Loe raamatut: «Die Zwillingsschwestern von Machecoul», lehekülg 16
XIV.
Der Lärm
Der Mann, welcher so unerwartet im Salon des Marquis von Souday erschien, war der Generalcommissär des künftigen Vendéeheeres. Er nannte sich Pascal, um seinen wahren wohlbekannten Namen zu verbergen.
Er war einige Male im Auslande gewesen, um sich mit der Herzogin zu besprechen, und kannte sie daher sehr gut. Vor kaum zwei Monaten hatte er die letzte Reise zu diesem Zwecke gemacht und die Befehle Ihrer königlichen Hoheit erhalten.
Er hatte nach seiner Rückkehr die Vendéer aufgefordert, sich bereit zu halten.
»Aha!« sagte der Marquis von Souday, der durch Aufwerfen der Unterlippe zu erkennen gab, daß er den Advocaten keine übergroße Bewunderung zollte, »der Herr Generalcommissär Pascal!«
»Der uns gewiß etwas Neues zu berichten hat,« sagte Petit-Pierre, in der sehr deutlichen Absicht, die Aufmerksamkeit des neuen Gastes ausschließend auf sich zu lenken.
Der Civilcommissär stutzte, als er die Stimme hörte, und sah sich nach Petit-Pierre um, der ihm mit Augen und Lippen einen kaum bemerkbaren, aber für ihn gewiß verständlichen Wink gab.
»O ja, etwas Neues.« erwiderte er.
»Gute oder schlechte Nachrichten?« fragte Louis Renaud.
»Gute und schlechte. Aber ich fange mit einer guten Nachricht an.«
»Lassen Sie hören.«
»Die Herzogin hat die Reise durch die südlichen Provinzen glücklich beendet und ist gesund und wohlbehalten in der Vendée angekommen.«
»Wissen Sie das gewiß?« fragten zugleich der Marquis von Souday und Louis Renaud.
»So gewiß als ich Sie alle Fünf frisch und gesund in diesem Salon sehe,« antwortete Pasqual. »Jetzt zu den anderen Nachrichten.«
»Haben Sie etwas von Montaigu gehört?« fragte Louis Renaud.
»Es ist heute zu Ruhestörungen gekommen,« sagte Pasqual, »die Nationalgarde hat gefeuert, einige Bauern sind todt und verwundet.«
»Wissen Sie, was dazu die Veranlassung gab?« fragte Petit-Pierre.
»Ein auf dem Jahrmarkte entstandener Streit, der zuletzt in eine Meuterei ausartete.«
»Wer führt den Befehl in Montaigu?« fragte Petit-Pierre.
»Ein Capitän,« antwortete Pascal, »aber wegen des Jahrmarktes hatte sich der Divisionsgeneral mit dem Unterpräfecten dahin begeben.«
»Wissen Sie den Namen des Generals?«
»Dermoncourt.«
»Was für ein Mann ist der General Dermoncourt?«
»Er ist ein Mann von etwa sechzig Jahren, und hat alle Kriege in der Revolutionszeit und unter dem Kaiserreich mitgemacht; er ist ein eiserner Charakter, er wird Tag und Nacht zu Pferde seyn und uns keinen Augenblick Ruhe lassen.«
»Es ist gut,« erwiderte Louis Renaud lachend, »wir wollen ihn schon müde hetzen, und da wir im Durchschnitt nur halb so alt sind wie er, so müßten wir viel Unglück haben oder sehr ungeschickt seyn, wenn es uns nicht gelänge!«
»Seine politische Meinung?« fragte Petit-Pierre.
»Ich glaube,« antwortete Pascal, »daß er republicanisch gesinnt ist.«
»Trotz einer zwölfjährigen Dienstzeit unter dem Kaiserreich? er muß ein zäher Charakter seyn.«
»Es gibt ihrer noch Andere. Sie wissen, was Heinrich IV. von den Liguisten sagte: Das Faß behält immer den Häringsgeruch.«
»Und übrigens?«
»Uebrigens ist er aufrichtig und bieder – freilich ein Eisenfresser, und wenn Madame das Unglück hätte, ihm in die Hände zu fallen —«
»Was sagen Sie da?« unterbrach ihn Petit-Pierre.
