Loe raamatut: «Liturgie und Poesie», lehekülg 3

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III. Im sozialen Wandel
1. Weib

Wie das „Vater unser“ wurde auch das im Frömmigkeitsgebrauch damit einst geradezu notorisch verbundene „Ave Maria“ kleinen Modifikationen unterzogen. „Du bist gebenedeit unter den Frauen“, heißt es nun statt „gebenedeit unter den Weibern“. Dass die frühere Fassung der Rosenkranzleier besser entsprach, ist leicht zu hören: „Du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria.“ Das „au“ der neuen „Frauen“ springt aus diesem eieiei hörbar heraus.

Aber ich hätte nicht gewagt, auf diese alte Sache zu sprechen zu kommen, wenn nicht einer der wirklich sprachmächtigen katholischen Theologen des 20. Jh., der Tübinger Alttestamentler F. Stier, in seinem Tagebuch sich damit sehr erregt beschäftigt hätte. Als Eintrag unter dem 12. März 1969 heißt es da:

„Mit einem Germanisten beim Kaffee. Weib, sagte er, klingt im Rheinland ,pejorativ‘. In meinen allgäu-alemannischen Ohren nicht. Ich hörte den Allgäuer Bauern über seine jüngst verstorbene Nachbarin sagen: ,Dös war a Wieb!‘ Und den Witwer: ,Sit’s Wieb numma do ischt, ma(g) i seall numma leaba.‘ In diesen Sprachlanden hat ,Weib‘ noch einen guten Ruf. Ich wüßte gern, was in der Psyche der Sprachgemeinschaft vorgegangen ist, daß ,Weib‘ um seine Ehre kam. Um die 980 Mal (ich habe nachgezählt, s. Calwer Konkordanz) in der Lutherbibel! Auch noch in neueren Revisionen, bis in die sechziger Jahre hinein. Ihr verdanke ,Weib‘ eine ,Erneuung‘ seines ,edleren Sinnes‘ (H. Paul). – Es ist Luthers hohe Sprache, die Schiller singen läßt: ,Wer ein holdes Weib errungen …‘ Über die unsterblichen ,Weiber von Weinsberg‘ rümpft niemand die Nase, und bis vor kurzem stieß sich niemand daran an, daß die Mutter Jesu ,gebenedeit unter den Weibern‘ ist … Die ökumenische Einheitsübersetzung droht das ,Weib‘ in der Bibel mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die Herren haben es vor. Man wird also Gen 2,22 lesen: Gott ,baute‘ aus Adams Rippe ,eine Frau‘. Und von nun an, fürchte ich, wird die ,Frau‘ in der Sprache dieser Bibel herrschen, das ,Weib‘ verdrängen und nicht ruhen, bis sie auch dem ,apokalyptischen Weib‘ der Geheimen Offenbarung den Garaus gemacht hat … Diese ,weib‘feindlichen Herren Bibelübersetzer! Gibt es keinen Anwalt für ,Weib‘, keinen, der Sinn und Gründe dafür hätte, daß sich eine Bibel, die der Konvention nach dem Munde redet, um das Vorrecht betrügt, sich auch als Sprachgestalt zu ,profilieren‘? Es sind nicht nur meine Allgäuer Bauernohren, die sich über das ,Weib‘ in der Sprache der biblischen Erzähler und Propheten nicht ärgern. Und wenn ich Jesus sagen höre: ,O Weib, dein Glaube ist groß‘, klingt es mir herzhaft und warm. Zur gleichen Zeit, in der Mutter Sprache über die gesellschaftliche Ächtung eines ihrer alten guten Wortkinder trauert, tummelt sich in ihrem Haus ein Gesindel häßlicher Neuwörter. Die Verwaltung der Universität Tübingen suchte vor kurzem per Inserat ,Reinemachefrauen‘ (natürlich müssen sie ,reine‘ machen, denn ,reinmachen‘ tut das Kind in den Topf!). Auch ,Raumpflegerinnen‘ sind gesucht. Wenn die ,Sprachemachemänner‘ in den Ämtern so weitermachen, dann werdet ihr ehrsamen und hochachtbaren Putzfrauen von ehedem eure ,Anhebung‘ zu ,Reinemachedamen‘ und ,Raumkünstlerinnen‘ erleben. Karl Kraus, come back! Schwinge die Peitsche, zünde deine ,Fackel‘, stifte Brand!“ 49

Da hat er umsonst gerufen, der große Tübinger Alttestamentler Fridolin Stier, der die Schrift so ursprachlich übersetzt hat, „Der Mensch vom Weib geboren, / an Tagen kurz und unrastsatt –“ (Hiob 14,1)50. Ein Karl Kraus redivivus würde sich in kirchlichen Kreisen mehr als die Finger verbrennen.

