Loe raamatut: «Fiskalstrafrecht», lehekülg 11

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b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 49 Abs. 3 GRCh)

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Auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sieht der EuGH als Grundlage rechtsstaatlicher Rechtsetzung und Rechtsanwendung an.[6] Darauf, dass Sanktionen stets verhältnismäßig sein müssen, hat der EuGH insb. in der Entscheidung Griechischer Mais[7] hingewiesen: Die Verhältnismäßigkeit stellt eines der drei Elemente der vielzitierten Mindesttrias dar. In der Entscheidung Calafa[8] hat der EuGH ebenso wie in der Entscheidung Federation of Technological Industries[9] deutlich gemacht, dass jede Entscheidung mit Sanktionscharakter streng am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen ist. Das führe unter anderem dazu, dass die Frage, ob ein Steuerpflichtiger von der kriminellen Zweckrichtung eines Umsatzes gewusst hat, zwar an objektiven Kriterien beurteilt werden dürfe, es sei jedoch unzulässig dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit zu nehmen, den Gegenbeweis zu führen.[10]

c) Nullum crimen sine lege (Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRCh)

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Das Gesetzlichkeitsprinzip ist auch nach unionsrechtlichem Verständnis die Basis eines rechtsstaatlichen Straftatsystems.[11] Daher gelten die Prinzipien des Bestimmtheitsgrundsatzes, des Analogieverbots und des Rückwirkungsverbots auch für die Durchführung des Unionsrechts; ferner gilt das Schuldprinzip.[12] Der EuGH hatte sich insofern zunächst auf Art. 7 Abs. 1 EMRK gestützt. Hierzu heißt es in einer Entscheidung des EuGH vom 12.12.1996:

Wenn es darum geht, den Umfang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu bestimmen, die sich aus speziell zur Durchführung einer Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften ergibt, verbietet es der Grundsatz, wonach ein Strafgesetz nicht zum Nachteil des Betroffenen extensiv angewandt werden darf, der aus dem Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen und, allgemeiner, dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens einzuleiten, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Dieser Grundsatz, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen, ist auch in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen verankert, u.a. in Artikel 7 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten . [13]

Mittlerweile ist das Gesetzlichkeitsprinzip in Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRCh garantiert. Der europäische Grundsatz nullum crimen sine lege verlangt jedoch nicht ausdrücklich ein geschriebenes Gesetz, so dass die Common-Law-Staaten weiterhin auch Strafen verhängen können, die auf ungeschriebenen, aber feststehenden Gesetzen basieren.

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Das im Gesetzlichkeitsprinzip enthaltene Bestimmtheitsgebot[14] fordert vom Gesetzgeber, dass er Strafgesetze so hinreichend deutlich und klar fasst, dass zum einen der Bürger erkennen kann, bei welchem Verhalten ihm welche Strafe droht und zum anderen der Gesetzgeber und nicht der Rechtsanwender die Frage der Strafwürdigkeit entscheidet.[15] Der Bestimmtheitsgrundsatz wurzelt im Gebot der Vorhersehbarkeit von Strafe und damit in der Garantie der Rechtssicherheit. Diese Garantie gilt auch dann, wenn der nationale Strafgesetzgeber auf blankettausfüllende Normen des Unionsrechts verweist. Die Reichweite und Intensität des europäischen Bestimmtheitsgebots sind jedoch keineswegs eindeutig. Während der EuGH in seiner früheren Rechtsprechung deutlich gemacht hat, dass er den Bestimmtheitsgrundsatz einheitlich und für das Strafrecht nicht strenger als im übrigen Recht auffasst, heißt es in der Halifax-Entscheidung, dass Rechtsakte, die Regelungen beinhalten, welche zu einer finanziellen Belastung des Bürgers führen, in besonderem Maße bestimmt sein müssen.[16] Ferner hat der EuGH ausgeführt, die Anforderungen der Gesetzesbestimmtheit seien nur erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mithilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen …[17] Damit gilt auch im europäischen Recht ein dem deutschen Verfassungsrecht angenäherter Bestimmtheitsgrundsatz, wenn auch im Hinblick auf die frühere Rechtsprechung des EuGH abzuwarten ist, wie der Gerichtshof den Bestimmtheitsgrundsatz in Zukunft fortentwickeln wird.[18]