»Ich bin Advocat,« erwiderte der Civilcommissär. »und in dieser Eigenschaft bin ich auf alle möglichen Wendungen eines Prozesses gefaßt. Ich wiederhole daher: Wenn Madame das Unglück hätte, ihm in die Hände zu fallen, so könnte sie selbst über seine Ritterlichkeit urtheilen.«
»Es ist also ein Feind, wie ihn die Herzogin selbst wählen würde: kräftig, tapfer und bieder,« sagte Petit-Pierre. »Meine Herren, wir haben gute Aussichten! – Aber Sie sagten, man habe an der Furt der Boulogne geschossen.«
»Ich vermuthe wenigstens, daß die Schüsse, die ich unterwegs gehört habe, dort gefallen sind.«
»Viel1eicht,« sagte der Marquis, »wäre es gut, wenn Bertha ein bisschen recognoscirte; sie würde uns melden was vorgeht.«
Bertha stand auf.
»Wie, Mademoiselle?« sagte Petit-Pierre.
»Warum nicht?« fragte der Marquis.
»Weil es, wie mich dünkt, ein Geschäft für einen Mann ist —«
»Mein junger Freund,« erwiderte der alte Landedelmann, »in solchen Dingen verlasse ich mich, nächst mir selbst, nur auf Jean Oullier, und nach ihm auf Bertha oder Mary. Ich wünsche Ihnen Gesellschaft zu leisten, Jean Oullier ist nicht zu Hause, also erlauben Sie, daß Bertha auf Kundschaft ausgeht.«
Bertha entfernte sich. Aber in der Thür begegnete sie ihrer Schwester, welche ihr einige Worte zuflüsterte.
»Da ist Mary,« sagte Bertha.
»Hast Du etwa Schüsse gehört?« fragte der Marquis.
»Ja, Vater,« sagte Mary, »es wird gekämpft.«
»Wo denn?«
»In der Baugéschlucht.«
»Weißt Du das gewiß?«
»Ja, ich habe deutlich gehört, daß in der Schlucht geschossen wird.«
»Hören Sie wohl?« sagte der Marquis. »Der Bericht ist ganz genau. – Wer hütet die Thür in deiner Abwesenheit?«
»Rosine Tinguy.«
»Horch!« sagte Petit-Pierre.
Es wurde heftig und rasch an das Schloßthor geklopft.
»Diable!« sagte der Marquis, »das ist Keiner von den Unsrigen.«
Alle lauschten mit großer Aufmerksamkeit.
»Aufgemacht!« rief eine Stimme, »es ist kein Augenblick zu verlieren!«
»Es ist seine Stimme,« sagte Mary.
»Seine Stimme?« wiederholte der Marquis, »wessen Stimme?«
»Ja, die Stimme des jungen Baron Michel,« sagte Bertha, welche sie ebenfalls erkannt hatte.
»Was will der Krautkopf hier?« sagte der Marquis, auf die Thür zutretend, um ihm den Eingang zu wehren.
»Lassen Sie ihn hereinkommen, Marquis,« sagte Bonneville, »der ist nicht zu fürchten, ich bürge für ihn.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so hörte man hastige Fußtritte auf den Salon zukommen, und der junge Baron Michel stürzte bleich, athemlos, mit Schlamm bedeckt, von Schweiß triefend in die Thür.
Er hatte kaum noch die Kraft, den Anwesenden zuzurufen: »Es ist kein Augenblick zu verlieren – Fliehen Sie – sie kommen —«
Er sank auf ein Knie und stützte eine Hand auf den Fußboden. Der Athem ging ihm aus, seine Kräfte schwanden – er hatte Wort gehalten: in sechs Minuten war er eine halbe Lieue gelaufen.
Im Salon entstand eine unbeschreibliche Verwirrung.