2. Hausgesind

Mit ihrem Hang zur ganzen Länge ziehen sich evangelische Kirchenlieder Probleme zu, die sich die katholischen durch großzügiges Strophenstreichen schlicht ersparen. So fehlt in der auf drei Strophen zurückgebrachten „Gotteslob-Fassung“ des Morgenliedes „Aus meines Herzensgrunde“ (Nr. 669) eine Strophe, die beim jüngsten Übergang vom Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) zum Evangelischen Gesangbuch (EG) den zuständigen Gesangbuchmachern etwas Kopfzerbrechen bereitete. Um das beliebte Lied zu halten, wurde eine kleine Ausbesserung für erforderlich gehalten. Die neue Fassung von EG Nr. 443, 4. Strophe, lautet nun:

„Mein’ Leib und meine Seele, Gemahl, Gut, Ehr und Kind in dein Händ ich befehle und die mir nahe sind als dein Geschenk und Gab, mein Eltern und Verwandten, mein Freunde und Bekannten und alles, was ich hab.“

Was sich geändert hat, ergibt sich aus dem Vergleich mit der vorangegangenen Version des EKG (Nr. 341):

„Mein’ Leib und meine Seele, mein Weib, Gut, Ehr und Kind in dein Händ ich befehle, dazu mein Hausgesind, als dein Geschenk und Gab, mein Eltern und Verwandten, mein Freunde und Bekannten und alles, was ich hab.“

Das ordinäre „Weib“ ist herausgeflogen und hat dem Herrn „Gemahl“ (nicht etwa der Frau Gemahlin) Platz gemacht. Und das „Hausgesind“ wurde ausgewechselt gegen „die mir nahe sind“. Die Absicht ist klar. „Weib“ und „Hausgesind“ gelten als linguistische Indikatoren patriarchalicher Verhältnisse, die aus der Sprache wie aus der gesellschaftlichen Realität zu tilgen sind. Der Fall ist symptomatisch und gibt im Ergebnis doch zu denken. „Weib“ wurde schon vor Jahren im katholischen „Ave Maria“ gegen „Frau“ ausgetauscht, aber das ging hier offenbar nicht. Mit dem bürgerlich gestelzten „Gemahl“ ist man jedoch, rein sozialsprachgeschichtlich gesehen, vom Regen in die Traufe gekommen.

Der Verzicht aufs „Hausgesind“ ist löblich, nimmt jedoch eine soziale Komponente des Morgengebets ins Intim-Private („die mir nahe sind“, womit die „Eltern und Bekannten“, „Freunde und Verwandten“ schon vorweggenommen wären) zurück. Wenn der fromme Haupt- und Amtmann Georg Niege (1525 – 1588), der Verfasser des Liedes, morgens fürs „Hausgesind“ betete und beten ließ, legte er Gott nicht nur sich selbst, sondern auch die ihm so oder so in seinem „Beruf und Stand“ (Str. 7) Untergebenen ans Herz; betrachtete sie und behandelte sie dann vielleicht auch „als dein Geschenk und Gab“, ihm auf Zeit anvertraut; von Diskriminierung jedenfalls keine Spur. Mit der Streichung des „Hausgesinds“ verschwindet die Ökonomie aus dem Gebet, in der alle (nicht bloß ominöse Hausherren) auch heute von der Dienstleistung anderer leben, unsichtbarer vielleicht, aber nicht weniger real als zu den Zeiten des bäuerlich-bürgerlichen Gesindes.

Die Zensoren der alten Texte denken hier, wie häufig, nicht weit genug. Sie flicken an der Textoberfläche, ohne der Sache auf den Grund zu gehen. Darum sind sie dann auch nicht radikal und konsequent genug. Wenn man „Weib“ und „Hausgesind“ für nicht mehr zumutbar hält, wie kann man „Gut, Ehr und Kind“ dann den Nicht-Begüterten, Unverheirateten, Kinderlosen, ja den Kindern selbst zum Singen zumuten?

