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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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CXIV.
Ahnungen

Am andern Tage, als eben die zwölfte Stunde aus der Uhr von Trianon schlug, rief Nicole Andrée, die ihr Zimmer noch nicht verlassen hatte, zu:

»Mein Fräulein, mein Fräulein, Herr Philipp!«

Dieser Ruf kam unten von der Treppe.

Ganz erstaunt, zugleich aber ganz freudig, schloß Andrée ihr mousselinenes Morgenkleid und lief dem jungen Mann entgegen, der wirklich im Hof von Trianon vom Pferde gestiegen war und sich bei einigen Dienstboten nach der Stunde erkundigte, zu der er seine Schwester sprechen könne.

Andrée öffnete also selbst die Thür und fand sich alsbald Philipp gegenüber, den die dienstfertige Nicole aus dem Hof geholt hatte und die Stufen hinauf geleitete.

Das Mädchen warf sich seinem Bruder an den Hals und Beide traten in das Zimmer, gefolgt von Nicole.

Jetzt erst bemerkte Andrée, daß Philipp ernster aussah, als gewöhnlich, daß sogar sein Lächeln nicht von Traurigkeit frei war, daß er seine zierliche Uniform mit der ängstlichsten Pünktlichkeit trug und einen Reisemantel unter seinem linken Arm zusammengefaltet hielt.

»Was gibt es denn, Philipp?« fragte sie sogleich mit jenem Instinct zarter Seelen, für die ein Blick eine hinreichende Offenbarung ist.

»Meine Schwester,« sprach Philipp, »ich habe diesen Morgen Befehl erhalten, mich zu meinem Regimente zu begeben.«

»Und Du wirst gehen?«

»Ich gehe.«

»Oh!« rief Andrée, die in diesem schmerzlichen Schrei ihren ganzen Muth und einen Theil ihrer Kräfte aushauchte.

Und obgleich diese Abreise etwas ganz Natürliches war, worauf sie gefaßt sein mußte, fühlte sie sich doch so gelähmt durch die Mitteilung, daß sie sich an dem Arm ihres Bruders zu halten genöthigt war.

»Mein Gott,« fragte Philipp erstaunt, »diese Abreise betrübt Dich also so sehr, Andrée? Du weißt doch, daß dies in dem Leben eines Soldaten eines der allergewöhnlichsten Ereignisse ist.«

»Ja, ja, gewiß,« murmelte das Mädchen; »und wohin gehst Du, mein Bruder?«

»Meine Garnison ist in Rheims; Du siehst, ich habe keine sehr weite Reise zu unternehmen. Freilich kehrt das Regiment von dort, aller Wahrscheinlichkeit nach, nach Straßburg zurück.«

»Ach!« rief Andrée, »und wann reisest Du ab?«

»Der Befehl schärft mir ein, sogleich aufzubrechen.«

»Du kommst also, um von mir Abschied zu nehmen?«

»Ja, meine Schwester.«

»Abschied!«

»Hast Du mir etwas Besonderes zu sagen, Andrée?« fragte Philipp, beunruhigt durch diese übertriebene Traurigkeit, für welche sie keine andere Ursache hatte, als seinen Abgang.

Andrée verstand, daß mit diesen Worten Nicole gemeint war, welche die Scene mit einem Erstaunen betrachtete , dessen Beweggrund der außerordentliche Schmerz von Andrée sein mochte.

In der That. der Abgang von Philipp, nämlich der eines Officiers nach seiner Garnison, war keine Katastrophe, welche so viele Thränen verursachen mußte.

Andrée begriff zugleich das Gefühl von Philipp und das Erstaunen von Nicole; sie nahm ein Mantelet, warf es auf ihre Schulter, führte ihren Bruder gegen die Treppe und sagte zu ihm:

»Komm bis zum Gitter des Gartens, Philipp, ich werde Dich durch den bedeckten Gang zurückgeleiten. In der That, ich habe Dir sehr viel zu sagen, mein Bruder.«

Diese Worte waren für Nicole ein Befehl, abzugehen; sie schob sich längs der Wand hin und kehrte in das Zimmer ihrer Gebieterin zurück, während diese mit Philipp die Treppe hinabging.

Andrée stieg die Treppe hinab, welche sich an der Capelle vorbeizieht, und schritt durch den Ausgang, der noch heute in den Garten führt; doch obgleich beständig durch den unruhigen Blick von Philipp befragt, blieb sie lange an seinem Arm hängen, ließ sie ihren Kopf an seiner Schulter angelehnt, ohne ein Wort zu sprechen.