»Zu den Waffen!« rief der Marquis.
Er griff nach seiner Flinte und deutete mit dem Finger auf einige andere Jagdgewehre, die in einer Ecke des Salons hingen. Der Graf von Bonneville und Pascal traten vor Petit-Pierre hin, um ihn zu vertheidigen.
Mary eilte auf den jungen Baron zu, um ihn aufzuheben und ihm nöthigenfalls Hilfe zu leisten, Bertha riß das dem Walde zugewandte Fenster auf.
Man hörte nun einige noch ziemlich entfernte Schüsse.
»Sie sind jetzt auf dem Ziegenwege,« sagte Bertha.
»Das glaube ich nicht,« sagte der Marquis, »einen so halsbrechenden Weg werden sie nicht betreten.«
»Gaube es nur, Vater,« versicherte Bertha, »sie sind auf dem Ziegenwege.«
»Ja, ja,« stammelte Michel, »ich habe sie gesehen – sie trugen Fackeln – ein Weib ging voran und zeigte ihnen den Weg – der General folgte zu Pferde.«
»O, der verwünschte Jean,« eiferte der Marquis, »warum muß er sich gerade jetzt im Walde herumtreiben!«
»Er kämpft, Herr Marquis,« sagte der junge Baron, »er hat mich hierhergeschickt, da er nicht selbst kommen konnte.«
»Jean Oullier?« fragte der Marquis zweifelnd.
»Aber ich hatte mich aus eigenem Antriebe auf den Weg gemacht, mein Fräulein, fuhr Michel fort, »seit gestern wußte ich, daß man das Schloß Souday angreifen wollte; aber ich war eingesperrt; ich bin aus dem Fenster gestiegen.«
»Großer Gott,« sagte Mary erblassend.
»Bravo!« sagte Bertha.
»Meine Herren,« sagte Petit-Pierre gelassen, »ich glaube, daß ein rascher Entschluß gefaßt werden muß. Sollen wir kämpfen? dann müssen wir uns bewaffnen, die Thüren verrammeln und unsere Posten einnehmen. Sollen wir fliehen! Dann ist noch weniger Zeit zu verlieren.«
»Wir wollen uns vertheidigen!« sagte der Marquis.
»Nein, wir müssen fliehen,« entgegnete Bonneville, »erst wenn Petit-Pierre in Sicherheit ist, wollen wir uns zur Wehr setzen.«
»Was sagen Sie da, Graf?« fragte Petit-Pierre.
»Ich sage, daß gar keine Vorkehrungen getroffen sind und daß wir nicht kämpfen können; nicht wahr, meine Herren?«
»Man kann sich immerhin zur Wehr setzen,« sagte die heitere sorglose Stimme eines Neuankommenden, der zu der Gesellschaft im Salon und zugleich zu zwei anderen jungen Männern sprach, die ihm folgten, und mit denen er wahrscheinlich vor der Thür zusammengetroffen war.
»Ah, Gaspard!« sagte Bonneville und eilte dem Eintretenden entgegen, um ihm einige Worte zuzuflüstern.
»Meine Herren,« sagte Gaspard, »der Graf von Bonneville hat vollkommen Recht. Wir müssen uns zurückziehen. Herr Marquis, ist in Ihrem Schlosse vielleicht ein geheimer Ausgang? Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die letzten Schüsse, die wir Drei, Achille, Coeur-de-Lion und ich, vor der Thür hörten, waren nur noch etwa fünfhundert Schritte von hier entfernt.«
»Meine Herren,« sagte der Marquis von Souday, »Sie sind in meinem Hause, ich bin für Alles verantwortlich. Hören Sie mich an – heute müssen Sie mir gehorchen; morgen werde ich gehorchen.«
Tiefe Stille folgte.
