Tasuta

Die Mohicaner von Paris

Tekst
iOSAndroidWindows Phone
Kuhu peaksime rakenduse lingi saatma?
Ärge sulgege akent, kuni olete sisestanud mobiilseadmesse saadetud koodi
Proovi uuestiLink saadetud

Autoriõiguse omaniku taotlusel ei saa seda raamatut failina alla laadida.

Sellegipoolest saate seda raamatut lugeda meie mobiilirakendusest (isegi ilma internetiühenduseta) ja LitResi veebielehel.

Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Ich kam nach Paris zurück; ich suchte einen Wohnort in der Umgegend; ich fand dieses Haus, das ich kaufte, und ich unternahm das große Wert der Philanthropie, das mir auch den Ruf eines Biedermannes, mit dem ich sterben werde, eingetragen hat; bin ich aber einmal todt, so gehört mein Andenken Ihnen: bringen Sie es Herrn Sarranti zum Opfer; verlangen Sie seine Begnadigung als Verschwörer; ich habe es übernommen seine Unschuld als Mörder zu beweisen.«

»Wird man aber der Aussage eines Sohnes zu Gunsten seines Vaters glauben?«

Ich habe diesen Einwurf vorhergesehen . . . Stehen Sie auf, nehmen Sie diesen Schlüssel . . . ‹

Der Sterbende reichte dem Mönche einen Schlüssel, den er unter seinem Kopfkissen verborgen hielt.

»Oeffnen Sie die zweite Schublade des Secretärs,« fügte er bei; »Sie werden dort eine mit drei Siegeln versehene Papierrolle finden.«

Dominique stand auf, nahm den Schlüssel, öffnete den Secretär und kam mit der Papierrolle zurück.

»Hier,« sagte er.

»Steh nichts darauf geschrieben?«

»Doch, mein Herr; es steht hier:

»Dieses ist meine allgemeine Beichte vor Gott und »den Menschen« um, sollte es nötig sein, nach meinem Tode veröffentlicht zu werden.

»Unterzeichnet: Gèrard Tardieu.«

»Das ist es, mein Vater. »Dieses Papier enthält Wort für Wort und ganz von meiner Hand geschrieben die Erzählung, die ich Ihnen so eben gemacht habe. Bin ich nicht mehr, so verfügen Sie darüber: ich entbinde Sie des Geheimnisses der Beichte.«

Mit einer Bewegung der Freude und unwillkürlichen Triumphes drückte der Mönch das Paquet an seine Brust.

»Werden Sie mich nun nicht durch einige Worte der Hoffnung trösten, mein Vater?« sagte der Sterbende.

Der Mönch näherte sich ernst und langsam; es war, als würde sein zum Himmel erhobenes Gesicht von einem göttlichen Lichte erleuchtet.

So gesehen, schien er das Ideal der Menschenliebe zu sein.

Der Sterbende, der die Verzeihung kommen fühlte, richtete sich auf, um ihr entgegen zu gehen.

»Mein Bruder,« sprach der Dominicaner, »es bedürfte vielleicht beim Herrn einer höheren und mächtigeren Fürbitte als der meinigen, daß er Ihnen vergebe; doch ich, als Mensch, als Sohn, als Priester, ich vergebe Ihnen. Gott wolle die Sündenerlassung genehmigen, welche auf Ihr Haupt herabsenken zu machen ich ihn anflehe, – im Namen des Vaters, der die Güte ist, des Sohnes, der die Hingebung ist und des heiligen Geistes, der der Glaube ist!«

Und er legte sachte seine bleichen, weißen Hände auf den kahlen Schädel des Sterbenden.

»Was habe ich nun noch zu thun?« fragte der Sterbende.

»Beten Sie!« sprach der Mönch.

Und er ging langsam, mit gefalteten Händen, hinaus, den Herrn beschwörend, er möge gestatten, daß er, mit sich nehme, was Schlechtes, Elendes und Niedriges in diesem Menschen, der dem Sterben nahe war.

Hinter;ihm fiel der Sterbende, mit dem Gesichte gegen das Kopfkissen, auf sein Bett zurück und blieb so unbeweglich, als ob sich die Seele schon vom Leibe getrennt hatte.

LXXII
Rückkehr zu Justin

Lassen wir Bruder Dominique, fortan beruhigt über das Leben und die Ehre seines Vaters, rasch, das Herz voll Hoffnung und Freude, die kurze Entfernung zurücklegen, welche Vanvres vom Bas-Meudon trennt, wo er angespannt und zur Abfahrt bereit den Wagen finden wird, der den Leichnam von Colombau enthält, – und kehren wir zu Justin zurück, den wir mit verhängten Zügeln auf der Straße nach Versailles, ausgerüstet durch die Vermittlung von Salvator mit Instructionen von Herrn Jackal in Beziehung auf Madame Desmarets, haben hinjagen sehen.