Dann überwältigte es plötzlich ihr Herz, ihr Antlitz bedeckte sich mit einer Todtenblässe, ein langes Schluchzen stieg zu ihren Lippen empor und Thränenwogen verdunkelten ihre Augen.

»Meine liebe Schwester, meine gute Andrée,« rief Philipp, »in des Himmels Namen, was hast Du denn?«

»Mein Freund, mein einziger Freund,« sprach Andrée, »Du gehst von hinnen, Du lässest mich allein in dieser Welt, in die ich gestern erst eingetreten bin, und Du fragst mich, warum ich weine. Ah! bedenke doch, Philipp, ich habe meine Mutter bei meiner Geburt verloren; es ist abscheulich, es zu sagen, doch ich habe nie einen Vater gehabt. Allen kleinen Kummer, den mein Herz empfand, Alles, was mein Geist an kleinen Geheimnissen enthielt, habe ich Dir, Dir allein anvertraut. Wer lächelte mir zu? wer liebkoste mich? wer wiegte mich, als ich noch ein Kind war? Du. Wer beschützte mich, seitdem ich groß geworden bin? Du. Wer machte mich glauben, die Geschöpfe Gottes seien nicht allein in diese Welt geworfen worden, um zu leiden? Du, Philipp, abermals Du. Denn ich habe Nichts und Niemand geliebt, seitdem ich auf der Welt bin, Dich ausgenommen, und Niemand hat mich geliebt, als Du. Oh! Philipp! Philipp!« fuhr Andrée schwermüthig fort, »Du wendest den Kopf ab, und ich lese in Deinen Gedanken. Du sagst, ich sei jung, ich sei schön, und habe Unrecht, nicht auf die Zukunft und die Liebe zu rechnen. Ach! Du siehst wohl, Philipp, es ist nicht hinreichend, schön und jung zu sein, da sich Niemand um mich bekümmert.«

»Die Frau Dauphine ist gut, wirst Du sagen, mein Freund. Ganz gewiß; sie ist vollkommen, in meinen Augen wenigstens, und ich betrachte sie als eine Gottheit; aber hauptsächlich weil ich sie in diese übermenschliche Sphäre stelle, habe ich Achtung für sie und keine Zuneigung. Die Zuneigung aber, Philipp, ist das für mein Herz so nothwendige Gefühl, welches, stets in mein Herz zurückgedrängt, dieses bricht  . . . Mein Vater  . . . Ei! mein Gott, mein Vater, ich lehre Dich nichts Neues, Philipp, mein Vater ist für mich nicht nur kein Beschützer oder Freund, sondern er macht mir sogar bange, wenn er mich anschaut. Ja, ja, ich habe bange, Philipp, bange vor ihm, besonders seitdem ich Dich abreisen sehe. Bange, wovor? ich weiß es nicht. Ei, mein Gott! haben die Vögel, welche vor den brüllenden Herden entfliehen, nicht auch bange vor dem Sturm, wenn dieser herannaht?«

»Das ist Instinct, wirst Du sagen; doch warum solltest Du unserer unsterblichen Seele den Instinct des Unglücks verweigern! Alles gelingt seit einiger Zeit unserer Familie; ich weiß es wohl  . . . Du bist nun Kapitän: ich bin in dem Hause der Dauphine untergebracht und gehöre beinahe zu ihrer vertrauten Umgebung; mein Vater soll gestern Abend mit dem König allein gespeist haben. Nun, Philipp, ich wiederhole Dir, und müßte ich Dir auch wahnsinnig erscheinen, dies Alles erschreckt mich mehr, als unsere sanfte Armuth und unsere Dunkelheit in Taverney.«

»Und dennoch warst Du dort auch allein, liebe Schwester,« erwiederte Philipp traurig; »ich war auch nicht dort, um Dich zu trösten.«

»Ja, aber ich war dort wenigstens allein, allein mit meinen Erinnerungen aus der Kindheit; es kam mir vor, als wäre mir dieses Haus, wo meine Mutter gelebt, geathmet hatte, wo sie gestorben war, den Schutz der Heimath schuldig, wenn ich mich so ausdrücken darf; Alles war mir dort süß, schmeichelnd, befreundet. Ich sah Dich mit Ruhe weggehen und mit Freude zurückkehren. Aber ob Du weggingst, ob Du zurückkamst, mein Herz war nicht ganz bei Dir, es hing an jenem theuren Haus, an meinem Garten, an meinen Blumen, an jener Gesammtheit, von der Du einst nur einen Theil bildetest; heute bist Du Alles, Philipp, und wenn Du mich verlässest, verläßt mich Alles.«

»Und Du hast doch heute eine Protection, die viel mächtiger ist, als die meinige,« sagte Philipp.

