Die Orbit-Organisation

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Himmel oder Hölle? Die Verschmelzung von KI und MI

Menschliche Intelligenz (MI) kann durch einen ungeheuren Variantenreichtum punkten. Unter anderem gibt es die logische, sprachliche, musikalische, räumliche, somatische und emotionale Intelligenz. Um uns zukunftsfit zu machen, müssen wir nun noch rasch zwei neue Intelligenzen entwickeln:

die adaptive Intelligenz, die sich auf die ständig neuen, unaufhaltsam auf uns einprasselnden Umstände schnell und flexibel einstellen kann,

die digitale Intelligenz, die Technologien so weit durchdringt, dass sie das Echte vom Falschen und das Gute vom Bösen unterscheiden kann.

Ist das erlernbar? Ja, natürlich. Durch fortwährendes Üben. Ab 50 lernt man nichts mehr? Pah! Unser Gehirn ist eine lebenslange Baustelle, die Wissenschaft nennt das Neuroplastizität. Durch ausreichendes Wiederholen entwickeln sich Automatismen, die vom Bewussten ins Unterbewusste, den sogenannten Autopiloten, rutschen. Hierdurch werden Abläufe routinierter, gewandter und wirkungsvoller. Was menschenmöglich ist, erweitern wir, seitdem es uns Menschen gibt. Die Evolution favorisiert ehrgeiziges Leben, das sich an die jeweiligen Umstände aktiv anpassen kann.

Bedeutsam ist zudem die auf den Persönlichkeitspsychologen Raymond Bernard Cattell zurückgehende Unterscheidung zwischen fluider und kristalliner Intelligenz. Fluide Intelligenz umfasst Fähigkeiten wie schnelle Auffassungsgabe, bewegliches Handeln und das Hervorbringen origineller Problemlösungen. Die fluide Intelligenz nimmt tendenziell mit dem Alter ein wenig ab. Die kristalline Intelligenz hingegen nimmt zu. Zu ihr gehören ein breites Wissen, durch Erfahrung genährte Intuition und der Blick für Zusammenhänge. Fluide und kristalline Intelligenzen werden in Unternehmen gebraucht. Sie müssen miteinander verknüpft werden und zusammenwirken.

Und künstliche Intelligenz? Wenn es um Effizienz, Schnelligkeit, große Stückzahlen, Informationsberge, niedrige Kosten, reine Routinen und / oder das Bewältigen repetitiver, anstrengender, schmutziger, ungesunder und gefährlicher Arbeiten geht, liegt sie vorn. In ziemlich allen Belangen der Wissensarbeit wird sie uns bald haushoch überlegen sein. Sie lernt irre flott, weil sie auf riesige Datenmengen zugreifen, diese in Bruchteilen von Sekunden verarbeiten und alles miteinander vernetzen kann. Sie braucht höchstens Stunden da, wo Menschen Wochen, Monate, Jahre brauchen.

Selbstlernende Softwareprogramme können nicht nur von sich aus intelligenter werden, sie sind längst auch kreativ. Einige beginnen bereits, autonom nach Betätigungsfeldern zu suchen, weil man ihnen Belohnungsprogramme eingepflanzt hat. Sie bringen sich selbst etwas bei. Sie können Geschichten schreiben, Symphonien komponieren, eigene Kunstwerke erschaffen, Emotionen interpretieren und scheinbar Mitgefühl zeigen. Zu Gruppen zusammengeschlossen, entwickeln sie Schwarmintelligenz. KI kann sich selbst programmieren und sich replizieren, also selbstständig neue Intelligenzen gebären. Dabei bildet sie keine menschliche Intelligenz nach, sondern geht eigene Wege, die die Entwickler heute zum Teil noch nicht verstehen – was in der Tat beunruhigend ist. Die Menschen lernten allerdings auch nicht fliegen, indem sie den Flügelschlag der Vögel kopierten, sondern weil es ihnen gelang, die Gesetze der Aerodynamik zu beherrschen.

KI braucht einen ethischen Rahmen und KI-Sicherheit.