Für diejenigen von unsern Lesern, denen der Charakter des Schulmeisters, nach oberflächlicher Beurtheilung an einer gewissen Schwäche leidend, nicht das ganze Interesse zu verdienen geschienen hat, das er Salvator, Jean Robert und uns selbst eingeflößt, sagen wir, daß diese Resignation, welche beim ersten Anblicke für Mangel an Energie gehalten werden konnte, uns im Gegentheile eine der schönsten Formen der Stärke zu sein scheint.

Man darf in der That die materielle Bewegung, die Thätigkeit des Körpers nicht mit der Thätigkeit und der Bewegung des Geistes verwechseln.

Der Mann, der sich sehr thätig glaubt, der alle Tage sich bewegt, geht, läuft, zwei Meilen zu Fuße oder im Wagen macht, bewegt sich viel mehr, handelt aber viel weniger, als der Mann, welcher, aus der Tiefe seines Arbeitscabinets, nach Verlauf von zehn Jahren einer scheinbaren Ruhe den Gedanken, der die Weit umwälzen soll, hervorgehen läßt.

Stellen Sie den Schulmeister, diesen an seiner Oberfläche so apathischen Menschen, in den Kampf mit der Nothwendigkeit, und Sie werden ihn aus seiner Apathie, völlig gerüstet, bereit zum Streiten, vorbereitet zum Tode, hervortreten sehen. Was ihn verringert in den Augen von denjenigen, welche bei ihm nicht mehr als die Oberhaut betrachteten, – wir vermöchten es nicht zu oft zu wiederholen, denn wir beabsichtigen, es in diesem Buche zu beweisen, – ist das Familienleben, unter das er gebeugt ist; die kindliche Pietät, welche zu weilen die großen Handlungen hervorbringt, macht auch zuweilen die großen und dunklen Hingebungen. Unterdrücken Sie für Justin das heilige Wort, die fromme Sache, die an ihm haftet, die Familie, und Sie werden ihn sogleich seinen Stein zu dem gesellschaftlichen Monumente, dem Antipoden des Thurmes zu Babel, bringen sehen, welches um eine Schicht zu erhöhen wir Alle geboren sind, und das man die allgemeine Harmonie nennt. Nehmen Sie an, er sei allein auf der Welt, mit Leidenschaften, für die er Niemand als sich selbst verantwortlich, und Sie werden ihn, wie jenes unter dem Scheffel verborgene Licht des Evangeliums, sobald der Scheffel weggenommen ist, auf der Stelle alle seine Strahlen um sich her verbreiten sehen.

Wer also Justin, an seine Jugenderinnerungen appellierend, als vollendeten Reiter auf dem Pferde von Jean Robert hätte hinjagen, die Entfernung durchfliegen, den-Raum verschlingen sehen, hätte versicherte können, es sei gewiß der Arm eines starken Mannes und das Knie eines entschlossenen Mannes, welche in seinem wüthenden; Laufe dieses Pferd lenken, das viel mehr einem seine Beute entführenden Vogel, als einem seinen Reiter tragenden arabischen Rosse ähnlich.

Nach einer Stunde rasenden Galopps, während welcher die Gedanken von Justin, etwas vom Laufe seines Pferdes entlehnend, sich rasch in seinem Gehirne drängten, hielt er keuchend vor der Thüre des Pensionats an.

Er hatte, wie gesagt, etwas mehr als eine Stunde gebraucht, um fünf Meilen zu machen, und es war gerade halb neun Uhr, als er, von seinem Pferde springend, bei Madame Desmarets anläutete.

Man war längst im Hause auf, Madame Desmarets befand sich allein in ihrem Zimmer und hatte ihre Toilette noch nicht beendigt.

Justin ließ ihr sagen, er wünsche sie auf der Stelle zu sprechen.

Ganz verblüfft durch einen so frühen Besuch, ließ Madame Desmarets Justin bitten, er möge warten, und verlangte von ihm eine Viertelstunde, um sich in den Stand zu setzen, vor ihm zu erscheinen.

Justin antwortete aber, die Sache, die ihn zu ihr führe, leide in Betracht ihrer Dringlichkeit keinen Verzug, und er bitte daher die Vorsteherin der Pension inständig, ihn sogleich zu empfangen.

Sehr beunruhigt durch dieses entschiedene Beharren, zog Madame Desmarets einen Schlafrock an und öffnete ihre Thüre, um in den Salon hinabzugehen; Justin stand aber vor der Thüre.

Er nahm die erstaunte Frau bei der Hand und ließ sie in ihr Zimmer zurückgehen, dessen Thüre er hinter sich schloß.

