Loe raamatut: «Pierre Bourdieu»
[1]UTB 2649 |
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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
[2][3]Werner Fuchs-Heinritz,
Alexandra König
Pierre Bourdieu
Eine Einführung
3., überarbeitete Auflage
UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz
mit UVK/Lucius • München
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1. Auflage 2005
2. Auflage 2011
3. Auflage: © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz
UVK Verlagsgesellschaft mbH
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www.uvk.de UTB-Band Nr. 2649 ebook-ISBN 978-3-8463-4233-6
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
[5]Inhalt
1. | Einleitung |
2. | Wichtige Forschungsarbeiten |
2.1 | Algerien: Die zwei Gesichter der Arbeit |
2.2 | Bildung: Die Illusion der Chancengleichheit |
2.3 | Klassenstruktur und Lebensstile: Die feinen Unterschiede |
2.4 | Wohnen: Der Einzige und sein Eigenheim |
2.5 | Gegenwartsanalyse: Das Elend der Welt |
3. | Theoreme und Konzepte |
3.1 | Habitus |
3.2 | Einverleibung |
3.3 | Feld |
3.4 | Kapital |
3.4.1 Ökonomisches Kapital | |
3.4.2 Kulturelles Kapital | |
3.4.3 Soziales Kapital | |
3.4.4 Symbolisches Kapital | |
3.5 | Strategie |
3.6 | Sozialer Raum und Klassen |
3.7 | Sozialer Raum und Lebensstile |
3.8 | Distinktion |
3.9 | Soziale Laufbahn |
3.10 | Doxa |
3.11 | Symbolische Gewalt |
3.12 | Institutionsritus (Einsetzungsritus bzw. Stiftungsritus) |
[6]4. | Grundansätze |
4.1 | Bindung an die empirische Forschung |
4.2 | Nähe zur Ethnologie |
4.3 | Denken in Relationen |
4.4 | Weder Objektivismus noch Subjektivismus |
4.5 | Eigensinn der sozialen Praxis |
4.6 | Kritik der »scholastischen Vernunft« |
4.7 | Reflexivität der Sozialwissenschaft |
5. | Wurzeln und Quellen, Freunde und Feinde |
6. | Notizen zur Biografie Bourdieus |
7. | Politische Schriften und Aktivitäten |
8. | Zur Wirkung von Bourdieu in der sozialwissenschaftlichen Forschung |
9. | Schluss |
10. | Literaturverzeichnis |
10.1 | Schriften von Bourdieu |
10.2 | Veröffentlichungen von Bourdieu zusammen mit anderen |
10.3 | Interviews und Gespräche mit Bourdieu |
10.4 | Weitere Literatur |
Register |
[7]Vorbemerkung zur 3. Auflage
Für die vorliegende 3. Auflage haben wir den Gesamttext durchgesehen und stellenweise gestrafft, wichtige Bücher und Aufsätze aus den letzten vier Jahren eingearbeitet und insbesondere das Kapitel 8 über die Wirkung von Bourdieu in den Sozialwissenschaften stark erweitert.
Münster und Wuppertal, August 2014
W. Fuchs-Heinritz, A. König
Vorbemerkung zur 2. Auflage
Nach einigen Informationen hat sich dieses Buch als Überblickstext bewährt. Für die hier vorliegende 2. Auflage haben wir, abgesehen von einer Durchsicht des Gesamttextes, vor allem Bücher und Aufsätze berücksichtigt, die seit 2005 erschienen sind, und ein neues Kapitel über die Wirkungen von Bourdieu in der sozialwissenschaftlichen Forschung eingefügt. Bei den Recherchen hat Franziska Sommer (Hagen) geholfen.