»Mary,« setzte der Marquis hinzu, »laß das Schloßthor schließen, aber nicht verrammeln, damit man es öffnen kann, sobald geklopft wird. – Bertha, in den Keller, ohne einen Augenblick zu verlieren. – Ich werde mit meinen Töchtern den General empfangen und die Honneurs des Hauses machen – und morgen kommen wir zu Ihnen, wo Sie auch seyn mögen; Sie müssen mich nur davon in Kenntniß setzen.«
Mary eilte hinaus, um den Befehl ihres Vaters zu vollziehen. Bertha gab Petit-Pierre einen Wink, entfernte sich mit ihm aus einer Seitenthür, ging über den Hof, trat in die Capelle, zündete an ihrer Lampe zwei Wachskerzen an, gab sie dem Grafen von Bonneville und Pascal in die Hand und drückte auf eine im Altare verborgene Feder. Ein Theil des Altars drehte sich und durch die Oeffnung erblickte man eine in die Familiengruft hinabführende Treppe.
»Sie können sich nicht verirren,« sagte Bertha, »Sie gehen die Treppe hinunter, und am andern Ende des unterirdischen Ganges werden Sie die Thür finden; der Schlüssel steckt darin. Die Thür führt auf das freie Feld.«
Petit-Pierre dankte Bertha mit einem warmen Händedruck und eilte mit Pascal und Bonneville, welche die Lichter trugen, die Treppe hinunter.
Louis Renaud, Achille, Coeur-de-Lion und Gaspard folgten.
Bertha machte die Thür hinter ihnen wieder zu.
Sie hatte bemerkt, daß der junge Baron Michel nicht unter den Flüchtigen war.
XV.
Gevatter Loriot
Der Marquis von Souday schaute den Flüchtlingen nach, bis daß sie alle in der Capelle verschwunden waren; dann machte er seiner gepreßten Brust durch einen tiefen Athemzug Luft und ging wieder in’s Haus.
Aber er begab sich nicht in den Salon zurück, sondern ging in die Küche.
Gegen seine Gewohnheit und zum größten Erstaunen der Köchin trat er an den Herd, hob sorgfältig jeden Topfdeckel auf und sah nach, ob die Ragouts nicht anbrannten, rückte die Bratspieße vom Feuer weg, ging in das Speisezimmer, untersuchte die Flaschen, warf einen forschenden Blick auf den Tisch und nachdem er Alles zu seiner Zufriedenheit gefunden, begab er sich wieder in den Salon.
Hier fand er seine beiden Töchter wieder. Rosine hatte Befehl, das Schloßthor zu öffnen, sobald geklopft würde.
Mary und Bertha saßen am Camin; die Erstere war unruhig, die Letztere in Gedanken vertieft.
Beide dachten an Michel.
Mary vermuthete, der junge Baron sey dem Grafen von Bonneville und Petit-Pierre gefolgt, und dachte an die Gefahren, denen er sich aussehen werde, an die Strapazen, die seine schon erschöpften Kräfte wohl schwerlich ertragen konnten.
Bertha dachte mit stillem Entzücken an die aufopfernde Liebe, von welcher der junge Baron einen so deutlichen Beweis gegeben hatte. Sie glaubte in seinen Blicken die Gewißheit gelesen zu haben, daß der sonst so schüchterne, unschlüssige junge Mann um ihretwillen muthig aller Gefahr getrotzt habe. Sie baute tausend Luftschlösser und machte sich bittere Vorwürfe, daß sie ihn nicht zur Rückkehr ins Schloß genöthigt, als sie bemerkt hatte, daß er den Flüchtlingen nicht folgte.
Dann dachte sie, er sey im Schlosse geblieben und habe sich in einem Winkel versteckt, um sie verstohlen zu betrachten; sie meinte, wenn sie in den Hof oder in den Park ginge, würde er auf einmal vor ihr stehen und zu ihr sagen: »Sehen Sie, was ich wage, um einen Blick von Ihnen zu bekommen!« Kaum hatte sich der Marquis in seinen Lehnstuhl gesetzt, so hörte er klopfen.
Er stutzte; nicht als ob ihm das Klopfen unerwartet gekommen wäre, sondern weil nicht so geklopft wurde, wie er erwartete.