Da erst schlug die Vorsteherin der Pension die Augen zu Justin auf, den das Licht der Fenster beleuchtete, und stieß einen Schrei aus. Sie war erschrocken zugleich über die Todesblässe auf der Stirne des jungen Mannes, und über die finstere Energie, welche den Hauptcharakter seiner gewöhnlich so sanften und harmlosen, Physiognomie bildete.

»Oh! mein Gott! was ist denn geschehen?« fragte sie.

»Ein schweres Unglück, Madame,« antwortete Justin.

»Ihnen oder Mina?«

»Beiden, Madame.«

»Ah! mein Gott!« Soll ich Mina allein rufen lassen, oder wünschest Sie sie selbst zu sehen?«

»Mina ist nicht mehr hier, Madame.«

»Wie, Mina ist nicht mehr hier? Wo ist sie denn?«

»Ich weiß es nicht.«

Madame Desmarets schaute Justin Corby an, wie sie einen Narren angeschaut hätte.

»Sie ist nicht mehr hier! Sie wissen nicht, wo sie ist! was will das besagen?«

»Das will besagen, Madame, daß sie heute Nacht entführt worden ist.«

»Gestern Abend habe ich sie aber selbst in ihr Zimmer begleitet, wo ich sie mit Fräulein Susanne von Valgeneuse ließ.«

»Nun, diesen Morgen, Madame, ist sie nicht mehr dort.«

»Oh! mein Gott!« rief Madame Desmarets, die Augen zum Himmel erhebend, »sind Sie dessen, was Sie sagen, sicher mein Herr?«

Justin zog aus seiner Tasche das mit Bleistift geschriebene Papier, das ihm Babolin übergeben.

»Hier,« sagte er, »lesen Sie.«

Madame Desmarets las rasch das Billet.

Sie erkannte die Handschrift des Mädchens und, sich einer Ohnmacht nahe fühlend, gab sie einen Schrei von sich und streckte die Arme aus, um eine Stütze zu suchen.

Justin sprang ihr bei, hielt sie auf und rückte ihr einen Lehnstuhl zu.

»Ah!« sagte sie, »ist das wahr, so müßte ich Sie auf den Knieen um Verzeihung für den Schmerz bitten, den ich Ihnen verursache!«

»Es ist wahr,« sprach Justin. »Doch lassen wir uns Beide nicht niederschlagen, Madame, so lange wir nicht sicher sind, daß es kein Mittel für diesen Schmerz gibt, und bleibt mir keine Hoffnung mehr auf die Menschen, so wird mir die Hoffnung auf Gott bleiben.«

»Was ist aber zu thun?« fragte die Vorsteherin der Pension.

 

»Warten, und mittlerweile darüber wachen, daß Niemand in das Zimmer von Mina eindringt, noch in den Garten kommt.«

»Warten; auf wen, mein Herr?«

»Auf den Agenten der Behörde, der sich in einer Stunde hierher begeben soll.«

»Wie!« rief Madame Desmarets, mehr erschrocken als bewegt, »das Gericht wird hierher kommen?«

»Allerdings,« antwortete Justin.

»Wenn dies geschieht, so ist aber mein Haus verloren!«

Dieser Egoismus verletzte Justin tief.

»Was soll ich denn thun, Madame?« fragte er kalt.

»Mein Herr, gibt es ein Mittel, das Aergerniß zu vermeiden, so bitte ich Sie inständig, dasselbe anzuwenden.«

»Ich weiß nicht, was Sie ein Aergerniß nennen,« versetzte Justin, die Stirne runzelnd.

»Wie, Sie wissen nicht, was ich ein Aergerniß nenne?« sprach die Vorsteherin der Pension, indem sie ihre Hände faltete.

»Das Aergerniß für mich, Madame, ist,« sagte Justin, »daß eine Frau, der meine Mutter ihre Tochter anvertraut hat, der ich meine Frau anvertraut habe, es wagt, mir zu sagen, ich soll schweigen, wenn ich sie von ihr zurückverlange.«

Die Erwiederung war so scharf, daß Madame Desmarets vernichtet schien.

»Aber, mein Herr,« rief sie in Thränen zerfließend, »nur Mütter werden ihre Töchter von mir zurücknehmen!«

»Und ich, Madame,« sprach Justin, empört über den Egoismen dieser Frau, weiche vor einem Schmerze, wie der seine war, sich nur mit dem Nachtheile beschäftigte, den die Entfliehung von Mina ihrem Hause bringen konnte, »und ich Madame, wäre ich Richter, so ließe an den Giebel Ihres Pensionnats eine infamirende Schrift setzen, welche von diesem Hause alle Mütter abwenden würde.«

»Aber, mein Herr, Ihr Unglück wird sich nicht mildern durch den Schaden, den Sie mir zufügen.«

»Nein; doch der Schaden, den ich Ihnen zufüge, wird verhindern, daß Anderen ein dem meinen ähnliches Unglück widerfährt.«

»Im Namen der Liebe, die ich für Mina hegte, mein Herr, richten Sie mich nicht zu Grunde.«

»Im Namen des Vertrauens, das ich zu Ihnen hegte, verlangen Sie nichts von mir!«

Es herrschte im Gesichte von Justin eine so verzweifelte Entschiedenheit, daß Madame Desmarets einsah, sie habe nichts von ihm zu erwarten.