Mit den kleinen Reparaturen an der Textfassade lässt sich nicht vertuschen, dass das Lied in der Rolle des Hausvaters geschrieben ist, insoweit also patriarchalische Verhältnisse spiegelt. Aber Vater Niege kehrt nicht seine Männlichkeit heraus, oder seine unumschränkte Befehlsgewalt über Weib und Kind und Hausgesind. Er sorgt sich in der Morgenfrühe um das gesamte Hauswesen, dem er vorsteht. Und dieser Gemeinsinn gibt dem Gebet eine lebenspraktische Note, die man in ähnlicher Weise auch im monastischen Stundengebet der Prim findet, „nach der im Kloster die Arbeit verteilt wurde: körperliche Arbeit, Schreiben der Codices, Arbeit in der Klosterschule usw.“51 So endet auch Georg Nieges Morgenlied: „und streck nun aus mein Hand, / greif an das Werk mit Freuden, / dazu mich Gott beschieden / in meim Beruf und Stand.“ Berufsethos und Frömmigkeit sind hier eng verbunden.

Die Besonderheit der sozialen Situation muss nicht verschleiert werden, es geht im Gebet nicht um die Verhältnisse, sondern um das Verhältnis zu den Verhältnissen. Das ist, wenn man das Lied auf seine eigene Stimme übernimmt („Aus meines Herzensgrunde“), zu transponieren „in meim Beruf und Stand“.

So muss das Fremde der Überlieferung nicht einfach nur hinter uns liegen, vom sozialen Fortschritt überholt, es kann uns, recht bedacht, auch voraus sein. Schneidet man es zurück auf den Meinungsstandard der eigenen Zeit, bleibt man auf dessen Maß beschränkt.

3. Heerscharen

Der große Wiener Poet Ernst Jandl hat viele Gedichte verfasst, die man nicht verstehen kann, wenn man nicht auch Religion im Ohr hat, z. B. das folgende, etwas leichtfüßige Lautgedicht52:

hosi

anna

maria

magdalena

hosi

hosianna

hosimaria

hosimagdalena

hosinas

hosiannanas

hosimarianas

hosimagdalenanas

Man kann das überhaupt nicht verstehen, wenn man nicht das Sanctus der Messe im Kopf hat, und dazu noch, dass Anna, Maria und Maria Magdalena drei wichtige, in der Bibel in einem Zusammenhang stehende Frauen sind. Aber worauf es hier ankommt, ist das kunstvolle Spiel mit den Assonanzen der Sprache, aus denen ganz neue Kreationen hervorgehen. Ich habe das Gedicht hier herangezogen, um auf eine Ebene aufmerksam zu machen, die über dem großen Bemühen der theologischen Sprachproduktion, alles verständlich zu machen, in den vergangenen Jahrzehnten etwas vernachlässigt wurde: die Musikalität der Sprache, ihr Rhythmus und Klang.

Ich will es an zwei, zugegebenermaßen etwas riskanten Beispielen verdeutlichen. Zunächst, von Jandls hosi angeregt, das Sanctus der Messe. Die heutige Fassung lautet bekanntermaßen: „Heilig, heilig, heilig, Gott, Herr aller Mächte und Gewalten. Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit. Hosanna in der Höhe …“ Vor 1975 liturgisch Sozialisierte haben vielleicht noch diese Fassung im Ohr: „Heilig, heilig, heilig. Herr Gott der Heerscharen. Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit. Hosanna in der Höhe. Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe.“

Der aus dem Alten Testament als Gottesname vertraute „Herr Gott der Heerscharen“ ist ersetzt durch den „aller Mächte und Gewalten“. Die für die alttestamentliche Gottesprädikation nicht unwichtigen zebaoth, die das lateinische Sanctus, im Gefolge der Septuaginta noch im hebräischen Wortlaut transliteriert als Sabaoth aufbewahrt hatte, sind in die neutestamentlichen „Mächte und Gewalten“ umgewandelt, die dominationes und potestates, von denen in manchen Präfationen ja schon vorher die Rede ist. Die semantische Neuerung hatte also einen gewissen Sinn, auch wenn man damit eine wichtige Assoziation zum alttestamentlichen Herkunftstext des Sanctus (Jes 6) opferte und mit dem für die „Heerscharen“ einbestellten Ersatzkommando der „Mächte und Gewalten“ vielleicht nicht ganz so, wie vielleicht erhofft, befürchteten militärischen Konnotationen entkommt.