Der späte Gast war gewiß kein Soldat, denn er hatte sehr bescheiden geklopft.
»Was ist das?« sagte der Marquis.
»Ich glaube, man hat geklopft,« sagte Bertha, aus ihrem Traume erwachend.
»Ja, es war ein einziger, leiser Schlag,« setzte Mary hinzu.
Der Marquis verließ den Salon, um selbst nachzusehen, ging über die Hausflur und trat auf die Außentreppe.
Statt der Säbel und Bajonnete und schnurrbärtigen Gesichter, die er erwartet hatte, sah er nur die Kuppel eines großen blauen Regenschirms, der langsam die Stufen herauf kam.
Der Marquis schien zu fürchten, daß ihm der aus dem Mittelpunkte des anrückenden Schirmes hervorstehende spitze Stock ein Auge ausstoßen könne; er hob daher das gewölbte leinene Dach auf, und erblickte ein Fuchsgesicht mit zwei kleinen funkelnden Augen und mit einem hohen, schmalen Filzhut, der durch langjährigen, ungebührlichen Gebrauch einen selbst in der Dunkelheit bemerkbaren Glanz bekommen hatte.
»Mille Diables!« sagte der Marquis höchst erstaunt, »das ist ja mein Gevatter Loriot!«
»Gehorsamst aufzuwarten,« erwiderte der neue Gast mit einer dünnen Fistelstimme.
»Sie kommen wie gerufen, Maître Loriot,« sagte der Marquis von Souday sehr vergnügt, als ob er von der Anwesenheit des Ankommenden eine Unterhaltung erwartete. »Ich erwarte diesen Abend zahlreiche Gesellschaft, und als Notar des Herrn vom Hause müssen Sie mir behilflich seyn, die Honneurs zu machen. Kommen Sie, und sagen Sie meinen Töchtern guten Abend.«
Der alte Landedelmann ging ohne Umstände voran: er gab dadurch zu erkennen, daß zwischen einem Marquis von Souday und einem Dorfnotar ein großer Abstand war.
Maître Loriot reinigte sich freilich auf der Strohdecke vor der Salonthür so sorgfältig die Füße, daß die Höflichkeit des Marquis, wenn er ihm den Vortritt gelassen hätte, ein wahrer Frohndienst geworden wäre.
Wir wollen die Zeit benutzen, wo er, von der halb offenen Thür beleuchtet, seinen Regenschirm zumacht und seine Füße reinigt, um sein Porträt zu entwerfen.
Maître Loriot, Notar zu Machecoul, war ein kleines dürres Männchen, und er schien noch um die Hälfte kleiner, als er wirklich war, weil er nur in tief gebückter Stellung zu sprechen pflegte.
Eine lange spitze Nase vertrat gewissermaßen die Stelle des Gesichtes, denn Alles, was nicht unmittelbar zu diesen Hauptorgan gehörte, war ihm von der Natur äußerst kärglich zugetheilt worden. Man mußte ihn lange und genau betrachten, um zu bemerken, daß Maître Loriot, wie andere Menschenkinder, Augen und einen Mund hatte; aber wenn man diese Entdeckung gemacht hatte, so bemerkte man, daß die Augen ungemein lebhaft waren und der Mund einen geistvollen Ausdruck hatte.
Maître Loriot, oder »Gevatter Loriot,« wie ihn der Marquis von Souday zu nennen pflegte, hielt die Versprechungen seines physiognomischen Prospectus: er war so klug und gewandt, daß er aus seinem Geschäft, welches seine Vorgänger kaum ernährt hatte, wohl dreißigtausend Francs herausschlug.
Um dieses bis dahin für unmöglich gehaltene Resultat zu erzielen, hatte Maître Loriot nicht das Gesetzbuch, sondern die Menschen studirt, und war in diesen Studien zu dem Schluß gekommen, daß Eitelkeit und Eigendünkel die vorherrschenden Schwächen der Menschen sind. Er hatte daher diesen Schwächen möglichst geschmeichelt und war denen, welche sie besaßen, bald unentbehrlich geworden.