»Das ist wahr.«

»Eine schöne Zukunft.«

»Wer weiß  . . .«

»Warum zweifelst Du daran?«

»Ich weiß es nicht.«

»Es ist Undank gegen Gott.«

»Oh! nein, der Himmel weiß, ich bin nicht undankbar gegen den Herrn, und ich danke ihm Morgens und Abends  . . . Doch mir ist es, als ob, statt mein Dankgebet zu empfangen, jeden Abend, wenn ich die Kniee beuge, eine Stimme von Oben mir zuriefe: »»Nimm Dich in Acht, Mädchen, nimm Dich in Acht!«

»Doch wovor sollst Du Dich denn in Acht nehmen? Ich will mit Dir voraussetzen, es bedrohe Dich ein Unglück. Hast Du eine Ahnung von diesem Unglück? Weißt Du, was zu thun ist, um ihm Trotz bietend entgegenzutreten, oder was zu thun ist, um es zu vermeiden?«

»Ich weiß nichts, Philipp, wenn nicht, daß mein Leben nur noch an einem Faden hängt, daß nichts mehr für mich glänzt jenseits des Augenblicks, der Deine Abreise bezeichnet. Mir scheint mit einem Wort, man hat mich während Meines Schlafs auf einen Absturz gewälzt, der zu jäh ist, als daß ich mich erwachend aufhalten könnte; daß ich erwacht bin, daß ich den Abgrund sehe, daß ich dennoch fortgezogen werde, daß ich, da Du abwesend, da Du nicht mehr da bist, um mich zurückzuhalten, verschwinden und zerschellen werde.«

»Theure Schwester, gute Andrée,« sprach Philipp, unwillkührlich bewegt durch diesen Ton voll so wahren Angst, »Du übertreibst Deine Zärtlichkeit, für die ich Dir danke. Ja. Du verlierst Deinen Freund, doch nur für den Augenblick: ich werde nicht so fern sein, daß Du mich nicht zurückrufen könntest, wenn es nothwendig wäre; bedenke überdies, daß Dich, mit Ausnahme Deiner Chimären, nichts bedroht.«

Andrée blieb vor ihrem Bruder stehen und sprach:

»Philipp, Du, der Da ein Mann bist, der Du mehr Kraft hast als ich, woher kommt es, daß Du in diesem Augenblick eben so traurig erscheinst, als ich es selbst bin? Laß hören, mein Bruder, wie erklärst Du das?«

»Das ist leicht zu erklären, theure Schwester,« erwiederte Philipp, indem er Andrée aufhielt, welche schweigend weiter gegangen war. »Wir sind nicht nur Bruder und Schwester durch das Blut, wir sind es auch durch die Seele und durch die Gefühle; wir leben in einem Einvernehmen, das für mich, besonders seit unserer Ankunft in Paris, eine süße Gewohnheit geworden ist. Ich breche diese Kette, theure Freundin, oder man bricht sie vielmehr, und der Schlag macht sich in meinem Herzen fühlbar. Ich bin daher traurig, doch nur für den Augenblick. Ich, Andrée, ich sehe über unsere Trennung hinaus; ich glaube nicht an ein Unglück, wenn nicht an das, daß wir uns einige Monate lang, ein Jahr vielleicht, nicht mehr sehen werden; ich füge mich darein, und sage Dir nicht Lebewohl, sondern auf Wiedersehen.«

 

Trotz dieser tröstlichen Rede antwortete Andrée nur durch Schluchzen und Thränen.

»Theure Schwester,« rief Philipp, als er den Ausdruck dieser Traurigkeit sah, die ihm unbegreiflich vorkam, »theure Schwester, Du hast mir nicht Alles gesagt, Du verbirgst mir Etwas; sprich, in Himmels Namen, sprich!«

Und er nahm sie in seine Arme, zog sie ganz nahe zu sich heran, und drückte sie an seine Brust, um in ihren Augen zu lesen.