Münster und Wuppertal, Januar 2011 W. Fuchs-Heinritz, A. König
Vorbemerkung zur 1. Auflage
Dieses Buch ist die überarbeitete und ergänzte Fassung eines Studienkurses der Fernuniversität Hagen. Für hilfreiche Ratschläge für die Überarbeitung danken wir Nicole Burzan, Ivonne Küsters (beide Hagen), Karl-Heinz Mamber (Stuttgart) und Manfred Müller (Alarò, Mallorca). Jörg Blasius (Bonn) und Christoph Weischer (Bochum) haben uns geholfen, die Korrespondenzanalyse besser zu verstehen. Bei Hannah Müller von der UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz bedanken wir uns für das gründliche Lektorieren des Textes. Bei den Korrekturarbeiten haben Astrid Canzler und Ilka Weber (beide Hagen) geholfen.
Hagen, Januar 2005 W. Fuchs-Heinritz, A. König
[8][9]1. Einleitung
Manche Autoren, die eine Einführung in das Werk Bourdieus schreiben, tun dies, indem sie seine theoretischen Konzepte nacheinander vorstellen und erörtern – so, als handele es sich um das Gerüst einer allgemein-soziologischen Kategorienlehre. Dabei wird jedoch eine grundlegende Intention von Bourdieu zu wenig berücksichtigt: Dass nämlich die Konzepte und Theoreme Werkzeuge sein sollen für die Erforschung der sozialen Wirklichkeit.
Immer wieder hat sich Bourdieu scharf gegen eine nur am Text orientierte Lektüre seiner Arbeiten gewandt: Das größte Missverständnis bestehe darin, dass die Lektüre
»ihr Ziel in sich selbst hat, daß sie sich für die Texte und für die von ihnen transportierten Theorien, Methoden oder Begriffe nicht etwa interessiert, um sie als brauchbare und zu vervollkommnende Instrumente praktisch zu nutzen, sondern um sie (gelegentlich unter epistemologischen und methodologischen Vorwänden) mit anderen Texten in Zusammenhang zu bringen und zu glossieren.« (Meditationen 1997/2001, 80)
Wissenschaftliche Schriften verstehen
»heißt, daß man von der Denkweise, die in ihnen zum Ausdruck kommt, an einem anderen Gegenstand praktischen Gebrauch macht, sie in einem neuen Produktionsakt reaktiviert, der ebenso intensiv und originär ist wie der ursprüngliche …« (Habitus und Feld 1985/1997, 65)
Zugespitzt:
»›Theorien‹ sind Forschungsprogramme, die nicht zur ›theoretischen Diskussion‹ anregen sollen, sondern zur praktischen Umsetzung, über die sie dann widerlegt oder verallgemeinert werden können.« (Gespräch Inzwischen 1988/1991, 278; ähnlich: Reflexive Anthropologie 1992/1996, 262)
Dieser Grundanspruch beeindruckt wegen seiner handwerklichen Orientierung, wegen seiner auf Produktivität statt auf Rezeptivität gerichteten Absicht. Aber ganz Recht hat Bourdieu damit nicht. Nicht alle sozialwissenschaftliche Arbeit kann aus eigener Forschung bestehen. Essays, Überblicke, Kompendien, kritische Würdigungen, Rezensionen, theoretische Zwischenbilanzen und Theorievergleiche müssen als eigene Genres wichtig bleiben. Und ihnen obliegt es nun einmal, die Denklogik eines großen soziologischen Vorschlags zu beurteilen und in die Überlieferung von ähnlich wichtigen [10]Vorschlägen kritisch einzuordnen.1 Ein Verbot, sich mit den Konzepten an sich zu befassen, wäre ein Denkverbot.
Nun könnte man aus Bourdieus Grundhaltung den Schluss ziehen, dass es nicht angemessen ist, die Arbeiten eines Soziologen als Überblick über sein Werk vorzustellen. Wäre es dem Fortschritt der Soziologie nicht dienlicher, über Forschungsprobleme und Fragen der Theoriebildung sowie über deren Lösungen zu schreiben – ganz unabhängig von großen Namen und unbeeindruckt vom Wunsch manches Autors, der Wissenschaft ein kohärentes Werk zu schenken? Wir werden diese Frage anhand von Bourdieus Haltung zu seinem eigenen Werk später diskutieren.