Die Höflichkeit wurde bei Maître Loriot fast zur Unterwürfigkeit; er verneigte sich nicht, er katzbuckelte, und durch langjährige, anhaltende Uebung seines Rückens war ihm die gebückte Stellung zur Gewohnheit, zur andern Natur geworden. Sein dürrer Körper war eine beständig offene, nie geschlossene Parenthese, in welcher die Titel seiner Clienten vollkommen Platz fanden, und welche in seiner Anrede beständig wiederkehrten. Mit einem Baron, einem Chevalier oder auch nur mit einem »Herrn von« sprach der Notar nie anders als in der dritten Person.
Uebrigens zeigte er sich immer sehr dankbar für die Leutseligkeit, mit der man ihn behandelte, und da er die ihm anvertrauten Geschäfte mit beispiellosem Eifer besorgte, so hatte er unter dem Adel der Umgegend bald eine beträchtliche Kundschaft.
Einen großen Theil seiner Praxis in dem Département der Niederloire und selbst in den benachbarten Départements verdankte Maître Loriot seinen überspannten politischen Meinungen. Man konnte von ihm sagen: er war ein eifrigerer Royalist, als der König. Seine kleinen grauen Augen funkelten, wenn er den Namen eines Jacobiners aussprechen hörte, und für ihn waren alle liberalen Schattirungen von Châteaubriand bis Lafayette Jacobiner.
Das Julikönigthum wollte er nie anerkennen; Louis Philipp nannte er nie anders als »Herzog von Orléans,« und verweigerte ihm sogar den von Carl X. bewilligten Titel »königliche Hoheit.«
Maître Loriot war einer der gewöhnlichsten Gäste im Schlosse Souday. Es gehörte zu seiner Tactik, für diesen berühmten Ueberrest der vormaligen Gesellschaft, die er sehnlichst zurückwünschte, die tiefste Verehrung an den Tag zu legen. Und sein Respect war so groß, daß er sich sogar zu einigen Darlehen bequemt hatte, für welche der Marquis, dessen Saumseligkeit in Geldsachen wir kennen, die Zinsen nicht sehr regelmäßig bezahlte.
Der Marquis von Souday empfing seinen »Gevatter Loriot« immer sehr freundlich, theils weil er sein Schuldner war, theils weil er für Schmeicheleien keineswegs unempfänglich war, theils auch weil der Besitzer von Souday fast gar keinen Umgang mit den Nachbarn hatte und daher jede Zerstreuung, die ihm ein Besuch bereitete, in seiner Einsamkeit willkommen hieß.
Als der kleine Notar die Ueberzeugung gewonnen hatte, dass an seinen Schuhen keine Spur von Schmutz mehr war, trat er in den Salon.
Er verneigte sich noch einmal vor dem Marquis, der wieder in seinem Lehnstuhl Platz genommen hatte, und fing an die beiden Mädchen zu becomplimentiren.
Aber der Marquis ließ ihm nicht die Zeit, seine Kratzfüße zu beenden.
»Loriot,« sagte er zu ihm, »es wird mir immer sehr angenehm seyn, Sie zu sehen —«
Der Notar machte einen tiefen Bückling.
»Aber erlauben Sie mir eine Frage,« setzte der Marquis hinzu, »was führt Sie um halb zehn Uhr Abends und bei solchem Wetter in unsere Einöde? Wenn man einen Regenschirm hat, wie Sie, so ist der Himmel freilich immer blau.«
Loriot hielt es für seine Schuldigkeit, diesen Scherz zu belächeln und einige Worte des Beifalls zu lispeln; erst nachdem er sich dieser Pflicht entledigt hatte, antwortete er:
»Ich war im Schlosse La Logerie; ich ging sehr spät fort, denn ich hatte auf eine erst um zwei Uhr erhaltene Weisung der Eigenthümerin des besagten Schlosses Geld zu bringen. Als ich mich, meiner Gewohnheit gemäß, zu Fuß nach Hause begab, hörte ich im Walde einen nichts Gutes verkündenden Lärm, der mir das Gerücht von einem Aufstande zu Montaigu zu bestätigen schien. Ich fürchtete den Soldaten des Herzogs von Orléans zu begegnen und dachte, der Herr Marquis würde die Huld und Gnade haben, mich über Nacht zu beherbergen.«
Als der Name La Logerie genannt wurde, hoben Bertha und Mary die Köpfe.