»Mein Gott.« sagte sie, »nein, nein, Philipp, ich schwöre es Dir, Du weißt Alles und hast mein Herz in Deinen Händen.«

»Wohl, Andrée, ich bitte Dich, fasse Muth, betrübe mich nicht so.«

»Du hast Recht,« sagte sie, »ich bin toll. Höre, ich habe nie einen sehr starken Geist gehabt, Du weißt das besser, als irgend Jemand, Philipp; ich habe immer befürchtet, immer geträumt, immer geseufzt; doch ich bin nicht berechtigt, mit meinen schmerzlichen Chimären einen so zärtlich geliebten Bruder zu verbinden, besonders da er mich beruhigt und mir beweist, ich habe Unrecht mit meiner Angst. Du hast Recht, Philipp, es ist wahr, es ist sehr wahr; Alles ist für mich hier vollkommen. Philipp, verzeihe mir; Du siehst, ich trockne meine Augen, ich weine nicht mehr, ich lächle. Philipp, ich sage Dir nicht mehr Lebewohl, ich sage auf Wiedersehen.«

Und sie umarmte zärtlich ihren Bruder und suchte ihm eine letzte Thräne zu verbergen, die an ihrem Augenlid zitterte und wie eine Perle auf die goldene Nestel des jungen Officiers fiel.

Philipp schaute sie mit jener unendlichen Zärtlichkeit an, welche zugleich die des Bruders und des Vaters ist.

»Andrée,« sagte er, »ich liebe Dich so. Sei muthig. Ich reise, doch der Courier wird Dir jede Woche einen Brief von mir bringen. Ich bitte Dich, mache, daß ich ebenfalls jede Woche einen von Dir erhalte.«

»Ja, Philipp, ja, und das wird mein einziges Glück sein. Doch, nicht wahr, Du hast meinen Vater benachrichtigt?«

»Wovon?«

»Von Deiner Abreise.«

»Liebe Schwester, der Baron hat im Gegentheil diesen Morgen mir selbst den Befehl des Ministers überbracht. Herr von Taverney ist nicht wie Du, Andrée; er wird mich leicht entbehren, wie es scheint: er kam mir über meine Abreise glücklich vor, und er hat im Ganzen Recht; hier kann ich nicht aufrücken, während sich im Gegentheil dort Gelegenheiten bieten werden.«

»Mein Vater ist glücklich. Dich abreisen zu sehen?« murmelte Andrée. »Hast Du Dich nicht getäuscht, Philipp?«

»Er hat Dich,« antwortete Philipp, die Frage umgehend, »und das ist ein Trost, meine Schwester.«

»Glaubst Du, Philipp? Er steht mich nie.«

»Meine Schwester, er hat mich beauftragt, Dir zu sagen, daß er noch heute, sogleich nach meinem Abgang, nach Trianon kommen werde. Er liebt Dich, glaube mir, nur liebt er Dich auf seine Weise.«

»Was hast Du denn, Philipp. Du scheinst verlegen?«

»Liebe Andrée, es hat so eben geschlagen. Wieviel Uhr ist es?«

»Drei Viertel auf ein Uhr.«

»Meine liebe Schwester, was mich verlegen macht, ist, daß ich schon eine Stunde unter Weges sein sollte, und daß wir nun an dem Gitter sind, wo mein Pferd steht  . . . also  . . .«

Andrée nahm ein ruhiges Gesicht an, ergriff die Hand ihres Bruders und sprach mit einem Ton, der zu fest war, daß er nicht eine Bewältigung der Stimme verrathen hätte:

»Gott befohlen also, mein Bruder.«

Philipp umarmte sie zum letzten Mal.

»Auf Wiedersehen!« sagte er, »erinnere Dich Deines Versprechens.«

»Welches Versprechens?«

»Einen Brief wenigstens jede Woche.«

»Oh! Du verlangst es.«

Und sie sprach diese Worte mit einer äußersten Anstrengung: das arme Kind hatte keine Stimme mehr.

Philipp grüßte sie mit einer Geberde und entfernte sich.

Andrée folgte ihm mit den Augen und hielt ihren Athem an sich, um ihre Seufzer zurückzudrängen.

Philipp stieg zu Pferde, rief ihr von der andern Seite des Gitters noch ein Lebewohl zu und sprengte fort.

Andrée blieb unbeweglich stehen, so lange sie ihn sehen konnte.

Dann, als er verschwunden war, wandte sie sich ab, lief wie eine verwundete Hirschkuh bis in den Schatten, erblickte eine Bank und hatte nur noch die Kraft, diese zu erreichen und ohne Puls, ohne Leben, ohne Blick darauf zu sinken.

Dann entwand sich der Tiefe ihrer Brust ein langes, unendlich schmerzliches Schluchzen, und sie rief:

»Oh! mein Gott, mein Gott, warum lässest Du mich so allein auf der Erde?«

Und sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen und ließ in ihre weißen Finger die schweren Thränen entströmen, die sie nicht mehr zurückzuhalten versuchte.

In diesem Augenblick ertönte ein leichtes Geräusch hinter den Hagebuchen; Andrée glaubte einen Seufzer gehört zu haben. Sie wandte sich erschrocken um, eine traurige Gestalt erhob sich vor ihr.