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Ein weiteres wichtiges Prinzip des Unionsrechts ist das Verbot der täterbelastenden Analogie (Analogieverbot).[19] Es ist unzulässig, eine strafbegründende oder strafschärfende Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus anzuwenden, auch wenn der Rechtsgedanke der entsprechenden Strafvorschrift diese Anwendung tragen sollte und das betroffene Verhalten auch strafwürdig und strafbedürftig erscheint. Daraus ergibt sich auch, dass selbst eine europäische Missbrauchsrechtsprechung dann keine strafrechtliche Sanktion begründen darf, wenn die Anwendung dieser Judikatur entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes erfolgen müsste.[20] Die Missbrauchsrechtsprechung kann daher nur im Rahmen der unionsrechtskonformen Auslegung berücksichtigt werden, nicht aber den Wortlaut des nationalen Strafgesetzes überwinden.

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Der EuGH hat ferner bereits im Bosch-Urteil[21] festgestellt, dass es sich beim Rückwirkungsverbot um eine elementare Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips handelt, die auch im Unionsrecht – hier entschieden für das Kartellordnungswidrigkeitenrecht – Geltung beansprucht. Diese Entscheidung wurde auch in dem Fall Regina/Kirk Kent[22] noch einmal bestätigt.[23] Hier hatte sich der EuGH insb. auf Art. 7 EMRK berufen und festgestellt, dass auch eine rückwirkende Inkraftsetzung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts keine nationalen Strafsanktionen rechtfertigen könne.[24]

d) Lex mitior (Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh)

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Anders als das deutsche Verfassungsrecht garantiert die europäische Grundrechte-Charta das Milderungsgebot (Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh). Dieser auch lex mitior genannte Grundsatz ordnet die Verhängung der strafrechtlichen Sanktion aus dem mildesten Gesetzes an.[25] Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des mildesten Strafgesetzes gehört nach Auffassung des EuGH zur gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten.[26] Dabei kommt es auf die günstigste Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung an.[27] Relevant sind auch günstigere Zwischengesetze, selbst kürzeste ungeregelte Zeiträume können hier zu einer Milderung, sogar zur Straffreiheit führen. In der Entscheidung Berlusconi hat der EuGH[28] weiterhin festgestellt, dass das Milderungsgebot auch dann gilt, wenn sich durch seine Anwendung Beeinträchtigungen der Ziele des Unionsrechts ergeben; in diesen Fällen überwiegt das Gebot der Rechtsstaatlichkeit das Interesse an der Verfolgung der jeweiligen Unionspolitik.

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Unionsrechtliche Regelungen, die wegen des Anwendungsvorrangs zu einer Milderung der nationalen Strafrechtslage führen, sind als Minderungen auch i.S.v. § 2 Abs. 3 StGB zu berücksichtigen. Das gilt sowohl für Verordnungen, die Blankette ausfüllen, als auch für Richtlinien und Rahmbeschlüsse, die begünstigend für den Täter wirken.[29]

Anmerkungen

[1]

Vgl. hierzu auch Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 204 ff.

[2]

EuGH Slg. 1995, I-983 ff. – BLP; DStR 2006, 420 ff. – Halifax; DStR 2007, 1811 – Collée; DStR 2008, 450 ff. – Netto.

[3]

EuGH DStR 2006, 897 ff. (Federation of Technological Industries), EuGH DStRE 2008, 109 ff. – Teleos.

[4]

EuGH DStR 2008, 110; vgl. auch EuGH NZWiSt 2013, 102, 107, Rn. 47 – Mahageben und David m. Anm. Madauß; EuGH DStRE 2013, 803, 806 f., Rn. 40 f. – Bonik; ferner BGH NStZ 2014, 331, 333; m. Anm. Sens NZWiSt 2014, 463 ff.

[5]

Vgl. BGH NStZ 2014, 331, 334.

[6]

Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 217 ff.; krit. zur Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Rechtsstaatsprinzip Kaspar Verhältnismäßigkeit, S. 104.

[7]

EuGH NJW 1990, 2245 f.

[8]

EuGH EuZW 1999, 345, 346.

[9]

EuGH DStR 2006, 897 ff.

[10]

Vgl. hierzu auch Bülte CCZ 2009, 98, 99.

[11]

Vgl. zur Rechtsprechung des EuGH zu den rechtsstaatlichen Garantien auch die Nachweise bei Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Satzger § 1 Rn. 71.

[12]

Vgl. EuGH Slg. 1999, I-4287 Rn. 149 – Hüls; ferner EuGH Slg. 1999, I-4539 Rn. 175 Montecatini zur Unschuldsvermutung.