»Sie kommen von La Logerie?« fragte der Marquis.
»Ja, wie ich bereits die Ehre hatte ganz gehorsamst zu bemerken,« erwiderte Maître Loriot.
»Wir haben diesen Abend auch schon einen Besuch von La Logerie gehabt.«
»Vielleicht der junge Baron Michel?« fragte der Notar.
»Ja.«
»Eben den suche ich.«
»Loriot,« sagte der Marquis, »ich halte Sie für einen Mann von festen Grundsätzen, und deshalb wundert es mich, daß Sie einen Titel, den Sie sonst achten, durch die Verbindung mit dem Namen Michel herabwürdigen.«
Bertha wurde feuerroth; Mary erblaßte.
Der Marquis bemerkte den Eindruck nicht, den diese Worte auf seine Töchter machten, aber das kleine graue Auge des Notars sah schärfer. Loriot wollte antworten, aber der Marquis gab ihm durch einen Wink zu verstehen, dass er noch nicht Alles gesagt hatte.
»Und warum,« fuhr er fort, »warum halten Sie einen Vorwand für nothwendig, um in unser Haus zu kommen, wo Sie doch immer freundlich aufgenommen werden?«
»Herr Marquis —« stammelte Loriot.
»Sie wollen Michel suchen, nicht wahr? Warum sagen Sie nicht die Wahrheit?«
»Ich bitte ganz gehorsamst um Entschuldigung, Herr Marquis. Die Mutter des jungen Menschen, die ich von meinem Vorgänger als Clientin übernehmen mußte, ist sehr besorgt. Denken Sie sich, ihr Sohn ist, auf die Gefahr hin, den Hals zu brechen, aus einem Fenster des oberen Stockwerkes gestiegen, und hat, trotz des mütterlichen Verbots, die Flucht genommen. Madame Michel hat mich daher beauftragt —«
»Wirklich?« unterbrach sie der Marquis, »das hat er gethan?«
»Es ist buchstäblich so wie ich sage, Herr Marquis.«
»Das söhnt mich einigermaßen mit ihm aus – wohl nicht ganz, aber ich bin doch nicht mehr böse auf ihn.«
»Wenn der Herr Marquis nur sagen könnte,« sagte Loriot, »wo ich besagten jungen Menschen finden und im Vertretungsfalle an seine Mutter abliefern könnte —«
»Ich weiß wahrhaftig nicht, wie und wohin er entwischt ist. Wißt Ihr es?« fragte der Marquis seine Töchter.
Bertha und Mary schüttelten den Kopf.
»Sie sehen, Gevatter,« sagte der Marquis, »wir können Ihnen nicht helfen. Aber hatte denn Madame Michel ihren Sohn eingesperrt?«
»Sicherem Vernehmen nach,« antwortete der Notar, »ist der junge Michel, der bis daher ein Muster von Sanftmuth und Gehorsam war, Knall und Fall verliebt geworden.«
»Aha! er ist durchgegangen,« sagte der Marquis. »Ich kenne das. Wenn Sie von der Mutter in Rath genommen werden, so sagen Sie ihr, sie soll ihm nur den Zügel schießen lassen. Das ist besser als ein Kappzaum. Er scheint mir ein guter kleiner Teufel zu seyn.«
»Ein herzensguter Mensch, Herr Marquis,« sagte der Notar, »und dazu einziger Sohn mit mehr als hunderttausend Livres Renten.«
»Hm! wenn er sonst nichts hat,« entgegnete der Marquis, »so ist es wenig, um den auf seinem Namen haftenden Makel abzuwaschen.«
Mary seufzte; aber Bertha konnte nicht länger schweigen.