Sie schien also ihren Entschluß zu fassen und sagte mit einer Miene der Resignation:

»Es wird geschehen, wie Sie wollen, mein Herr, und ich werde stillschweigend meine Strafe erdulden.«

Justin bedeutete mit dem Kopfe nickend, das sei seiner Ansicht nach das Beste, was Madame Desmarets thun könne.

Sodann, nach einigen Minuten eines Schweigens, das wie Blei auf dem jungen Manne und der Vorsteherin der Pension lastete, sagte diese:

»Mein Herr, wollen Sie mir nun Ihrerseits auch erlauben, ein paar Fragen an Sie zu richten?«

»Thun Sie es, Madame.«

»Welcher Ursache schreiben Sie das Verschwinden von Mina zu?«

»Das weiß ich noch nicht; doch die Justiz wird mich hoffentlich hierüber unterrichten.«

»Sie wissen ganz gewiß, daß sie nicht freiwillig verschwunden ist?«

Das Herz von Justin schwoll an bei diesem Schimpf den man seiner weißen Braut anthat.

»Wie, Sie, die Sie Mina seit sechs Monaten vor den Augen haben, können eine solche Frage an mich richten?«

»Ich fragte Sie, ob Sie Ihrer Liebt sicher seien?«

»Sie haben ihren Brief gelesen: wen ruft sie denn zu Hilfe?«

»Sie wäre also mit Gewalt entführt worden?«

»Ohne allen Zweifel.«

»Aber, mein Herr, das ist unmöglich: die Mauern sind hoch, die Fenster fest geschlossen; Mina hätte geschrien!«

»Madame, es gibt Leitern für alle Mauern, Brecheisen für alle Fenster, Knebel für jeden Mund.«

»Sind Sie im Zimmer von Mina gewesen?«

»Nein, Madame.«

»Ei! das war das Erste, was Sie hätten thun sollen! Gehen Sie auf der Stelle dahin, wenn Sie wollen.«

»Gehen wir im Gegentheile nicht dahin, Madame, ich bitte Sie inständig.« .

»Das ist aber das einzige Mittel, um uns zu versichern, ob sie nicht dort ist.«

»Und dieser Brief?«

»Wenn man in Folge einer Berechnung, die ich mir nicht erkläre, wenn man, um einen lichtscheuen Plan zu vollbringen, Ihnen einen falschen Brief zugeschickt hätte, wenn Mina nicht entführt wäre, wenn sie in ihrem Zimmer wäre . . . «

Etwas einer Blendung Aehnliches zog vor den Augen von Justin vorüber.

Er begriff selbst so wenig von dem, was geschah, daß diese Hoffnung, so unsinnig sie auch war, in sein Herz einzudringen anfing. Dem zu Folge entschloß er sich, trotz der Ermahnungen von Salvator mit Madame Desmarets hinabzugehen bis zur Thüre des abgesonderten Zimmers, welches das Mädchen bewohnte.

Vor dieser Thüre gelangt, klopfte Madame Desmarets, – während Justin, die Hand auf seiner Brust, die Schläge seines Herzens zurückdrängte, – Madame Desmarets klopfte sachte, dann stärker, dann immer stärker an; es war vergeblich: Niemand antwortete.

Sie versuchte es, die Thüre zu erschüttern; ebenfalls vergeblich: die Thüre war von innen geschlossen.

Madame Desmarets schlug nun vor, den Schlosser holen zu lassen; doch Justin, den diese Todesstille wieder in seine erste Verzweiflung zurückgeworfen hatte-, erinnerte sich der Ermahnungen von Salvator und widersetzte sich förmlich, daß der Schlosser die Thüre öffne.

»Sehen wir wenigstens vom Garten aus, ob man nicht Jemand durch das Fenster erblickt,« sagte die Vorsteherin der Pension.

»Verzeihen Sie, Madame,« entgegnete Justin, »der Eintritt in den Garten ist vorläufig Jedermann verboten.«

»Selbst mir?«

»Ihnen wie den Andern, Madame.«

»Aber, mein Herr, ich bin in meinem Hause!«

»Sie irren sich, Madame; überall, wo das Gesetz ist, ist das Gesetz zu Hause, und im Namen des Gesetzes verbiete, ich Ihnen, in diesen Garten einzutreten.«

Und zu größerer Sicherheit schloß er die Thüre doppelt, zog dann den Schlüssel ab und steckte ihn in seine Tasche.