Die Gliederung dieser Einführung in Bourdieus Werk folgt seinen eigenen grundsätzlichen Überlegungen: Am Anfang steht die Darstellung wichtiger Forschungsarbeiten Bourdieus und erst gegen Ende werden die theoretischen und konzeptuellen Beziehungen zu anderen Autoren skizziert, um eine vorschnelle Einordnung in eine sozialwissenschaftliche Schule oder Strömung zu verhindern. Abgeschlossen wird mit einer Skizze zur Wirkung von Bourdieu in der sozialwissenschaftlichen Forschung.
Wir haben hier keine Werkgeschichte im Sinn, wollen also nicht die Entwicklung der Konzepte und Theoreme in der Lebensgeschichte des Autors nachvollziehen. Das sei den Biografen (und den Hagiografen) überlassen. Aus der Vernachlässigung der Werkgeschichte ergibt sich jedoch die Gefahr, dass die Darstellung zu flächig werden könnte, schlimmer: dass das Gedankengebäude Bourdieus in sich stimmiger erscheinen könnte, dass sich ein Eindruck von Systematisiertheit ergeben könnte, die im Werk selbst zu keinem Zeitpunkt vorhanden war. Dieser Gefahr soll dadurch begegnet werden, dass Bourdieus Forschungsarbeiten in werkgeschichtlicher Linie vorgestellt werden, wodurch sich ganz natürlich Einblicke in die Entwicklung seiner Konzepte und Instrumente ergeben.
Der Verzicht auf werkgeschichtliche Untersuchung hat – gerade bei Bourdieu – noch einen zweiten Nachteil: Sein Werk ist zu einem erheblichen Grad durch Wiederholungen gekennzeichnet. Teile von früheren Schriften werden – wenn auch meist bearbeitet – in spätere aufgenommen. Auch im Einzelnen finden sich immer wieder Argumente, Belege, Absätze, Abschnitte und Sequenzen von mehreren Seiten, die der Leser wortgleich oder in ähnlicher Formulierung schon aus früheren Schriften kennt. Nachzusehen, worin die Bearbeitung der älteren Texte im Hinblick auf spätere Zusammenfügungen bestanden hat, was Bourdieu neu hinzugedacht hat, würde eine langwierige (und langweilige) Arbeit bedeuten, die wir nicht einmal erwogen haben. [11]So bleiben unter Umständen wichtige Entwicklungsprozesse von Bourdieus Denken unbemerkt. Sollte man deshalb nicht doch der Entwicklung von Bourdieus Denken folgen, um es ganz verstehen zu können (so Mahar/Harker/Wilkes 1990, 3)? Für interessanter halten wir die Frage, wie er seine Konzepte verwendet.
Wir berücksichtigen im Folgenden Texte, die Bourdieu allein verfasst hat, gleichwertig mit solchen, die er mit anderen zusammen geschrieben hat. Bei Letzteren vernachlässigen wir die Frage, ob Bourdieu der Hauptautor oder der Initiator war, nehmen aber an, dass er die Texte seiner Koautoren autorisiert hat.
In unserer Darstellung lehnen wir uns nicht an Bourdieus Schreibweise an. Diese ist oft – abgesehen von den frühen Schriften, aber auch vom Buch »Das Elend der Welt« – durch einen überkomplexen, geradezu unübersichtlichen Satzbau (ellenlange Sätze mit mehreren ineinander geschachtelten Nebensätzen und Einschüben) gekennzeichnet. Hier folgen wir Jenkins (1992, 10 und 163), der sich in seiner Einführung in Boudieus Soziologie um eine möglichst klare Schreibweise bemüht und sicher ist, dass dies der Qualität und der Tiefe des dargestellten Werkes keinen Abbruch tut.