»Vater,« sagte sie. »Du hast vergessen, welchen Dienst er uns diesen Abend geleistet.«
»Ei! ei!« schmunzelte Loriot, indem er Bertha ansah. »Sollte die Baronin Recht haben? Wahrhaftig, da wäre ein schöner Contract zu machen!«
Er berechnete im Stillen, wie viel Honorar ihm ein Ehecontract des Baron Michel de La Logerie mit Fräulein Bertha von Souday eintragen könne.
»Du hast Recht,« sagte der Marquis. »Gevatter Loriot mag das Schooßkind der Mama Michel suchen, wir wollen uns nicht darum kümmern. – Herr Notar, Sie wollen also Ihre Nachforschungen fortsetzen?«
»Wenn Sie gütigst erlauben, Herr Marquis, so würde ich lieber —«
»Zuerst brauchten Sie als Vorwand Ihre Furcht, den Soldaten zu begegnen,« unterbrach der Marquis. »Sie haben also große Furcht? Morbleu! Sie sind doch einer der Unserigen —«
»Ich nehme mir die unterthänigste Erlaubniß zu widersprechen, Herr Marquis: ich fürchte mich nicht; aber die verwünschten Blauen flößen mir eine so tiefe Abneigung ein, daß sich mein Magen krampfhaft zusammenzieht, wenn ich eine Uniform bemerke ich kann dann in vierundzwanzig Stunden keinen Bissen essen.«
»Deshalb sind Sie auch so mager, Gevatter Loriot. Aber das Traurigste dabei ist, daß Ihre Magenschwäche mich nöthigt, Ihnen die Thür zu weisen.«
»Der Herr Marquis belieben zu scherzen auf Kosten Hochdero ergebensten Dieners.«
»Nein, es ist mein Ernst; ich will keineswegs Ihren Tod.«
»Wieso – wenn ich fragen darf?«
»Wenn Ihnen der Anblick eines Soldaten ein vierundzwanzigstündiges Fasten auflegt, so müssen Sie unfehlbar verhungern, wenn Sie mit einem Regiment eine ganze Nacht unter einem Dache zubringen.«
»Mit einem Regiment?«
»Ja wohl, ich habe ein Regiment zum Abendessen eingeladen, und die Freundschaft macht es mir zur Pflicht, Sie so schnell wie möglich entwischen zu lassen. Aber Sie müssen vorsichtig seyn, denn die Blauen könnten Ihnen einige Schüsse nachsenden und die Soldaten des Herzogs von Orléans haben scharf geladen.«
Der Notar erblaßte und stammelte einige unverständliche Worte.
»Entschließen Sie sich,« setzte der Marquis hinzu, »Sie haben die Wahl zu verhungern oder todtgeschossen zu werden. Sie haben keine Zeit zu verlieren, denn ich höre bereits die Hufschläge und die gemessenen Fußtritte. Hören Sie nur – es wird geklopft – es ist wahrscheinlich der General.«
Es wurde wirklich stark an das Schloßthor geklopft, wie es von dem Anführer einer Truppenabtheilung zu erwarten war.
»In Gesellschaft des Herrn Marquis,« sagte Loriot, »fühle ich mich stark genug, meinen sonst so großen Widerwillen zu überwinden.«
»Gut, dann nehmen Sie ein Licht und gehen Sie meinen Gästen entgegen.«
»Ihren Gästen! Ich kann wirklich kaum glauben, Herr Marquis —«
»Kommen Sie nur, Gevatter Loriot; Sie werden sehen und dann glauben.«
Der Marquis von Souday nahm selbst ein Licht und verließ schnell den Salon.
Bertha und Mary folgten ihm. Beide suchten in der Dunkelheit des Hofes den Gegenstand, der ihre Gedanken unaufhörlich beschäftigt hatte.