Schon heute kann KI zigtausend Dinge tun, die im unternehmerischen Alltag wertvoll sind und die qualitative Arbeit der Mitarbeiter unterstützen, unter anderem Prozesse optimieren, Interaktionen automatisieren, Wahrscheinlichkeiten algorithmieren, Vorhersagen treffen. Algorithmen sind immer dann die bessere Wahl, wenn es darum geht, eine komplizierte Aufgabenstellung zu lösen, wie etwa diese: Welche der 500 Varianten ist die beste für Szenario A oder B? Menschen hingegen sind genau dann gefragt, wenn es kontextbezogene frische Herangehensweisen braucht, die man auch mit einer Fülle von Daten nicht »berechnen« kann. Ideen mit Charakter sozusagen.

Im Unterschied zur einstigen Verarbeitung von Vergangenheitsdaten schaut KI mithilfe von Echtzeitdaten in die Zukunft. Sie ist eine Meisterin der Prognose. Jedes Mal, wenn jemand mit Siri, Alexa oder Cortana redet, trainiert er eine künstliche Intelligenz. Folgen wir den Vorschlagsalgorithmen von Google, Amazon & Co., machen wir diese schlauer. Wenn Sie mit IBMs Watson interagieren, lernt der nicht nur selbst, sondern auch von und mit Ihnen. Und wenn er Lungenkrebs zwei Jahre früher und um 50 Prozent treffsicherer erkennt als ein menschlicher Arzt, wem vertrauen Sie dann?

Infolge des Wandels werden Arbeitsplätze verschwinden, das war in der Vergangenheit auch schon immer der Fall. Vielen alten Jobs trauern wir nicht hinterher. Manche Jobs werden sich umfassend verändern. Zudem werden viele neue Berufsbilder entstehen. Künstliche Coworker müssen programmiert, betreut, trainiert und vor Angriffen geschützt werden. Nur die wenig Qualifizierten arbeiten diesen als Handlanger zu. Gut bezahlt werden hingegen in Zukunft sowohl die, die künstliche Intelligenzen zur Hochform auflaufen lassen, als auch die, die mehr können als das, was Software kann.

Künstliche Intelligenzen sind Spezialisten. Menschen hingegen sind Generalisten. Sie punkten mit Humor, Empathie, Instinkten, Impulsivität, Spiritualität, mit dem Spiel der Sinne, mit Fingerspitzengefühl, Improvisationstalent, Verhandlungsgeschick, gesundem Menschenverstand. Und mit der Lust am Sozialen, mit dem, was der Anthropologe Lionel Tiger »Sociopleasure« nennt. Wer auf solchen Gebieten gut ist und sich ständig weiterentwickelt, ist im Digitalzeitalter vorn. Die neuen Berufe haben vor allem mit Innovieren, Adaptieren, Kombinieren, Experimentieren, Koordinieren, Kollaborieren, Flexibilisieren, Individualisieren und Emotionalisieren zu tun. Sie verlangen Wandlungsvermögen und, ganz besonders wichtig:

Gespür sowohl für die Menschen als auch für die neueste Technologie.

»Wenn künstliche Intelligenz unsere Aufgaben übernimmt, wird Menschlichkeit unser neues Alleinstellungsmerkmal«, sagt Miriam Meckel, Herausgeberin der Wirtschaftswoche, in einer ihrer Kolumnen. So sorgt KI nicht nur für Fortschritt. Sie schafft auch Freiraum, damit man sich im Unternehmen auf das Wesentliche konzentrieren kann: die Arbeit am Kunden.

Das Nonplusultra: Dezentrale Intelligenz und die Weisheit der Vielen

Das MIT Center for Collective Intelligence und viele andere Forschungseinrichtungen haben anhand von Untersuchungen immer wieder gezeigt: Zwar ist die Intelligenz einzelner Mitglieder einer Gruppe von Bedeutung, wenn es um Ergebnisse geht, die kollektive Intelligenz spielt jedoch eine noch viel größere Rolle. Wir favorisieren hierbei den Begriff der »Weisheit der Vielen«. Darunter versteht man eine sich mehr oder weniger selbst organisierende gemeinschaftliche Intelligenz, die jenseits von Administration und Bürokratie eine Vielfalt von Innovationen hervorbringen kann. Wenn genügend kluge Köpfe zusammenkommen, lässt sich jedes Problem lösen. Gemeinsam gelingt es am besten, Ideen zu entwickeln, die zuvor noch niemand hatte und auf die man allein nicht gekommen wäre.

Wenn genug kluge Köpfe zusammenkommen, lässt sich jedes Problem lösen.