1 Eine andere Lösung bei Brubaker 1993, 212 ff.
[12][13]2. Wichtige Forschungsarbeiten
2.1 Algerien: Die zwei Gesichter der Arbeit
Die Grundfragen (wenn auch vielleicht noch nicht die Grundbegriffe) seiner Soziologie hat Bourdieu bereits in seinen frühen Forschungen über Algerien entwickelt (vgl. Krais/Gebauer 2002, 18 ff.; Neckel 2002, 30).
»Wenn Pierre Bourdieu die an ihn gerichtete Frage: ›Steckt in diesen frühen Arbeiten vielleicht schon der ganze Bourdieu?‹, ohne Zögern bejaht, so verweist dies auf die Schlüsselstellung dieser Texte für ein adäquates Verständnis der Grundmotive und Entwicklungsdynamik seines Werkes und dessen so eigentümlicher theoretischer Geschlossenheit.« (Schultheis 2000, 166)
Nach Abschluss der Pariser Elitehochschule kam der junge Philosoph Mitte der 1950er Jahre als Wehrpflichtiger nach Algerien, in ein Land, das sich im Kriegszustand befand, im Kampf gegen das französische Kolonialsystem bzw. gegen die koloniale Situation. Ähnlich einer Initiation (so: Selbstversuch 2002, 67) ergab sich für Bourdieu in diesem Umfeld eine Herausforderung, durch die er, weitab von der akademischen Philosophie, seinen soziologischen Denkansatz entwickelte. In seinen Arbeiten über Algerien, das bis Anfang der 1960er sein zentrales Forschungsthema und auch danach immer wichtig blieb, gewann sein Anspruch an die Soziologie Kontur:
»Ich wollte angesichts der dramatischen Situation in Algerien etwas tun, wollte mich nützlich machen und entschloß mich deshalb, eine Untersuchung über die algerische Gesellschaft in Angriff zu nehmen, um den Menschen zuhause ein wenig besser verständlich zu machen, was in diesem Land geschah. Ich wollte bezeugen, was sich da vor meinen Augen abspielte.« (zit. nach Schultheis 2000, 170f.)
Algerien fehlte in diesem Krieg Bourdieu zufolge (Revolution 1961/2010, 29) ein konkreter Gegner: Der Krieg richtete sich gegen das (koloniale) System schlechterdings, gegen dessen Diskriminierungen und Klassendifferenzierungen; er konnte daher nur unzureichend als Bürgerkrieg bezeichnet werden. Einerseits opponierten die Algerier gegen das System, andererseits imitierten sie die Kolonialherren, indem sie versuchten, den Anforderungen des kapitalistischen Systems zu entsprechen (vgl. Schmeiser 1985, 169).
Bourdieu beschreibt die Situation in Algerien als Zusammenprall einer kapitalistischen mit einer vorkapitalistischen Gesellschaftsordnung; demnach
[14] »sindsoziale, ökonomische und psychologische Auflösungserscheinungen allem Anschein nach als Ergebnisse einer Interaktion zwischen ›äußeren Kräften‹ (Einbruch der westlichen Zivilisation) und ›internen Kräften‹ (ursprünglichen Strukturen der autochtonen Zivilisation) aufzufassen.« (Zusammenstoß 1959/2010, 75)
Die Konstellation im Land glich einem »Experiment«, einer »Laborsituation«. Die durch die militärischen Maßnahmen (z. B. Zwangsumsiedlung großer Bevölkerungsgruppen, Errichtung von Sammellagern) hervorgerufene
»historische Beschleunigung … brachte … zwei Typen von Wirtschaftssystemen mit völlig konträren Anforderungen zur Koexistenz, die gewöhnlich durch einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren voneinander getrennt sind«. (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 7)