Madame Desmarets hatte große Lust, zu appellieren, zu schreien, im Nothfalle sogar den Commissär zu holen, um Justin aus ihrem Hause bringen zu lassen; doch sie begriff, dieser junge Mann, den sie immer so demüthig und sanft gesehen, würde nicht so handeln, wäre er nicht der Unterstützung sicher.

»Was Justin betrifft, – er lehnte sich ruhig an die Gartenthüre an.

»Gedenken Sie lange als Schildwache vor dieser Thüre zu bleiben, mein Herr?« fragte die Vorsteherin der Pension.

»Bis die Leute, welche ich erwarte, angekommen sind.«

»Und wann werden Sie ankommen?«

»Nie so schnell, als ich es wünsche, Madame.«

»Und von wo kommen Sie?«

»Von Paris.«

»Dann erlauben Sie, daß ich Sie einen Augenblick verlasse, mein Herr!« sagte Madame Desmarets.

»Thun Sie das, Madame,« erwiderte Justin.

Und er verbeugte sich, als wollte er Madame Desmarets Urlaub geben.

Diese ging in ihr Zimmer hinauf und kleidete sich schleunigst an; sobald sie angekleidet war, öffnete sie ihr Fenster und schaute durch den Laden hinaus auf die Straße nach Paris.

Ungefähr nach einer halben Stunde sah sie einen Wagen erscheinen, der rasch herbeikam und vor der Thüre hielt.

Zwei Männer stiegen aus: Herr Jackal und Salvator.

Herr Jackal wollte anläuten, als sich die Thüre des Pensionnats von selbst öffnete oder vielmehr von Justin geöffnet wurde, der, da er das Geräusch eines Wagens gehört und vermuthet hatte, der Wagen bringe Herrn Jackal und Salvator, diesen in seiner Ungeduld entgegenlief.

Salvator, als er die Aufregung und die Blässe des jungen Mannes wahrnahm, ergriff seine Hand, drückte sie herzlich und sprach:

»Auf, Muth, mein armer Herr Corby! Glauben Sie mir, es gibt Mißgeschicke, welche noch größer sind, als das Ihrige.«


Und er dachte an das Unglück von Carmelite, welche zu sich kam, ihre Vernunft wiedererlangte und erfuhr, Colombau sei todt.

LXXIII
Die Haussuchung

Herr Jackal, da er von Salvator erfahren hatte, Justin sei der Bräutigam von Mina, verbeugte sich tief vor dem jungen Manne und fragte ihn, oh Niemand in das Zimmer oder in den Garten gekommen.

»Niemand, mein Herr,« antwortete Justin.

»Sie sind dessen sicher, mein Herr?«

»Hier ist der Schlüssel vom Garten.«

»Und der vom Zimmer von Mademoiselle Mina?i«

»Die Thüre ist von innen geschlossen.«

»Ah!« machte Herr Jackal.

Und eine ungeheure Prise schlürfend, sagte er:

»Wir werden das sehen.«

Geleitet von Justin, kam er sodann in eine Art von Sprachzimmer, das zwischen dem Hofe und dem Garten lag, und von wo der nach dem Zimmer von Mina führende Corridor ausging.

Umherschauend, fragte nun Herr Jackal:

»Wo ist die Vorsteherin der Anstalt?«

In diesem Augenblicke trat Madame Desmarets ein.

»Hier bin ich, meine Herren,« sagte sie.

»Die Personen, welche ich von Paris erwartete,« sprach Justin.

»Wußten Sie etwas vom Verschwinden von Mademoiselle Mina vor der Ankunft dieses Herrn?« fragte Herr Jackal auf Justin deutend.

»Nein, mein Herr,« antwortete Madame Desmarets mit bewegter, zitternder Stimme; »ich habe sogar noch keine Gewißheit über dieses Verschwinden, da wir nicht in das Zimmer von Mina eingetreten sind.«

»Seien Sie unbesorgt, wir werden sogleich eintreten,« versetzte Herr Jackal.

Und seine Brille bis zum Niveau seiner Nasenspitze niederlassend, betrachtete er, nach seiner Gewohnheit, Madame Desmarets forschend über die zwei Gläser, welche, wie gesagt, mehr bestimmt schienen, seine Augen; zu verbergen, als seinen Blick aufzuhellen, worauf er seine Brille wieder zurecht setzte und den Kopf schüttelte.

Salvator und Justin erwarteten mit Ungeduld die Fortsetzung des Verhörs.