Einen zweiten gebräuchlichen Terminus, den der Schwarmintelligenz, nutzen wir nicht, denn leider gibt es ja auch sehr dumme, lärmende, fehlgeleitete Schwärme. So erzeugen Obrigkeiten über Macht, Angst, Gängelei und Kontrolle den supergefährlichen blinden Gehorsam. Wer einfach die Regeln befolgt und tut, was ihm via Dienstanweisung gesagt wird, hat eben nichts zu befürchten. Entscheidungsmonopole und Dauerbefehle von oben, verbunden mit Wissensdefiziten, Opportunismus und Konformität, machen jede Organisation »schwarmdumm« (Gunter Dueck). Und das wiederum führt ins Aus – und nicht in die Zukunft.

Bereits 2004 hat der Soziologe James Surowiecki in seinem Weltbestseller Die Weisheit der Vielen anhand vieler Beispiele gezeigt, dass eine Gruppe in aller Regel »klüger ist als ihr gescheitestes Mitglied«7. So steigt zum Beispiel die Innovationskraft mit der Anzahl gleichberechtigt involvierter Personen, sofern die Gruppe inhomogen ist und ihr Wissen wertschätzend teilt. Wieso inhomogen? Homogene Gruppen, also solche mit gleichartigen Mitgliedern, neigen zum Gleichklang und zum Griff nach Routinen, jedoch kaum zum kühnen Erkunden von Neuem. Der Zugewinn einer inhomogenen Gruppe ergibt sich aus der Meinungsvielfalt, der Öffnung für unterschiedliche Denkweisen und einer damit verbundenen Experimentierfreudigkeit. Eine inhomogene Zusammensetzung berücksichtigt beide Geschlechter, Jung und Alt, Denker und Macher, Routiniers und Novizen, unterschiedliche Disziplinen, verschiedene Hierarchiestufen und, wenn passend, auch einen Nationalitätenmix.

Drei besondere Faktoren erhöhen den Gruppen-IQ: mindestens zwei Frauen in der Gruppe, einfühlsames Verhalten der Mitglieder und gleichberechtigter Austausch auf Augenhöhe, so die Organisationsprofessorin Anita Woolley.8 Vielredner und Selbstdarsteller hingegen vermindern den Gruppen-IQ, was gleichermaßen für aufgeblasene »Gockel« als auch für »Diven« gilt. Nur-Männer-Gruppen und dabei vor allem Führungskräfte verplempern viel wertvolle Zeit mit Wichtigkeitsgehabe und Positionierungsgerangel. Sie sind deshalb weniger produktiv. Nur-Frauen-Gruppen verbleiben oft zu sehr in einem zögerlichen Konsens. Und Nörgler zerstören jegliche Energie.

 

Kluge Entscheidungen kann eine Gruppe immer nur dann gut treffen, wenn

jeder Teilnehmer in seiner Meinungsbildung unabhängig ist,

jeder Zugang zu allen entscheidungsrelevanten Informationen hat,

jeder Einzelne seine Meinung äußern darf und angehört wird,

man sich autoritätsfrei auf ein passendes Vorgehen einigen kann.

Ferner braucht es einen zugleich konstruktiven und respektvollen Umgang. Schließlich muss sich die Gruppe auch treffen können – virtuell und real. Zunehmend wird nämlich erkannt, dass Menschen am besten zusammenwirken, wenn sie sich sehen. Warum das so ist? Worte können lügen. In Gestik und Mimik zeigt sich die wahre Gesinnung. Dies erzeugt in uns Resonanz. Ein gutes Intuitionsradar kann das spüren und decodiert friedliche Absichten oder Ruchlosigkeit. Körpersprachliche Signale können aber nur bei physischer Nähe wirklich gut entschlüsselt werden, weil dann alle Sinne beteiligt sind.

Stimmen die Rahmenbedingungen, dann steigt nicht nur die Aussicht auf eindrucksvolle Erfolge. Es steigt auch die Chance auf den Serendipity-Effekt. Das ist das Stolpern über glückliche Zufälle, was durch die »Weisheit der Vielen« begünstigt wird. Die in der Sharing-Economy sozialisierte junge Generation hat im Übrigen längst verstanden, wie arm man bleibt, wenn man alles für sich behält, und wie reich man wird, wenn man teilt. Das gilt vor allem für Wissen. Es verflüchtigt sich, wenn man es hortet. Wenn Wissen hingegen frei seine Bahnen zieht und sich weitläufig vernetzt, kann dies zu erstaunlichen Fortschritten führen.