Was aber vermutlich bei der Sinn-Operation gar keine Rolle gespielt hat, ist die rhythmische und phonetische Struktur, die dem alten Text eignet. Das anlautende „H“ beherrscht die erste Zeile und dann jeweils das erste und letzte Wort der einzelnen Verse – eine Art Hauchhymnus: „Heilig, heilig, heilig, Herr Gott der Heerscharen. Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit. Hosanna in der Höhe. Hochgelobt sei der da kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe.“ Diesen Atem kann das „Herr Gott aller Mächte und Gewalten. Erfüllt sind … usw.“ einfach nicht halten.

Aber natürlich will ich hier nicht zum Rückmarsch blasen. Die Heerscharen haben, wie Weib und Hausgesind, im sozialen Wandel wohl ein für allemal verloren. Aber vielleicht sollte man bei allem herrschaftskritisch und gender-sprachlich ja längst weitergegangenen Wandel der religiösen Sprache nicht ganz den Klang vergessen, die musikalische Dimension der Religion, die den Altvorderen praktisch in Fleisch und Blut übergegangen war.

IV. Gedämpfte Erinnerung
1. Die Feinde dämpfen

Wer im Gang seiner Lebensgeschichte Gesangbuchreformen überlebt, kollidiert beim Singen des neu Geschriebenen leicht mit dem, was er von Jugend an automatisch im Kopf hat. Das Alterinnerte muss natürlich nicht das sprichwörtlich gute Alte sein, aber es taucht als Alternative jedenfalls auf und reizt zur Prüfung, ob es wirklich zu Recht verworfen wurde.

Manchmal sind es kleine Sprachvolten, die im Gedächtnis von ungefähr wieder auftauchen: „Hilf uns hie kämpfen, / die Feinde dämpfen, Sankt Michael.“ Als ich im Gotteslob nach dem Lied suchte, fand ich es, Nr. 606: „Unüberwindlich starker Held“53; aber jener Vers war verschwunden, der einzige, dessentwegen das Lied mir überhaupt im Gedächtnis geblieben war. Mich interessierte der Grund der Tilgung; im „Redaktionsbericht zum Einheitsgesangbuch Gotteslob“ fand sich der Vermerk: „Der Refrain wurde wegen des mit dieser Bedeutung nicht mehr gebräuchlichen ,dämpfen‘ umgeformt wie schon Dgsb Eichstätt 1952.“54 Und was hatte man stattdessen gefunden? – „Hilf uns im Streite / zum Sieg uns leite, Sankt Michael.“ Abgesehen davon, dass ich diesem neuen Reimpaar keinen poetischen Reiz abgewinnen konnte, fragte ich mich, ob jene Begründung denn eigentlich stichhaltig sei. Alle Lexika, die ich befragte, kannten das Wort „dämpfen“, z. B. „die Glut dämpfen“ oder „die Lautstärke dämpfen“ auch „jemandem einen Dämpfer aufsetzen“, ihn mäßigen also. Das war, auf Feinde bezogen, also doch anwendbar. Es hieß nur etwas anderes als einfach „Streit“ und „Sieg“. Es hieß den Feinden einen Dämpfer aufsetzen, ihre großmäulige Lautstärke dämpfen, ihre Großmannssucht eindämmen, mit sanfter Gewalt gegen ihre Wut und Arroganz angehen. Die sprachliche Skurrilität „die Feinde dämpfen“ enthielt, etwas näher betrachtet, Momente einer Strategie des Defensivkriegs, die mir politisch wie privat bedenkenswert erschienen. Aber nun war es zu spät. Es hieß nun eben: „Hilf uns im Streite, zum Sieg uns leite.“ Die Reform hatte eine vermeintliche Anstößigkeit beseitigt und sich dafür eine gereimte Belanglosigkeit eingehandelt. Absicht dieser Veränderung war, das Lied für die Gegenwart zu retten. Dazu reichte diese kleine Modifikation aber nicht aus. Im „Redaktionsbericht“ heißt es lapidar: „Str. 4 und 6 aus E (= Einheitslieder der deutschen Bistümer 1947) wurden gestrichen, da sie eine entbehrliche Ausweitung der vorausgehenden Str. 3 und 5 darstellen und zum Thema des geistigen Kampfes nichts Neues aussagen.“55 Die gestrichenen Strophen lauten, Str. 4: „Groß ist dein Macht, groß ist dein Heer, Sankt Michael / groß auf dem Land, groß auf dem Meer.“

Str. 6: „O starker Held, groß ist die Kraft, Sankt Michael! / Ach komm mit deiner Ritterschaft.“

Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass es sich hier gar nicht um das Thema des „geistigen Kampfes“ handelt und also auch nicht um dessen „entbehrliche Ausweitung“, sondern um weniger spirituelle Kämpfe zu Wasser und zu Lande. Der vollständige Urtext gibt zu erkennen, dass es hier nicht (wie z. B. in Angelus Silesius’ „Mir nach, spricht Christus, unser Held“) um die militia spiritualis der christlichen Seele geht, sondern um ein ekklesiales Schutz- und Trutzlied. St. Michael, der Patron der römischen Kirche und des deutschen Volkes wird um Hilfe angerufen. Über die reale Bedrohung der Entstehungszeit 1621 kann man kaum Zweifel hegen, mitten im dreißigjährigen Krieg, ein Jahr nach der Schlacht am Weißen Berge. Es ist ein religionspolitisches Lied, bei dem die singenden Katholiken die Feinde der Kirche, die Protestanten, vielleicht auch die das christliche Abendland bedrohenden Türken im Visier haben.

2. Kraft und Herbheit

Die Jugendbewegung der 20er und 30er Jahre unseres Jahrhunderts hegte starke Sympathien für den Engel der Deutschen. So ist das Lied in der Urfassung auch in das 1939 von Josef Diewald, Adolf Lohmann und Georg Thurmair herausgegebene „Kirchenlied“ gelangt, dem für die deutsche Einheitsliedentwicklung eine große Bedeutung zukommt. Im Vorwort des Mainzer Bischofs heißt es dort: „Ihr habt die alten Texte und Weisen aus den Quellen erforscht und ihnen ihre Kraft und Herbheit zurückgegeben, da in glaubensschwachen Zeiten vieles Schöne in den Liedern unserer Ahnen verkannt oder vergessen wurde … Dank sei euch, dass ihr mit Liebe gesammelt habt, was uns an gemeinsamem Liedgut verbinden kann zu einem gewaltigen Gottbekenntnis aller Christen in deutschen Landen! … Mögen viele dieser Lieder wieder heimisch werden in unseren Familien, damit Glaubensfreudigkeit und Glaubenstreue an ihnen wachsen und unsere Häuser widerklingen von einem frohen und befreienden Singen, wie es uns Deutschen nachgerühmt wird von alters her.“56

Das ist, könnte man sagen, die katholische Version der wenig beachteten zweiten Strophe des Deutschlandliedes: „Deutsche Frau’n und deutsche Treue, / Deutscher Wein und deutscher Sang, / sollen in der Welt behalten / ihren guten alten Klang.“ Die romantische Idee eines das deutsche Volkstum einigenden alten Liedguts verbindet sich in der kirchlichen Jugendbewegung mit der Idee einer katholischen Glaubenstreue zu dem Versuch, „zu einem einheitlichen Liedgut deutscher Katholiken den Grund zu legen.“57 Der Wunsch nach einem Einheitsgesangbuch ist also älter und noch von anderen Motiven gespeist, als es die in der neueren Argumentation vorgebrachten pastoralpragmatischen Gründe der Migration und Mobilität erkennen lassen.58

Das einheitsstiftende alte Liedgut des „Kirchenlied“ ist im Großen und Ganzen das des 16. und 17. Jahrhunderts. Das 18. und 19. Jahrhundert sind kaum vertreten; sie gelten offenbar als „glaubensschwache“ Verfallszeiten, in denen die alte „Kraft und Herbheit“ verloren gegangen war. Auf dem Liedsektor spielen das 16. und 17. Jahrhundert für die katholische Jugendbewegung der dreißiger Jahre die Rolle, die in ihrem Kunstverstand die „Romanik“ spielte, zentriert um das Bild des „Christus König“. Diese weltanschaulich normativen Epochen gelten auch als Vorbild der eigenen Produktion, im Bereich der kirchlichen Kunst der dreißiger Jahre die Orientierung an der Kunst des ersten Jahrtausends bis zur Romanik, im Kirchenlied neue Texte von Adolf Lohmann, Georg Thurmair und anderen, „im Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem großen Erbe der Vergangenheit“59.

3. Glaubenskampf

So steht das alte „Unüberwindlich starker Held“ im „Kirchenlied“ neben einem neuen, 1935 von Bernhard Feigenbutz gedichteten60:

„Das Flammenschwert in Händen, umloht von Feuerbränden, zwangst du der Hölle Macht. Der Himmelsdom erdröhnte, als donnernd ihn durchtönte des Rufes heil’ge Macht: Wer ist wie Gott? Wer ist wie Gott?