»Wenn diese Herren in den Salon eintreten wollten?« sagte Madame Desmarets; »sie wären dort besser, als in diesem Sprachzimmer.«

»Ich danke,« erwiderte Herr Jackal, der, aufs Neue umherschauend, bemerkte, er habe instinctartig und als ein vollendeter General sein Lager in einer vortrefflichen Position aufgeschlagen. »Seien Sie nur wohl durchdrungen, Madame, von der Verantwortlichkeit der Vorsteherin einer Pension, der eine ihrer Pensionnaires fehlt, und überlegen Sie, ehe Sie auf meine Fragen antworten.«

»Oh! mein Herr, ich kann nicht schmerzlichen angegriffen sein, als ich es bin, erwiderte Madame Desmarets, ihre Thränen abwischend, »und das Ueberlegen, ehe ich antworte, ist unnötig, da ich nur die Wahrheit antworten werde.«

Herr Jackal machte ein kleines Zeichen der Beistimmung und fuhr dann fort:

»Um welche Stunde gehen Ihre Pensionnaires zu Bette, Madame?«

»Im Winter um acht Uhr, mein Herr.«

»Und die Unterlehrerinnen?«

»Um neun Uhr.«

»Wachten Einige länger, als die Anderen?««

Eine Einzige.«

»Um wie viel Uhr geht sie zu Bette?«

»Um halb zwölf Uhr oder um Mitternacht.«

»Wo schläft sie?«

»Im ersten Stocke.«

»Ueber dem Zimmer von Mademoiselle Mina?i«

»Nein; die Person, welche wacht, bewohnt ein Zimmer, das zugleich auf den Schlafsaal und auf die Straße geht, während das Zimmer der armen kleinen Mina auf den Garten geht.«

»Und Sie, Madame, wo wohnen Sie ist?«

»In einem Zimmer des ersten Stockes, das an den Salon anstößt und auf die Straße geht«

»Folglich geht keines von Ihren Fenstern auf den Garten?«

»Nur mein Ankleidecabinet erhält das Licht von dieser Seite.«

»Um wie viel Uhr sind Sie gestern eingeschlafen?«

»Ungefähr gegen elf Uhr.«

»Ah!« sagte Herr Jackal, »machen wir zuerst die Runde nur das Haus; kommen Sie mit mir, Herr Salvator. Sie, Herr Justin, bleiben Sie hier und leisten Sie Madame Gesellschaft.«

Man gehorchte Herrn Jackal, rote man einem Heerführer gehorcht hätte.

Salvator folgte dem Polizeimanne. Justin blieb bei Madame Desmaretes; sie fiel auf einen Stuhl und brach in ein Schluchzen aus.

»Diese Frau ist nicht bei der Sache betheiligt,« sagte Herr Jackal, während er die Freitreppe hinabstieg und den Hof durchschritt, um die nach der Straße führende Thüre zu erreichen.

»Woran sehen Sie das?« fragte Salvator.

»An ihren Thränen,« antwortete Herr Jackal; »die Schuldigen zittern, sie weinen nicht.«

Herr Jackal untersuchte das Haus.

Es bildete eine Ecke an der Straße und an einem einsamen, aber gepflasterten Gäßchen.

Herr Jackal folgte diesem Gäßchen wie ein Leitbund der Fährte des Wildes.

Links erhob sich in einer Länge von ungefähr fünfzig Fuß die Mauer des Gartens vom Pensionnat, über der man die Bäume erblickte.

Herr Jackal ging mit einer außerordentlichen Aufmerksamkeit am Fuße der Mauer hin.

 

Salvator folgte Herrn Jackal.

Der Polizeimann betrachtete das Gäßchen, den Kopf schüttelnd.

»Ein schlimmes Gäßchen bei Nacht,« sagte er; »diese Gäßchen sind ausdrücklich gemacht für die Entführungen und die Diebstahle durch Einsteigung.«

Nach ungefähr fünfundzwanzig Schritten bückte sich Herr Jackal und hob ein Stückchen Gipse auf, das sich von der Firste der Mauer abgelöst hatte, – sodann ein zweites, dann ein drittes. Er betrachtete diese Stückchen einen Augenblick und wickelte sie dann mit der grüßten Sorgfalt in sein Taschentuch.

Hiernach hob er ein Stück von einem zerbrochenen Ziegel auf und warf es über die Mauer, damit es jenseits niederfalle.

»Ist man hier passiert?« fragte Salvator.

»Wir werden das sogleich sehen,« ermiederte Herr Jackal. »Gehen wir ins Haus zurück!«

Salvator und Herr Jackal fanden Justin und Madame Desmarets auf demselben Platze wieder, wo sie dieselben verlassen hatten.

»Nun, mein Herr?« fragte Justin.

»Das kocht,« erwiderte Herr Jackal.