Es war Gilbert.

21 bis 24. Bändchen

CXV.
Der Roman von Gilbert

Es war Gilbert, haben wir gesagt, eben so bleich, ebenso trostlos, eben so niedergeschlagen, als Andrée.

Bei dem Anblick eines Fremden, denn von Anfang erkannte sie ihn durch den Schleier der Thränen, der ihren Blick verdunkelte, nicht, trocknete Andrée rasch ihre Augen, als erröthete das stolze Mädchen darüber, daß es geweint hatte. Sie gab sich im Gegentheil eine feste Haltung und verlieh wieder die Unbeweglichkeit ihren bleichen Wangen, welche einen Augenblick zuvor noch der Schauer der Verzweiflung beben gemacht hatte.

Gilbert, brauchte viel länger als sie, um wieder Ruhe zu gewinnen, und seine Züge behielten den schmerzlichen Ausdruck, den Fräulein von Taverney, so bald sie ihre Augen aufschlug, in seiner Haltung und in seinem Blick wahrnehmen konnte.

»Ah! es ist abermals Herr Gilbert,« sagte Andrée mit dem leichten Ton, den sie jedes Mal annahm, so oft sie glaubte, der Zufall bringe sie in die Nähe des jungen Mannes.

Gilbert antwortete nichts; er war noch zu heftig bewegt.

Der Schmerz, der den Leib von Andrée schauern machte, hatte den seinigen geschüttelt.

Andrée fuhr also fort; sie wollte das letzte Wort dieser Erscheinung haben.

»Aber was haben Sie denn, Herr Gilbert?« fragte sie; »was schauen Sie mich denn mit dieser so betrübten Miene an? Es muß Sie etwas traurig machen; sagen Sie, was macht Sie denn traurig?«

»Sie wünschen es zu wissen?« fragte schwermüthig Gilbert, der die unter dieser scheinbaren Theilnahme verborgenen Ironie fühlte.

»Ja  . . .«

»Nun! es macht mich traurig, Sie leiden zu sehen, mein Fräulein,« erwiederte Gilbert.

»Und wer hat Ihnen gesagt, daß ich leide, mein Herr?«

»Ich sehe es.«

»Ich leide nicht, Sie täuschen sich, mein Herr,« sagte Andrée und fuhr zum zweiten Mal mit ihrem Sacktuch über ihr Gesicht.

Gilbert fühlte, wie das Gewitter heranzog; er beschloß, es durch seine Demuth abzuwenden.

»Verzeihen Sie, mein Fräulein,« sprach er, »ich habe Ihre Klagen gehört.«

»Ah! Sie horchten  . . . noch besser  . . .«

»Mein Fräulein, es ist der Zufall,« stammelte Gilbert, denn er fühlte, daß er log.

»Der Zufall! Ich bin in Verzweiflung, Herr Gilbert, daß Sie der Zufall in meine Nähe geführt hat; doch ich wiederhole, in welcher Hinsicht konnten Sie die Klagen, die Sie hörten, traurig machen, sagen Sie es mir, ich bitte Sie?«

»Es ist mir unmöglich, eine Frau weinen zu sehen,« erwiederte Gilbert mit einem Ton, der Andrée ganz ungemein mißfiel.

»Sollte ich zufällig eine Frau für den Herrn Gilbert sein?« entgegnete das hochmüthige Mädchen. »Ich bettle um keines Menschen Theilnahme, doch um die von Herrn Gilbert vielleicht recht weniger, als um die von irgend Jemand.«

»Mein Fräulein,« sagte Gilbert den Kopf schüttelnd, »Sie haben Unrecht, daß Sie mich so hart behandeln; ich habe Sie traurig gesehen; ich habe mich darüber betrübt; ich habe Sie sagen hören, wenn Herr Philipp abgegangen, wären Sie allein auf der Welt: nein, nein, mein Fräulein, denn ich bin geblieben, und nie hat ein ergebeneres Herz für Sie geschlagen. Nein, ich wiederhole, nie wird Fräulein von Taverney allein in der Welt sein, so lange mein .Kopf denken, so lange mein Herz schlagen, so lange mein Arm sich ausstrecken kann.«

Gilbert war in der That schön an Stärke, Adel und Hingebung, während er diese Worte sprach, obgleich er es mit der ganzen Einfachheit that, welche die wahrste Ehrfurcht heischte.