Der Unterschied zwischen Book-Smarts und Street-Smarts

Book-Smarts, die High Potentials der Old Economy, werden im Zuge des Wandels von den Street-Smarts abgelöst.9 Book-Smarts sind diejenigen, die Zusammenhänge theoretisch verstehen und ausgezeichnet analysieren. Sie setzen auf Wissen und Logik und malen sich vom Schreibtisch aus eine perfekte Landkarte einer nicht so perfekten Welt. Excelsheets und Dashboards können sie zwar virtuos lesen, das Gesicht ihres Gegenübers jedoch kaum. Im Zahlengeflimmer vor ihrer Nase hat sich der gesunde Menschenverstand verflüchtigt. Balken, Torten und Diagramme sind ihre Realität. Mit dem gleichen Management-Standardrepertoire, das alle von der Uni her kennen, wird die gesamte Unternehmenswelt unreflektiert überschwemmt. Denn ja, leider schicken die meisten Business-Schools und BWL-Fakultäten ihre Absolventen noch immer mit Methoden von anno dazumal in eine sich drastisch verändernde Wirtschaft.

Book-Smarts werden zunehmend von Street-Smarts abgelöst.

»Ich mach mein Studium nur zu Ende, weil in allen Stellenausschreibungen, die mich interessieren, ein abgeschlossenes Studium Voraussetzung ist. Ich kann aber 90 Prozent von dem, was ich da lerne, niemals brauchen«, erzählt uns Laura. Was für eine Verschwendung! Und es kommt noch schlimmer. »Die Anforderungen, die ihr an uns junge Leute stellt, sind ganz enorm: ein abgeschlossenes Studium, beste Noten, Auslandserfahrung, ein breites Wissen, Kreativpotenzial. Sind wir dann bei euch, werden wir als Erstes zurechtgestutzt und sollen uns an haarklein vorgeschriebene Abläufe halten, die aber nur auf dem Papier gut funktionieren.« Das sagt Sven, damit das Generationendilemma auf den Punkt bringend.

In größeren Unternehmen haben die meisten Abteilungsleiter noch nie mit Kunden gesprochen. Deshalb fallen viele Entscheidungen auch so theoretisch aus. Sogar im Marketing sitzen fast ausschließlich Book-Smarts. Ihre Kunden kennen sie nur noch von Charts. Endlos brüten sie über Daten und nennen das »Customer-Insights«. Wie es den Menschen im wahren Leben ergeht, das haben sie nie erforscht. Wenn Messe ist, engagieren sie schicke Hostessen, statt sich selbst ins Kundengetümmel zu stürzen. Dafür ist ihnen ihre Zeit viel zu schade. Doch zu einem Street-Smart kann man nur werden, wenn man rausgeht zum Kunden und dessen Lage wirklich hautnah durchlebt. So hat ein Hersteller von Inkontinenzprodukten seine Manager angewiesen, eine Woche lang rund um die Uhr Erwachsenenwindeln zu tragen und diese auch zu verwenden.

Mit Lehrbuchwissen kommt man heute nicht weit. Die Wirklichkeit ist immer anders.

Street-Smarts sind diejenigen, die sich auf dem Weg durch den Dschungel nicht auf eine Landkarte verlassen. Sie wissen, dort hilft sie rein gar nichts. Sie leiten Lösungen aus bereits gemachten Erfahrungen ab oder konsultieren ihr Netzwerk, quasi das Wissen der Straße. Und dieses steht nicht im Wöhe, der Bibel der Betriebswirtschaftslehre. Mit Lehrbuchwissen kommt man heute nicht weit. Denn die Wirklichkeit ist immer anders. Und Street-Smarts wissen das ganz genau. Sie sind umtriebig, unbekümmert, einfallsreich und situationserprobt. Sie sind veränderungsinteressiert und komplexitätserfahren. Genau das ist es, was die Next Economy braucht.

Natürlich ist Bücherwissen nicht grundsätzlich schlecht – danke übrigens, dass Sie dieses Buch lesen. Problematisch ist nur, wenn man abstrakte Kenntnisse wie eine Schablone benutzt, anstatt sich Gedanken darüber zu machen, wie man das erlernte Vorgehen auf eine jeweilige Situation passgenau überträgt. So wie die gleiche Arznei nicht für alle Krankheiten taugt, so kann nicht die gleiche Managementtechnik für alle Unternehmen die richtige sein.