[13]

EuGH NZA 1997, 307 ff.

[14]

Vgl. BVerfGE 73, 206, 234; LK/Dannecker § 1 Rn. 35 ff.; 179 ff.; ferner zum verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz im Kontext der Internationalisierung des Strafrechts Satzger JuS 2004, 943 ff.

[15]

Vgl. hierzu u.a. BVerfGE 105, 135, 153 f. m.w.N.; LK-StGB/Dannecker § 1 Rn. 119, 131; ferner für das europäische Steuerstrafrecht Bülte BB 2010, 1759, 1766 f.

[16]

EuGH DStR 2006, 420 ff. – Halifax.

[17]

EuGH NJW 2007, 2237, 2239; eingehend Graf/Jäger/Wittig/Bülte § 370 AO Rn. 391; ders. BB 2010, 1759, 1765 f.

[18]

Vgl. die Nachweise bei LK-StGB/Dannecker § 1 Rn. 36; Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 209 ff.

[19]

Vgl. EuGH Slg. 2011, I-2539 ff.; vgl. auch Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 214.

[20]

Vgl. Bülte BB 2010, 1759, 1768.

[21]

EuGH Slg. 1962, 97 ff.

[22]

EuGH Slg. 1984, 2689, 2718 – Kirk Kent.

[23]

LK-StGB/Dannecker § 1 Rn. 39; Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 215.

[24]

Zum Gesetzlichkeitsprinzip im Kartellordnungswidrigkeitenrecht Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Müller Kap. 18 Rn. 217.

[25]

Vgl. insb. LK-StGB/Dannecker § 2 Rn. 54 ff.

[26]

EuGH EuZW 2005, 369 (371 Rn. 68) – Berlusconi.

[27]

EuGH EuZW 1999, 476 – Kortas.

[28]

EuGH EuZW 2005, 369 (371 Rn. 68) – Berlusconi.

[29]

Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 216 ff.

2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › VI. Unionsgrundsätze und Unionsgrundrechte im Strafrecht und Strafverfahrensrecht › 3. Europäische Grundrechte im Strafverfahren

3. Europäische Grundrechte im Strafverfahren

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Der EuGH hat in einer Reihe von Entscheidungen deutlich gemacht, dass sich aus dem Unionsrechts auch wichtige Garantien für das nationale Strafverfahren ergeben. Hier sollen die wichtigsten Verfahrensgrundrechte genannt werden:

a) Recht auf faires Verfahren (Art. 47, 48 GRCh)

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In einem nationalen Strafverfahren in den Mitgliedstaaten gilt der europäische Grundsatz des fairen Verfahrens, wie er vom europäischen Gericht für Menschenrechte aus Art. 6 EMRK entwickelt wurde, nun auch nach Art. 47, 48 GRCh. Insofern hat der EuGH betont, die Auslegung des fairen Verfahrens durch den EGMR stelle auch die Basis des Rechts aus der Grundrechtecharta dar. Die Prüfung einer Verletzung der Verfahrensfairness beruht nach dieser EGMR-Rechtsprechung, die auch der EuGH bislang als Interpretation der EMRK verbindlich angewendet hat, auf einer Gesamtbewertung. Hier ist die Frage zu beantworten, ob die „Parteien“ des Strafverfahrens trotz des Verfahrensverstoßes noch gleichberechtigt und angemessen am Verfahren einschließlich der Beweiserhebung teilhaben konnten. Zu dieser Teilhabe gehört insb. die Möglichkeit, sich vor Gericht zu Beweismitteln zu äußern,[1] einen Gegenbeweis anzutreten[2] und sich einer angemessenen und kompetenten Verteidigung zu bedienen. Der Rechtsanwender muss bei der Prüfung, ob der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt worden ist, letztlich die gesamte Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu diesem Themenkomplex berücksichtigen.

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Für das faire Haftbefehlsverfahren hat der EuGH in der Melloni-Entscheidung[3] ausgeführt, Art. 53 GRCh gestatte es den Mitgliedstaaten nicht, die Übergabe einer zu verhaftenden Person von der Bedingung abhängig zu machen, dass eine erneute Überprüfung des Urteils im Ausstellungsmitgliedstaat erfolgt, bei der das Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte so zu gewährleisten sind, wie sie in der Verfassung des Vollstreckungsstaates garantiert sind.