Doch es war einmal abgemacht, daß Alles an diesem armen jungen Mann Andrée mißfallen, sie beleidigen und zu verwundenden Erwiederungen antreiben sollte, als wäre jede von seinen Kundgebungen der Ehrfurcht eine Verletzung, jede von seinen Bitten eine Herausforderung gewesen. Zuerst wollte sie aufstehen, um eine härtere Geberde mit einem freieren Wort zu finden; doch ein Nervenschauer hielt sie auf ihrer Bank zurück. Ueberdies bedachte sie, daß sie stehend in größerer Entfernung gesehen und zwar mit Gilbert sprechend gesehen werden könnte. Sie blieb also auf ihrer Bank, denn einmal für allemal wollte sie unter ihrem Fuß das Insekt zertreten, das überlästig wurde.

Andrée erwiederte daher:

»Ich glaubte Ihnen schon gesagt zu haben, Herr Gilbert, daß Sie mir ungemein mißfallen, daß Ihre Stimme mich ärgere, daß ihre philosophischen Manieren meinen Widerwillen erregen. Warum, da ich Ihnen dies gesagt habe, wollen Sie hartnäckig mit mir sprechen?«

»Mein Fräulein,« erwiederte Gilbert bleich, aber an sich haltend, »man ärgert eine redliche Frau nicht, wenn man Sympathie für sie an den Tag legt. Ein redlicher Mann kommt jedem menschlichen Geschöpf gleich, und ich, den Sie mit so viel Erbitterung mißhandeln, ich verdiene vielleicht mehr als irgend ein Anderer die Sympathie, welche Sie, wie ich sehe, zu meinem tiefen Bedauern nicht für mich empfinden.«

Bei dem zweimal wiederholten Wort Sympathie riß Andrée die Augen weit auf und heftete sie auf eine verächtliche Weise auf Gilbert.

»Sympathie!« sagte sie, »Sympathie von Ihnen gegen mich! In der That, ich täuschte mich in Ihnen. Ich hielt Sie für einen Unverschämten, doch Sie sind weniger als dieser: Sie sind ein Narr.«

»Ich bin weder unverschämt, noch ein Narr,« entgegnete Gilbert mit einer scheinbaren Ruhe, welche den uns bekannten Stolz große Ueberwindung kosten mußte. »Nein, mein Fräulein, durch die Natur bin ich Ihres Gleichen und durch den Zufall sind Sie mir verpflichtet geworden.«

»Abermals der Zufall?« versetzte Andrée spöttisch.

»Die Vorsehung, hätte ich vielleicht sagen sollen. Nie würde ich hievon gesprochen haben; aber Ihre Beleidigungen erwecken mein Gedächtniß,«

»Ihnen verpflichtet? Ihnen verpflichtet, glaube ich? »Wie haben Sie das gesagt, Herr Gilbert?«

»Ich würde mich an Ihrer Stelle des Undanks schämen; und Gott, der Sie so schön gemacht, hat Ihnen, um Ihre Schönheit auszugleichen, so viele andere Fehler außer diesem gegeben.«

Diesmal stand Andrée auf.

»Verzeihen Sie mir,« sagte Gilbert, »zuweilen reizen Sie mich auch zu sehr, und dann vergesse ich alle Theilnahme, die Sie mir einflößen.«

Andrée brach in ein schallendes Gelächter aus, um den Zorn von Gilbert bis zu seinem Paroxismus anzustacheln; doch zu ihrem großen Erstaunen flammte Gilbert noch nicht auf. Er kreuzte die Arme über seiner Brust, behielt den feindseligen und hartnäckigen Ausdruck seines Feuerblickes und wartete geduldig das Ende dieses beleidigenden Gelächters ab.

»Mein Fräulein,« sprach sodann Gilbert kalt zu Andrée, »wollen Sie diese einzige Frage beantworten. Achten Sie Ihren Vater?«

»Ich glaube in der That, Sie fragen mich, Herr Gilbert?« rief das Mädchen mit dem äußersten Hochmuth.

»Ja, Sie achten Ihren Vater,« fuhr Gilbert fort, »doch nicht wegen seiner guten Eigenschaften, wegen seiner Tugenden; nein, ganz einfach, weil er Ihnen das Leben gegeben hat. Ein Vater, leider müssen Sie das wissen, mein Fräulein, ist nicht unter einem einzigen Titel achtenswerth; doch dies ist am Ende ein Titel, Mehr noch: für diese einzige Wohlthat des Lebens (Gilbert belebte sich ebenfalls durch ein verächtliches Mitleid) für diese einzige Wohlthat sind Sie verbunden, den Wohlthäter zu lieben. Wohl, mein Fräulein, ist dies als Grundsatz festgestellt, warum beleidigen Sie mich? Warum stoßen Sie mich zurück? Warum hassen Sie mich, mich, der ich Ihnen allerdings das Leben nicht gegeben, aber gerettet habe?«

