mit den Flügeln schlug.

»Sehen Sie den Vogel,« sagte sie, »sehen Sie den Vogel?«

»Ich sehe ihn,« erwiderte Justin.

»Nicht wahr, er schlägt mit den Flügeln?«

»Ja.«

»Es ist gut; sobald der Vogel mit den Flügeln geschlagen, hat er keine große Hoffnung.«

»Hat denn dieses Schlagen mit den Flügeln eine Bedeutung?«

»Jesus Gott! Sie fragen das? ein Mann der unterrichtet ist, wie Sie, ein Schulmeister, der weiß, daß eine Krähe ein Prophetenvogel ist?«

»Nun, so lassen Sie hören: was bedeutet das Schlagen mit den Flügeln Ihres Vogels?«

»Es bedeutet, es bedeutet, daß Sie nicht so bald die Person finden werden, die Sie suchen, denn Sie suchen Jemand.«

»Ja, und ich würde Alles geben, was ich besitze, um die Person, die ich suche, wiederzufinden.«

»Nun, Sie sehen, der Vogel weiß das so gut als Sie und ich.

»Was will aber dieses Schlagen mit den Flügeln besagen?«

»Dieses Schlagen mit den Flügeln . . . sehen Sie, das ist das Bild Ihrer Drangsale: wie dieser Vogel mit den Flügeln in die Lust schlägt, so zerarbeiten Sie sich im leeren Raume; er hat dreimal mit den Flügeln geschlagen, ein Jahr für das Mal; drei Jahre werden Sie auf diese Nachforschung verwenden. Ich rathe Ihnen also im Namen des Vogels nicht, unsichere Schritte anzufangen, bevor die Karten gesprochen haben.«

»So mögen sie sprechen!«

Und wie ein Mensch der dem Ertrinken nahe, sich an jeden Ast anklammert, kehrte Justin um, ganz geneigt, den Karten zu glauben, sollte das, was die Karten sagen würden, auch nur den geringsten Anschein von Wahrheit haben.«

»Wollen Sie das kleine Spiel oder das große Spiel?« fragte die Brocante.

»Machen Sie, was Sie wollen . . . Hier ist ein Louis d’or.«

»Ah! dann sollen Sie das große Spiel haben und den Erfolg von Cagliostro! . . . Gib mir mein großes Spiel, Rose,« sagte die Brocante.

Rose-de-Noël stand auf; sie war schlank, biegsam wie eine Palme; sie nahm das Kartenspiel aus der Schublade einer in einer Ecke stehenden Truhe und reichte es der Alten mit ihren kleinen, magern, spitzig zulaufenden, aber weißen Händen, woran Nägel so sorgfältig gepflegt als die einer Modedame, sichtbar waren.

Troß der Gewohnheit, solche cabbalistische Experimente zu sehen, die er ohne Zweifel schon oft beobachtet hatte, näherte sich Babolin der Alten, kauerte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und schickte sich an, mit einer naiven Bewunderung bei der Zauberscene, welche vor sich gehen sollte, zuzuschauen.

Die Brocante zog ein großes tannenes Brett, in Form eines Hufeisens, vor und legte es auf ihren Schooß.

»Rufe Phares,« sagte sie zu dem Mädchen, indem sie mit einer Bewegung des Kopfes den auf dem Balken sitzenden Vogel bezeichnete, welcher auf diesen einem der drei cabbalistischen Worte vom Balthasarsmahl entlehnten Namen antwortete.

Die Krähe hatte mit den Flügeln zu schlagen aufgehört und wartete, wie es schien, aus den Augenblick, ihre Rolle in der Scene, die sich vorbereitete, zu spielen.

»Phares!« sang das Mädchen, das diesem Rufe die ganze Sanftheit seiner Stimme gab.

Die Kräbe sprang vom Balken auf die rechte Schulter von Rose-de-Noël, diese hockte sich vor der Alten nieder und neigte ein wenig auf ihre Seite die Schulter, auf der der Vogel saß.

Da gab die Brocante eine seltsame Note von sich, welche halb auf der Kehle, halb von den Lippen kam, und zugleich etwas vom Rufe und vom Pfiffe hatte.

Bei diesem durchdringenden Tone sprangen die zwölf Hunde mit einem einzigen Satze und sich an einander stoßend aus ihrem Korbe und nahmen, als ächte gelehrte Hunde, was sie waren, ihren Platz rechts und links von der Zauberin, setzten sich auf ihr Hintertheil mit dem Ernste von Doktoren, welche bereit sind, eine theologische Diskussion in Angriff zu nehmen, und bildeten um den Tisch einen vollkommenen Kreis, in dessen Mitte sich die Brocante befand.

Als die, scheinbar notwendigen, Vorbereitungen von Seiten der Hunde, welche während dieses ganzen Manoeuvre klägliche Schreie ausstießen, vollendet waren,-trat wieder die Stille ein.

Die Brocante schaute nach und nach den Vogel und die Hunde an, und als diese Revue passiert war, sprach sie mit feierlichem Tone Sylben entlehnt einer fremden, Ihr selbst vielleicht unbekannten Sprache, welche Araber für Französisch hätten halten können, Franzosen aber sicherlich nicht würden für Arabisch gehalten haben.

Wir wissen nicht, ob Babolin, Rose-de-Noël und Justin den Sinn dieser Worte verstanden; versichern können wir jedoch, daß er von den zwölf Hundert und von der Krähe begriffen wurde, urtheilen wir nach dem gleichen rhythmischen Kläffen der Hunde und dem durchdringenden Geschrei des Vogels, das selbst der heiseren Note nachgeahmt war, welche die Alte ausgestoßen, um ihre Meute zu rufen.

Als sodann das Gekläffe beendigt war und das Geschrei des Vogels erloschen, legten sich die Hunde nieder, welche bis dahin ehrerbietig und einander melancholisch aufschauend auf ihrem Hintertheile gesessen hatten.

Die Krähe aber sprang von der Schulter von Rose-de-Noël auf den Kopf der Alten und klammerte sich daran an, indem sie ihre Klauen in die Haare der Brocante eindrückte.

Das Gemälde würde sich nun einem Genremaler also dargestellt haben:

Der Speicher düster, nur durchfurcht von einigen Lichtstreifen, welche mit großer Mühe durch die spärlichen Oeffnungen eindrangen.

Die Alte sitzend, mit den im Kreise ausgestreckten Hunden um sich her; Babolin zu ihren Füßen liegend; Rose-de-Noël am Pfeiler stehend.

Diese Gruppe beleuchtet durch den röthlichen Schein der irdenen Lampe.

Justin stehend, bleich, ungeduldig, halb verloren im Helldunkel.

Die Krähe nun Zeit zu Zelt mit den Flügeln schlagend, unheimliche Schreie ausstoßend, und an die Fabel dem Raben, der dem Adler nachahmen will, erinnernd, nur mit dem Unterschiede, daß die Klauen des Raben in der weißen Wolle des Schafes festgehalten wurden, während die Klauen der Krähe in den grauen Haaren der Alten festhielten.

10.Weihnachtsrose.
11.eine Art von Percal.
Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
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Ilmumiskuupäev Litres'is:
06 detsember 2019
Objętość:
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