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Kurz zuvor hatte der EuGH in der Radu-Entscheidung[4] ausgeführt, der Vollstreckungsstaat dürfe die Vollstreckung nicht mit der Begründung verweigern, ein Verhafteter sei vor Erlass des europäischen Haftbefehls nicht angehört worden. Eine solche Verpflichtung würde den notwendigen Überraschungseffekt beseitigen und damit das im Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl vorgesehene Übergabesystem unweigerlich zum Scheitern bringen. Ein solcher Einwand übersteigere daher die Verfahrensrechte des Betroffenen so stark, dass die Durchführung des Verfahrens nicht mehr möglich sei. Damit hat der EuGH deutlich gemacht, dass nicht jeder der Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über die Vollstreckung eines Haftbefehls das Urteil im Ausstellungsstaat am Maßstab der eigenen nationalen Grundrechte überprüfen darf.

b) Ne bis in idem (Art. 50 GRCh, Art. 54 SDÜ)

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Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden (Art. 50 GRCh). Das europäische Verbot der Doppelverfolgung und Doppelbestrafung wurde durch den EuGH in einer mittlerweile großen Zahl von Urteilen ausgelegt und konkretisiert.[5] Grundsätzlich ergibt sich aus der Garantie ne bis in idem der Schutz des Bürgers davor, wegen einer Tat mehrfach strafrechtlich verfolgt oder sogar verurteilt zu werden. Nach dem deutschen Verfassungsrecht gilt Art. 103 Abs. 3 GG nur national; das Verbot, eine bereits im Ausland abgeurteilte Tat im Inland noch einmal anzuklagen, um gegebenenfalls einen „Strafnachschlag“ zu verhängen, ergab sich zunächst aus Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens, hat aber auch seinen Weg in die Grundrechte Charta der Europäischen Union gefunden.[6]

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Die Rechtsprechung des EuGH hat sich intensiv mit den einzelnen Elementen des Doppelbestrafungsverbots auseinandergesetzt und dabei zunächst einen sehr weiten Tatbegriff entwickelt. In der Entscheidung Kretzinger[7] hat der EuGH ausgeführt, der Tatbegriff sei unabhängig von seiner rechtlichen Qualifizierung tatsächlich zu verstehen. Maßgebendes Kriterium für die Anwendung von Art. 54 SDÜ sei die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse.[8] Dieser materielle, tatsächliche Begriff der einheitlichen Tat (idem) führt dazu, dass die Garantie des Doppelbestrafungsverbots im europäischen Kontext deutlich weiter greifen kann als das nationale Verbot.[9] Mit Blick auf das Doppelbestrafungsverbot im Haftbefehlsverfahren hat der EuGH die unionsautonome Auslegung des Begriffs dieselbe Tat in der Mantello-Entscheidung[10] bekräftigt.

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Eine Doppelbestrafung liegt aber auch nach unionsrechtlichem Verständnis nur dann vor, wenn nach einer rechtskräftigen Aburteilung und damit dem Eintritt von Strafklageverbrauch eine weitere Strafe verhängt wird. Er soll sich nach der Rechtsprechung des EuGH die Beurteilung, ob es sich um eine rechtskräftige Verurteilung handelt, grundsätzlich nach dem nationalen Recht richten, unter dessen Geltung die erste Entscheidung ergangen ist.[11] Hierzu heißt es in der Mantello-Entscheidung:[12] Eine Entscheidung, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, der die Strafverfolgung gegen eine Person einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene für eine bestimmte Handlung nicht endgültig verbraucht, kann grundsätzlich nicht als ein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Handlung gegen den Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat der Union angesehen werden.

In der neueren Judikatur des Gerichtshofs heißt es allerdings, dass bereits eine Einstellung des Strafverfahrens als rechtskräftige Verurteilung angesehen werden kann, wenn das Verfahren nur bei Auftreten neuer Tatsachen fortgesetzt werden kann.[13]

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Voraussetzung dafür, dass die Aburteilung einer erneuten Verfolgung als Verfahrenshindernis entgegensteht, ist, dass die ausgesprochene Strafe auch tatsächlich vollstreckt wird. Aber auch der Begriff der Strafvollstreckung wird vom europäischen Gerichtshof sehr weit verstanden, so dass auch die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung als Strafvollstreckung angesehen wird.[14]