Die traditionellen Pfeiler der algerischen Gesellschaft – Kohäsion der Familie, Kohäsion des Stammes – gerieten mit dem Aufkommen des modernen, aufs Individuum zentrierten Denkens ins Wanken. Nicht nur die vorkapitalistische Wirtschaftsordnung wurde durch den Zusammenprall mit einer kapitalistischen umgestoßen, sondern auch die soziale, die moralische, die psychologische, kurz: die Ordnung insgesamt (so: Zusammenstoß 1959/2010, 80). Das vorkapitalistische System, das die einzig mögliche und denkbare Lebensform gewesen war, stand jetzt ganz in Frage; also andere »psychologische Tugenden«, Fähigkeiten und Verhaltensweisen wurden von den Menschen gefordert, wurden jetzt Voraussetzungen für erfolgreiches Handeln (Zusammenstoß 1959/2010, 84). Um diesen Hintergrund des algerischen Befreiungskrieges in Frankreich verständlich zu machen, sah Bourdieu es als unabdingbar an, die Situation, aus der er sich entwickelt hatte und gegen die er sich richtete, zu verstehen, also die Erschütterung der ursprünglichen Sozialordnung und die neuen Anforderungen von Seiten des kapitalistischen Systems. Mit dieser Auffassung wurde auch die Sicht der Kolonialmacht Frankreich kritisierbar, denn dort wurde nicht die koloniale Situation als Auslöser und Adressat des Krieges betrachtet (Revolution 1961/2010159 f.), sondern das Bestreben Algeriens, sich von Frankreich zu lösen.
In diesem frühen Aufsatz (Zusammenstoß 1959/2010) wird somit bereits ein Grundzug aller Arbeiten Bourdieus deutlich: Statt nur Teilbereiche der Gesellschaft (z. B. den Wandel im Wirtschaftssektor) zu betrachten, wollte er die Komplexität der vor sich gehenden Prozesse erfassen und die unterschiedlichen Strategien und Einstellungen (vor allem zur Zeit und zur Zukunft) in den Blick nehmen, die die vorkapitalistisch sozialisierten Algerier hatten bzw. die in dem durch die Kolonialherrschaft übergestülpten kapitalistischen System erforderlich wurden.
[15]Bourdieus erste Monografie »Sociologie de l’Algérie« (1958/1985) ist eine Art Landesstudie (Schultheis 2003, 32).2 Auch wenn die Studie soziologisch nicht sehr tief reicht, bietet sie doch eine Beschreibung der sozialen und ökonomischen Strukturen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Algerien, die unverzichtbar ist, um die Transformation der traditionellen Sozialordnung in Algerien zu verstehen.
Aufschlussreich ist die Beschreibung der Kabylen, die in Bourdieus späteren Studien oft im Zentrum stehen: Dieses bevölkerungsstarke Bergvolk, das traditionell vom Oliven- und Feigenanbau sowie von den durch die Frauen angelegten Gemüsegärten lebt (Sociologie de l’Algérie 1958/1985, 9 ff.), wohnt – trotz Nähe zur Hauptstadt Algier – recht isoliert im Norden des Landes. Der Islam hat hier noch wenig Verbreitung gefunden, die Kabylen haben sich in ihrem Rechtssystem und in ihrem bäuerlichen Verhältnis zu Grund und Boden einen »style de vie originale« erhalten (Sociologie de l’Algérie 1958/1985, 7). Sie kennen kein kodifiziertes Recht, stattdessen leitet ein intuitives Gespür für Gerechtigkeit und Angemessenheit das Handeln. Damit ist ein Handlungsregulativ angesprochen, das Bourdieu später doxa nennen wird, also die ohne Nachdenken und ohne Abstimmung wirksame »Koinzidenz zwischen objektiver Ordnung und subjektiven Organisationsprinzipien«, durch die »die natürliche und soziale Welt schließlich als selbstverständlich vorgegebene« erscheint (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 325; vgl. Sociologie de l’Algérie 1958/1985, 25). Diese traditionelle Lebensform wird durch die Kolonialisierung gefährdet, weil ihre fundamentale Idee der Verwandtschaftlichkeit im kapitalistisch geprägten Kolonialsystem nicht mehr trägt: Gefühle von Angemessenheit und Gerechtigkeit, die allen gemeinsam sind, werden zunehmend in formelle Prinzipien und Rechtsverhältnisse umgewandelt.3