Dein Bildnis auf den Fahnen, so zogen unsre Ahnen zum Kampf und auch zum Sieg. Du, hilf den Glauben wahren, und unsern Streiterscharen voran dein Schlachtruf flieg: Wer ist wie Gott? Wer ist wie Gott?

So wird für alle Zeiten dein Schwert das Gute scheiden von Teufels List und Trug. Uns, die wir hier noch ringen, das Böse zu bezwingen, dein Schlachtruf ist genug: Wer ist wie Gott? Wer ist wie Gott?“

Lieder von ähnlichem Glaubenskampfgeist hat Georg Thurmair zum „Kirchenlied“ beigesteuert, z. B. das Georgslied: „Wir stehn im Kampfe und im Streit mit dieser bösen Weltenzeit, die über uns gekommen“61 (1934), oder das geradezu kreuzfahrerische Lied „Das Banner ist dem Herrn geweiht“62 (1934), dessen zweite Strophe lautet:

„Wir stehen hier in Einigkeit, dem Herrgott hingegeben, wie Engel seinem Dienst geweiht, Soldaten für das Leben. Nun wehe, Banner, allezeit, und führe du im Kriege für Gottes große Herrlichkeit sein Kreuz zu seinem Siege!“

Natürlich ist es des Satans Macht, gegen die hier der Feldgesang angestimmt wird, aber wo der Feind konkret steht, dass man so stark zu singen hat, wird nicht mit Ross und Reiter beim Namen genannt. Ob es 1934 – ein Jahr nach dem Reichskonkordat – schon die Nazis sind oder der atheistische Bolschewismus im Osten, oder einfach die antichristlichen Weltanschauungen, der Liberalismus, Sozialismus, jedenfalls: „Kommt her, des Königs Aufgebot, die seine Fahne fassen.“63 Weil der Feind nicht genau benannt wird, singt man im Zustand einer permanenten Mobilmachung.

Das „Kirchenlied“ ist nach dem Zweiten Weltkrieg unverändert nachgedruckt worden. Und wir haben als Jugendliche in den fünfziger Jahren mit Bannern und Fackeln gesungen: „Unüberwindlich starker Held, Sankt Michael“, mehr oder minder diffus den Feind unseres katholischen Milieus ahnend. Dieses Lied gehört, von seinem gegenreformatorischen Ursprung wie von der kontextuellen Rezeption in den dreißiger Jahren her gesehen, in einen religionspolitischen Zusammenhang. In den für den Gebrauch des „Gotteslob“ am Anfang der siebziger Jahre gestrichenen beiden Strophen ist das nicht zu übersehen. Aber auch ohne sie ist das Lied dem „Thema des geistigen Kampfes“, sofern man darunter die Spiritualität des geistlichen Kampfes der einzelnen Seele versteht, nicht unterzuordnen. Das hätten die Autoren des „Gotteslob“, die lebensgeschichtlich dem „Kirchenlied“ von 1938 ja nicht allzu fern standen, doch auch sehen können. Warum haben sie es durch Amputationen zu retten gesucht? Aus Anhänglichkeit an das „kraftvolle“ und „herbe“ Liedgut ihrer Jugendjahre? Der Redaktionsbericht deutet selbst einmal an, dass „das Liedgut der Kindheit meist normierend wirkt.“64 Oder weil man aus theologischem Systemzwang die thematische Rubrik „Engel“ besetzen musste und einem nichts besseres einfiel, als was seit Jugendtagen mit so viel emotionalen Konnotationen besetzt war, ohne viele Gedanken darüber, wo denn im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts solche Michaelsfrömmigkeit im christlichen Bewusstsein ernsthaft unterzubringen sei?

Das Lied wäre nur zu retten, wenn man seine Mentalität nicht durch kleine Korrekturen verschleierte, sondern dazu stehen und sich und andere weiter in sie hinein singen möchte. Da dies die Überarbeiter aber offenbar nicht geradewegs wollen, ist aus dem Ganzen ein Flickwerk geworden, das man besser aufgäbe. Es tut mir Leid um das „Dämpfen der Feinde“, das also mein poetisch-politisches Privatvergnügen bleiben wird. Es tut mir auch Leid um Friedrich Spee, den Dichter des Liedes, der bei allem jesuitisch-gegenreformatorischen Kampfgeist doch ein so großer Poet und Menschenrechtler dazu ist.

Tasuta katkend on lõppenud.

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