»Oh! ich bitte, mein Herr, haben Sie etwas gesehen, eine Spur erkannt?«

»Sie sind Musiker, junger Mann, und Sie kennen folglich das Sprichwort: ›Gehen wir nicht schneller als der Geiger.‹ Ich bin der Geiger; folgen-Sie mir; laufen Sie mir aber nicht vor! . . . Herr Justin, den Gartenschlüssel, wenns beliebt.«

Justin übergab den Schlüssel Herrn Jackal, ging in den Corridor und sagte:

»Hier ist die Thüre des Zimmers von Mina.«

»Es ist gut, gute die Reihe kommt an Alles; wir werden uns später hiermit beschäftigen,« erwiderte Herr Jackal.

Und er öffnete die Gartenthüre; nun blieb er auf der Schwelle stehen und umfaßte mit einem Blicke das Ganze der Oertlichkeiten, die er im Einzelnen untersuchen sollte.«

»Gut!« sagte er, »hier muß man Vorsicht gebrauchen und marschieren, wie wenn die Hühner ins Feld gehen! Folgen Sie mir, wenn Sie wollen, jedoch in der Ordnung, die ich Ihnen angeben werde; ich als der Erste, Herr Salvator als der Zweite, Herr Justin als der Dritte, Madame Desmarets als die Vierte . . . Das ist es! und nun lassen Sie uns ineinandertreten.«

Herr Jackal wandte sich offenbar nach dem Theil der Mauer, welchen er schon von außen untersucht hatte; statt den Garten schräg zu durchschneiden, folgte er indessen der Allee, welche längs der Mauer hinlief, und ihn nötigte, einen Winkel, dem ähnlich, den das Haus und die Mauer bildeten, zu beschreiben.

Ehe er sich entfernte, warf er über seine Brille einen Blick nach dem Zimmer von Mina: die Läden desselben waren geschlossen.

»Hm!« machte er.

Und er setzte sich in Marsch.

Die mit gelbem Sande überfahrene Allee bot nichts Außerordentliches; nachdem er aber innen fünfundzwanzig Schritte rückwärts von der Mauer gemacht hatte, blieb Herr Jackal stehen, hob das Stück Ziegel auf, das er über die Mauer geworfen, um sich desselben als eines Zeichens zu bedienen, zeigte Salvator eine frischer in die Rabatte eingedrückte Spur und sagte:

»Wir sind dabei!«

Nicht nur die Blicke von Salvator, sondern auch die von Justin und von Madame Desmarets senkten sich der Richtung des Fingers von Herrn Jackal folgend.

»Sie glauben also, hierdurch sei das arme Kind entführt worden?« fragte Salvator.

»Das unterliegt keinem Zweifel,« erwiderte der Polizeimann.

»Mein Gott! mein Gott!« murmelte Madame Desmarets, »eine Entführung in meinem Pensionnat!«

»Mein Herr,« sprach Justin, »geben Sie uns um des Himmels willen irgend eine Gewißheit!«

»Oh! die Gewißheit; schauen Sie selbst, mein lieber Freund, und Sie werden sie haben.«

Und indeß Justin schaute, zog Herr Jackal, der sich endlich auf einer sichern Spur fühlte, seine Dose aus seiner Tasche und stopfte sich die Nase mit Tabak voll, während er zugleich die Erde unter seiner Brille durch und Madame Desmarets über seine Brille hin anschielte.

»Aber, mein Herr, was bemerken Sie?« fragte Justin ungeduldig.

»Diese zwei Löcher in der Erde, verbunden, wie Sie sehen, durch eine gerade Linie.«

»Erkennen Sie nicht die Spur einer Leiter?« fragte Salvator Justin.

»Bravo, das ist es!«

»Aber diese Querlinie?« fuhr Justin fort.

»Weiter, weiter,« sagte Herr Jackal zu Salvator.

»Das ist,« erwiderte dieser, »die letzte Sprosse, die sich wegen der Feuchtigkeit des-Bodens, einen Zoll tief in die Erde eingedrückt hat.«

»Nun fragt es sich,« sprach Herr Jackal, »wie viel Menschen auf einer Leiter lasten mußten, um die Stangen einen halben Fuß und das Querholz einen Zoll in die Erde eindringen zu machen.«

»Untersuchen wir die Tritte,« sagte Salvator.

»Oh! die Tritte, das ist sehr verworren! Es können übrigens zwei Menschen in denselben Tritten gegangen sein; wir haben Bursche, weiche sich keines andern Systems bedienen, um ihre Spuren zu verbergen.«

»Wie werden Sie es denn machen?«

»Das ist ganz« einfach,« erwiderte Herr Jackal.