Die Book-Smarts, Stubenökonomen nennt man sie auch, agieren in einer abgeschotteten Welt. Sie analysieren und analysieren. Und das dauert und dauert. So verplempern sie wertvolle Zeit, die in Zukunft niemand mehr hat. Außerdem hocken sie auf Know-how, das in der Next Economy kaum noch was wert ist. Zu schnelllebig sind die benötigten Expertisen. Niemand ist heute mehr ausgebildet. Wenn Wissen schneller veraltet als jemals zuvor, dann ist Vorratslernen nur noch marginal sinnvoll. Die Herangehensweise ans Lernen ändert sich demgemäß gerade fundamental. Selbstbefähigung und permanenter Entwicklungswille sind fortan ein Muss, sowohl in Bezug auf fachliche Tiefe als auch breit angelegt und vernetzt. »T-shaped« werden solche Personen genannt. Sie vereinen in sich, symbolisiert durch das T, Fähigkeiten von Spezialisten und von Generalisten.

Wer sein Qualifizierungsniveau nicht ständig durch eigenen Antrieb erhöht, entsorgt sich in Zukunft selbst. Den Street-Smarts kann das nicht passieren. Werden Informationen benötigt, um an ein neues Thema heranzugehen, dann warten sie nicht bis zum nächsten Lehrgang. Sie starten vielmehr flugs eine Onlinerecherche. Alles Wesentliche steht längst im Web. »YouTube das mal!« ist heute ein gängiger Spruch – und symptomatisch für neue Formen der Selbstlernkompetenz. Wer die klügsten Fragen ans Internet stellt und weiß, wo man am besten sucht, der gewinnt. 62 Prozent der Wissensarbeiter kümmern sich selbst um ihre Weiterbildung und 59 Prozent entwickeln ihre Themengebiete in ihrer Freizeit weiter, so die Wissensarbeiterstudie 2017.10

Disruption oder Selbstdisruption? Sie haben die Wahl

»Disruptiv« bedeutet, dass ein bestehendes Geschäftsmodell, eine bekannte Technologie, eine übliche Dienstleistung oder eine tradierte Kategorie durch eine schlagartig auftauchende Neuheit abgelöst wird. Im Gegensatz zu einer evolutionären Innovation, die Existierendes verbessert und weiterentwickelt, bezeichnet die disruptive Innovation eine radikale, bahnbrechende Verdrängung. So löste einst auf den Weltmeeren das Dampfschiff das Segelschiff ab. Kein einziger Hersteller von Segelschiffen meisterte diesen Technologiesprung. Im Gegenteil: Diese versuchten, der neuen Antriebskraft mit mehr Segeln Paroli zu bieten. Heutzutage kommen umwälzende Disruptionen vor allem von Branchenneulingen aus der Digitalwirtschaft. So ist der Onlinehandel nicht von einem stationären Händler, das internetbasierte Bezahlen nicht von einer Bank und iTunes nicht von der Musikindustrie erfunden worden.

Disruption ist demnach kein Weitermachen im Trippelschritt-Modus auf vertrautem Terrain. Disruption ist völliges Neuland, der Sprung durch die Feuerwand der Unsicherheit. Doch darauf lässt man sich besser ein. Brandschutzmauern errichten? Bringt in diesem Fall gar nichts. Vor urplötzlichen Angriffen ist niemand sicher. Ihnen kann das nicht passieren? Sie sind ja schließlich Weltmarktführer! Das ist der Zukunft egal. Dem digitalen Wandel kann sich niemand entziehen. Wer nicht agiert, wird weginnoviert. Also sich selbst disrupten? Heutzutage: Na klar! Bevor es andere tun, tun Sie’s lieber selbst, um sich Wettbewerbsvorteile und finanzielle Erfolge zu sichern.