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Auch der Begriff der Strafe und der Verurteilung wird in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich verstanden.[15] Eine Unterscheidung zwischen Strafen und Bußen, wie im deutschen Strafrecht, kennen andere Mitgliedstaaten nicht. Um eine einheitliche Auslegung der europäischen Grundrechte zu sichern, musste auch ein unionsrechtlicher Begriff der Strafe entwickelt werden. Diese Frage war insb. Gegenstand der Fransson-Entscheidung des EuGH.[16] Hier machte der Gerichtshof deutlich, dass steuerliche Verwaltungssanktionen, die keinen strafrechtlichen Charakter haben, auch neben einer Kriminalstrafe wegen Steuerhinterziehung verhängt werden dürfen.[17] Für die Beurteilung, ob es sich um eine Strafe handelt, dürfte es insb. darauf ankommen, ob es sich bei der Rechtsfolge um eine Sanktion handelt, die wegen eines schuldhaften Fehlverhaltens verhängt wird und unter anderem abschreckenden Charakter haben soll. Hierbei soll es insb. auf drei Faktoren ankommen: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion.[18] Daher könnte je nach konkretem Einzelfall die Versagung einer Steuerbefreiung oder des Vorsteuerabzugs[19] ebenso eine Strafe darstellen, wie ein Aufschlag auf eine Rückzahlung von Subventionen[20] oder ein Zuschlag bei der Steuerzahlung nach § 398a AO.[21]

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Jedoch hat der EuGH in der Entscheidung Menci[22] und bereits zuvor in der Sache Spasic[23] eine Relativierung des Grundsatzes der Freiheit vor Doppelbestrafung vorgenommen, die deutlich macht, dass es sich bei dem Ne-bis-in-idem-Grundsatz – anders als im deutschen Verfassungsrecht – nicht um eine unabwägbare Schranken-Schranke handelt, sondern ausschließlich um ein abwägbares Prozessgrundrecht. Art. 50 GRCh müsse daher im Lichte von Art. 52 GRCh betrachtet werden. Das bedeutet, dass eine Einschränkung des Grundsatzes und damit eine doppelte Verhängung einer als Strafe anzusehenden Sanktion nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh gerechtfertigt sein könnte.

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Voraussetzung sei jedoch, dass die Einschränkung „der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen ist“ und „den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten“ achtet. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.[24]

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Die Bekämpfung der Hinterziehung und die vollständige Erhebung der Mehrwertsteuer, der die fragliche nationale Vorschrift dienen sollte, hat der EuGH als eine solche, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung angesehen. Aufgrund dieser besonderen Bedeutung könne eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Art gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen.[25] Daher hat es der Gerichtshof bei Zuwiderhandlungen im Bereich der Mehrwertsteuer als legitim angesehen neben einer pauschal festgesetzten Verwaltungssanktion, die bei jedem Verstoß verhängt werden kann, eine zusätzliche schwerer strafrechtliche Sanktion in besonders schweren Fällen des Mehrwertsteuerbetrugs zu verhängen.

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Diese doppelte Bestrafung sei jedoch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann vereinbar, wenn die vorgesehene Kumulierung der Sanktionen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der mit der nationalen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, unter mehreren gleich wirksamen Mitteln ist das mildeste Mittel zu wählen.[26] Bei der Bewertung der Erforderlichkeit ist nach der Rechtsprechung des EuGH ferner zu berücksichtigen, ob die Regelung, die eine solche Kumulierung vorsieht, klare und präzise Regeln aufstellt, die es dem Bürger ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt.[27] Der EuGH[28] hatte das im Vorlagefall bejaht, obwohl die kriminalstrafrechtliche Verfolgung auch nach Abschluss des Verwaltungssanktionsverfahrens noch möglich war und die beiden Verfahren unabhängig voneinander durchgeführt werden, jedoch ist die strafrechtliche Sonderverfolgung auf schwere Fälle beschränkt, in denen der Hinterziehungsbetrag 50.000 € überschreitet. Hier sei die Durchführung des nachträglichen Strafverfahrens geboten, weil ansonsten die Sanktion nicht dem Unrecht der Tat entspreche (vgl. auch Art. 49 Abs. 2 GRCh).

100

An die Vorschriften des nationalen Rechts sei zudem die Anforderung zu stellen, dass die Verhängung einer kumulierten Strafe verhindert werden muss, die in der Gesamtbetrachtung tat- und schuldunangemessen erscheint. Schließlich sei mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR[29] darauf hinzuweisen, dass eine doppelte Sanktion nur zulässig ist, wenn ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen dem Steuerstraf- und dem Steuerverfahren bestehe.