 

»Sie,« rief Andrée, »Sie haben mir das Leben gerettet?«

»Ah! Sie haben nicht einmal daran gedacht, oder Sie haben es vielmehr vergessen; das ist sehr natürlich, denn es ist bald ein Jahr. Wohl, mein Fräulein, dann muß ich Sie davon unterrichten, oder Sie daran erinnern. Ja, ich habe Ihnen das Leben gerettet, indem ich das meinige preisgab.«

»Herr Gilbert,« sprach Andrée sehr bleich, »Sie werden wenigstens die Güte haben, mir zu sagen, wo und kann?«

»An dem Tag, mein Fräulein, wo hunderttausend Personen einander erdrückten, als sie vor wildbrausenden Pferden, vor Säbeln, welche die Menge niedermähten, flohen und den Boden des Platzes mit zahllosen Leichnamen und Verwundeten bestreut ließen.«

»Ah! am 31. Mai.«

»Ja. mein Fräulein.«

Andrée erholte sich und nahm wieder ihr spöttisches Lächeln an.

»Und an diesem Tag, behaupten Sie, haben Sie Ihr Leben preisgegeben, um das meinige zu retten, Herr Gilbert?«

»Ich habe schon die Ehre gehabt, dies Ihnen zu sagen.«

»Sie sind also der Herr Baron von Balsamo? Ich bitte Sie um Verzeihung, denn ich wußte es nicht.«

»Nein, ich bin nicht der Herr Baron von Balsamo,« erwiederte Gilbert die Augen entflammt und die Lippen bebend, »ich bin das arme Kind aus dem Volk, ich bin Gilbert, der so toll, so albern, so unglücklich ist, Sie zu lieben; der, weil er Sie wie ein Wahnsinniger, wie ein Wüthender liebte, Ihnen in der Menge gefolgt ist; ich bin Gilbert, der, einen Augenblick von Ihnen getrennt, Sie an dem gräßlichen Schrei wiedererkannte, als Sie den Boden verloren; Gilbert, der bei Ihnen niederfiel und Sie mit seinen Armen umschlang, bis zwanzigtausend Arme, auf die seinigen drückend, seine Kraft gebrochen hatten; Gilbert, der sich an den steinernen Pfeiler warf, wo Sie zerquetscht werden sollten, um Ihnen die weichere Stütze seines Leichnams zu bieten; Gilbert, der, als er in der Menge den seltsamen Mann erblickte, welcher den andern Menschen zu befehlen schien, und dessen Namen Sie ausgesprochen haben, alle seine Kräfte, all sein Blut, seine ganze Seele zusammenraffte und Sie in seinen sterbenden Armen aufhob, damit dieser Mann Sie erblickte, Sie faßte, Sie rettete; Gilbert endlich, der von Ihnen, die er einem glücklichern Retter abtrat, nur einen Fetzen Ihres Kleides behielt, den er an seine Lippen drückte, und es war Zeit, denn das Blut floß alsbald nach seinem Herzen, nach seinen Schläfen und nach seinem Gehirn; die rollende Masse der Henker und der Opfer bedeckte ihn wie eine Woge und begrub ihn, während Sie, wie ein Engel der Auferstehung, aus seinem Abgrund zum Himmel aufstiegen.«

Gilbert hatte sich ganz und gar geoffenbart, nämlich wild, naiv, erhaben in seiner Entschlossenheit, wie in seiner Liebe. Trotz ihrer Geringschätzung konnte auch Andrée nicht umhin, ihn mit Erstaunen anzuschauen. Einen Augenblick wähnte er, seine Erzählung sei unwiderstehlich gewesen, wie die Wahrheit, wie die Liebe. Doch der arme Gilbert rechnete ohne die Ungläubigkeit, dieses Mißtrauen des Hasses. Andrée aber, welche Gilbert haßte, hatte sich von keiner der siegreichen Beweisführungen dieses verachteten Liebhabers erschüttern lassen. Anfangs antwortete sie nichts; sie schaute Gilbert an, und etwas wie ein Kampf entspann sich in ihrem Innern.