»Ganz nett, aber erzähl niemandem davon.« Ein Satz, der in die Geschichte einging. Zu hören bekam ihn Kodak-Mitarbeiter Steven J. Sasson, als er bereits 1975 eine von ihm erfundene Digitalkamera vorstellte. Der technologische Fortschritt zwingt jeden dazu, sich immer wieder neu zu erfinden. Selbstdisruption bringt dabei ganz gezielt Produkte in den Markt, mit denen man sich selbst Konkurrenz machen kann. Apple hat wiederholt den Mut dazu gehabt: beim iPhone, das dem iPod Marktanteile raubte, und auch beim iPad, das die Mac-Verkäufe kannibalisierte. Und obwohl man sich das kaum vorstellen kann, wird es Handys oder auch Suchmaschinen in ihrer heutigen Form eines Tages nicht mehr geben. Selbst Disruptoren sind nicht sicher vor Disruption. Deshalb sorgen sie vor. So hat sich Google unter der Dachmarke Alphabet mit wegweisenden Zukunftstechnologien längst neu aufgestellt. In Organisationen alter Schule hingegen, in denen Abteilungsleiter regieren und jeder sein Territorium hermetisch bewacht, weil daran Vorgaben, Planzahlen und Zielerreichungsboni hängen, wird Selbstdisruption torpediert. So machen sich klassische Unternehmen zu Gefangenen ihrer eigenen Managementmethoden, nämlich solchen, mit denen sie früher mal siegreich waren. Doch auch das ist der Zukunft egal.

Disruptionen werden von etablierten Anbietern zudem meist unterschätzt, weil sie bei ihrem Auftauchen zunächst unbedeutsam und vage erscheinen. Sie verlaufen praktisch niemals nach Plan. Sie lassen sich nicht vorbudgetieren und auch nicht bis ins Detail vorkalkulieren. Märkte, die noch nicht existieren, können nicht analysiert, höchstens hoffnungsvoll vorgeschätzt werden. Ein Albtraum für den Controller. Der will genaue Zahlen. »Haben wir denn wenigstens unsere Kunden befragt, was die dazu sagen?«, insistiert er. Besser nicht. Denn Neues ist nur in den Kategorien des Bekannten für die Kunden fassbar. Anschlussfähigkeit wird gebraucht. Wer also das vollkommen Neue mit klassischer Marktforschung bei angestammten Kunden testen will, erntet eher Fehlprognosen, etwa so: Niemand brauche ein Mobiltelefon für 500 Dollar, das nicht mal eine Tastatur habe, erklärte der frühere Microsoft-Chef Steve Ballmer 2007 in einem Interview zum ersten iPhone überheblich.11 Kacheln im Handy? Die Leute wollen telefonieren, war sich ein hochrangiger Nokia-Manager sicher. Wenn selbst absolute Vollprofis bei Disruptionen derart danebenliegen, wie will da ein »Normalo« akkurate Vorhersagen machen? Wer dies fordert, zwingt die Leute zur Zögerlichkeit und strandet auf Nummer sicher in vertrauten Gefilden. Neue Businesslogiken lassen sich nicht mit alten Management-Denkmustern lösen.

Disruption bringt jeden dazu, sich immer wieder neu zu erfinden.

Ein zusätzliches Manko: Große Unternehmen brauchen große Zahlen, viele Kunden, jede Menge Umsatz und hohe Margen, um die geforderten Wachstumszuwächse zu erreichen. Ressourcen-Allokationen gehen dorthin, wo die großen Zahlen sind. Unter solchen Umständen kümmert sich niemand um Außenseiter. Kein Marketer hängt sich in etwas Vages rein, und kein Manager setzt seine Karriere aufs Spiel, solange er an Kurzfrist-Vorgaben gemessen wird. Wie soll unter solchen Umständen Disruptives entstehen? Wer immer zuerst nach Kennzahlen fragt und das Verfehlen von Plansolls öffentlich ahndet, macht sich zum Totengräber von Innovation und Kundenzentrierung. Nicht nur das, was man potenziell hinzugewinnt, sondern auch die verpassten Gelegenheiten und all das, was man dadurch auf Dauer verliert, müssen mit einkalkuliert werden. Investitionen in demnächst unrentable Technologien müssen dezimiert und Freiräume für wirklich innovative Geschäftsmodelle geschaffen werden.

 

Doch selbst die jüngste Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass Firmen sich fast immer dafür entscheiden, die bestehenden Einnahmequellen zu schützen. Mit oft verheerendem Ausgang, wie man regelmäßig der Presse entnimmt. Das wahre Grundproblem rückt dabei allerdings kaum in den Vordergrund: die hoffnungslos veraltete Organisationsstruktur. Sie muss als Erstes disruptet werden. Eine Vielzahl von Pionierunternehmen hat dies längst in Angriff genommen. Die große Mehrheit der etablierten Unternehmen hingegen klebt weiter fest an ihrem pyramidalen System.