Und er wandte sich gegen die Vorsteherin der Pension um, welche nicht viel mehr von Allem dem, was man sagte, verstand, als wenn man Arabisch über Sanscrit gesprochen hätte, und fragte sie:

»Madame, ist eine Leiter im Hause?«

»Ja, die des Gärtners.«

»Wo ist sie?«

»Unter dem Schoppen wahrscheinlich.«

»Und der Schoppen?«

»Dort jenes kleine mit Stroh bedeckte Gebäude.«

»Rühren Sie sich nicht: ich will die Leiter selbst holen.

Und Herr Jackal machte mit ziemlich viel Leichtigkeit einen Sprung von ungefähr fünf Fuß, um über die zahlreichen Spuren zu kommen, die man sowohl in den Sand der Alleen, als in den umliegenden Rabatten eingedrückt sah, und denen er, seinem methodischen Geiste zufolge, erst Aufmerksamkeit schenken zu wollen schien, wenn die Zeit, sie zu untersuchen, gekommen wäre.

Nach einer Minute lief er mit der Leiter herbei.

»Verschaffen wir uns vor Allem über Eines Sicherheit,« sagte Herr Jackal.

Er richtete die Leiter auf und brachte die zwei Stangen mit den zwei Löchern in Verbindung.

»Gut!« sagte er, »hier ist schon ein Beweisstück: wir haben wahrscheinlich die Leiter, der man sich bedient hat: die Leiterstangen und die Löcher passen genau zusammen.«

»Aber sind denn nicht alle Leitern ungefähr nach demselben Maße gemach?« fragte Salvator.

»Dieses ist breiter, als die Leitern gewöhnlich sind. Der Gärtner hat einen Lehrling, einen Zögling, einen Sohn, nicht wahr, Madame Desmarets?«

»Er hat einen Knaben von zwölf Jahren, mein Herr!«

»Gut! er läßt sich von dem Knaben helfen, den er wahrscheinlich seine Kunst lehrt, und er hat eine breitete Leiter gekauft, damit der Knabe zugleich mit ihm hinaufsteigen kann.«

»Mein Herr,« sagte Justin, »ich bitte Sie inständig, lassen Sie uns zu Mina zurückkehren!«

»Wir kehren zu ihr zurück, nur auf einem Umwege.«

»Ja; doch dieser Umweg macht, daß wir Zeit verlieren.«

»Mein lieber Herr,« erwiderte der Polizeimann, »bei Angelegenheiten dieser Art liegt nichts an der Zeit; von zwei Dingen eines: entweder bringt derjenige, welcher Ihre Braut entführt, diese aus Frankreich weg, und er ist schon zu weit, als daß wir ihn einholen können,oder er gedenkt sie in der Umgegend von Paris zu verbergen, und in diesem Falle werden wir, ehe drei Tage vergehen, wissen, wo er ist.«

»Ah! Gott höre Sie, Herr Jackal! . . . Sie sagten aber, Sie werden erfahren, wie viel Menschen zu der Entführung beigetragen.«

»Ich beschäftige mich mit dieser Untersuchung.«

Herr Jackal richtete in der That die Leiter an der Mauer in einer Entfernung von ungefähr drei Fuß von der Stelle auf, wo die erste Spur war: dann stieg er fünf bis sechs Sprossen hinauf, blieb aber auf jeder Stufe stehen, um zu sehen, bis zu welcher Tiefe die Leiterstangen sich eindrückten.

Die Stangen hatten sich nicht über drei Zolltief eingedrückt.

»Von der Mitte der Leiter überschaute Herr Jackal den Garten: er erblickte einen Menschen in einem Wammse auf der Thürschwelle am Corridor.

»Halt! mein Freund; wer seid Ihr?« rief er.

»Ich bin der Gärtner von Madame Desmarets,« antwortete der gute Mann.

»Madame,« sagte Herr Jackal, »constatiren Sie die Identität dieses Menschen und führen Sie ihn auf demselben Wege, den wir genommen hatten, hierher.«

Madame Desmarets gehorchte.

»Ich sage es Ihnen, Herr Justin, – und ich wiederhole es Ihnen Herr Salvator, – diese Frau hat keinen Antheil an der Entführung des Kindes.«

Madame Desmarets kam mit dem Gärtner zurück, der ganz verwundert war, da er in seinem Garten einen auf seiner Leiter stehenden Mann fand.

»Mein Freund,« fragte ihn Herr Jackal, »habt Ihr gestern im Garten gearbeitet?«

»Nein Herr, es war gestern Fastnacht, und in einem Hause, das so wohlgeordnet ist, wie das von Madame Desmarets, arbeitet man an Festtagen nicht.«

»Gut! Und vorgestern?«

»Vorgestern war Montag vor Fastnacht und an diesem Tage ruhe ich aus.«

»Und am vorhergehenden Tage?«

»Am vorhergehenden Tage war der Sonntag vor Fastnacht, ein größeres Fest als der Dienstag.«