Der junge Mann, dem es bei diesem eisigen Stillschweigen unwohl war, sah sich auch genöthigt, in Form eines Schlußes beizufügen:

»Mein Fräulein, hassen Sie mich nun nicht mehr so sehr, als Sie es gethan haben , denn das wäre nicht nur Ungerechtigkeit, sondern auch Undank, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe, und wie ich Ihnen nun wiederhole.«

Doch bei diesen Worten hob Andrée ihren stolzen Kopf in die Höhe und sprach mit dem Tone der grausamsten Gleichgültigkeit:

»Herr Gilbert, ich bitte, wie lange sind Sie bei .Herrn Rousseau in der Lehre geblieben?«

»Mein Fräulein,« erwiederte Gilbert naiv, »ich glaube, drei Monate, die Tage meiner Krankheit in Folge des Erstickens am 21. Mai nicht zu rechnen.«

»Sie irren sich,« entgegnete sie, »ich bitte Sie nicht, mir zu sagen, ob Sie in Folge von Erstickung krank gewesen oder nicht gewesen  . . . das krönt vielleicht auf eine künstliche Weise Ihre Erzählung; doch mir ist wenig daran gelegen. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie, da Sie sich nur drei Monate bei dem berühmten Schriftsteller aufhielten, die Zeit sehr gut benutzt haben, und daß der Zögling mit dem ersten Schlage Romane macht, welche beinahe derer würdig sind, die sein Lehrer veröffentlicht.«

Gilbert, der mit Ruhe zugehört hatte, weil er glaubte, Andrée würde auf die leidenschaftlichen Dinge, die er gesagt, ernste Dinge erwiedern, fiel von der ganzen Höhe seiner Treuherzigkeit unter dem Streiche dieser blutigen Ironie herab.

»Ein Roman,« murmelte er entrüstet, »Sie behandeln als Roman, was ich Ihnen gesagt habe?«

»Ja, mein Herr,« erwiederte Andrée, »ein Roman; nur haben Sie mich nicht genöthigt, ihn zu lesen, und dafür weiß ich Ihnen Dank; leider aber muß ich tief bedauern, nicht bezahlen zu können, was er werth ist, denn ich würde es vergebens versuchen, da Ihr Roman unbezahlbar ist.«

»Das ist es also, was Sie mir antworten?« stammelte Gilbert, das Herz zusammengeschnürt, die Augen erloschen.

»Ich antworte Ihnen gar nicht, mein Herr,« sagte Andrée, indem sie ihn zurückschob, um an ihm vorübergehen zu können.

In diesem Augenblick erschien Nicole am Ende der Allee und rief von hier aus ihrer Gebieterin, um nicht zu ungestüm das Gespräch zu unterbrechen, dessen einen Theil sie nicht erkannt hatte, weil sie Gilbert durch die Schatten nicht genau zu betrachten vermochte.

Als sie aber näher kam, sah sie den jungen Mann^ erkannte ihn und war ganz erstaunt. Sie bereute es nun daß sie nicht einen Umweg gemacht, um zu hören, was Gilbert Fräulein von Taverney zu sagen gehabt haben könnte.

Mit einer sanften Stimme, als wollte sie Gilbert den Stolz besser begreiflich machen, mit dem sie zu ihm gesprochen, wandte sich Andrée an Nicole und fragte diese:

»Was gibt es denn, mein Kind?«

»Der Herr Baron von Taverney und der Herr Herzog von Richelieu sind so eben eingetroffen, um das Fräulein zu besuchen..«

»Wo sind sie?«

»In der Wohnung des Fräuleins.«

»Komm.«

Nicole folgte ihr, doch nicht ohne bei ihrem Abgang einen ironischen Blick auf Gilbert zu werfen, der, weniger bleich als leichenfarbig, weniger bewegt als wahnsinnig, weniger zornig als wüthend, die Faust in der Richtung der Allee, durch die sich seine Feindin entfernte, ausstreckte und er die Zähne fletschend murmelte:

»Oh! Geschöpf ohne Herz, Leib ohne Seele! ich habe Dir das Leben gerettet, ich habe meine Liebe zusammengedrängt, ich habe jedes Gefühl schweigen gemacht, welches das verletzen konnte, was ich Deine Unschuld nannte, denn für mich, in meinem Wahnsinn, warst Du eine heilige Jungfrau, wie es die Jungfrau im Himmel ist  . . . Nun habe ich Dich von Nahem gesehen, Du bist nicht mehr als ein Weib, und ich bin ein Mann  . . . Oh! früher oder später werde ich mich rächen, Andrée von Taverney; zweimal habe ich Dein Leben in meinen Händen gehalten und zweimal habe ich Dich geschont und geachtet; Andrée von Taverney, nimm Dich beim dritten Male in Acht!  . . . Auf Wiedersehen, Andrée!«

Und er entfernte sich durch das Gebüsch springend, wie ein verwundeter junger Wolf, der sich immer wieder umdreht und seine scharfen Zähne und seinen blutigen Augenstern zeigt.