Die koloniale Situation war für Bourdieu nicht nur Untersuchungsgegenstand, sie prägte auch die Forschungsarbeit selbst. Denn dem Wissenschaftler aus Frankreich, aus dem Land der Kolonialherren, wurde während der Feldforschung wiederholt Skespis oder auch Feindseligkeit entgegengebracht.4
[16]In einer solch undurchsichtigen, sogar gefährlichen Situation zu forschen, verlangte eine reflektierte Offenheit gegenüber den spezifischen Möglichkeiten und Bedingungen. So arbeitete Bourdieu einerseits bei der Sozialstrukturanalyse der algerischen Kolonialgesellschaft mittels Fragebogenerhebungen eng zusammen mit Mitarbeitern der algerischen Vertretung des INSÉE, des Nationalen Statistischen Instituts Frankreichs, und einer Gruppe algerischer Studenten. Andererseits nutzte er zusätzlich weitere Datenformen und Erhebungsverfahren (von der Sammlung von Sprichwörtern, der Erhebung von offenen Interviews und direkten Beobachtungen bis hin zur Sammlung und Interpretation von Fotografien5). In Begleitung des algerischen Studenten Abdelmalek Sayad (der noch Jahre später in Frankreich mit ihm zusammenarbeitete) bereiste er das Land, um sich durch Begegnungen und Erfahrungen in seinem Denken verunsichern und auf neue Untersuchungsbereiche lenken zu lassen; so auf die Beziehung zwischen Wirtschafts- und Zeitstrukturen, auf die Bedeutung der Gabe und des Tausches (insbesondere auf dem Heiratsmarkt) und auf die Bedeutung der Ehre. Für seinen Zugang zum Forschungsfeld war immer wieder die Hilfe von Algeriern unerlässlich, die ihn als jemanden einführten, dem man vertrauen konnte.
Das zentrale Werk dieser Algerien-Studien ist »Travail et travailleurs en Algérie« (1963). Darin werden in einem ersten, von den INSÉE-Mitarbeitern Jean-Paul Rivet und Claude Seibel sowie Alain Darbel (dem Leiter des Instituts) erarbeiteten Teil die »Données statistiques« (statistischen Daten) präsentiert, der zweite Teil besteht aus einer »Étude sociologique« von Bourdieu.6 Gegenstand der Studie ist die Erwerbssituation in Algerien. Die Arbeitswelt ist für Bourdieu und seine Mitarbeiter ein Schlüsselthema, weil sie im Schnittpunkt der Konfrontation beider Wirtschaftssysteme liegt und [17]weil die Autoren an ihr die spezifische Situation des Landes deutlich machen können, nämlich den Konflikt zwischen den Anforderungen einer traditionalen Arbeitskultur mit denen der modernen Rationalität (Travail et travailleurs 1963, 266).
Der erste Teil des Buches liefert die Auswertung eines Fragebogens, in dem Algerier, aber auch im Lande ansässige Franzosen zu ihrer Familienstruktur, zur Hauptbeschäftigung, zur Arbeitszeit und zum Arbeitsbereich, zum individuellen und Familieneinkommen sowie zur Arbeitslosigkeit befragt worden waren.
In dem theoriegeleiteten zweiten Teil von Bourdieu geht es um die Frage, was geschieht, wenn der Kapitalismus nicht, wie in der Geschichte West-und Mitteleuropas, Ergebnis einer autonomen Evolution ist, sondern einem Land von einer äußeren Kraft aufgezwungen wird, und wie sich die Akteure, die in ihren Einstellungen und Haltungen nicht zu den ökonomischen Strukturen passen (Travail et travailleurs 1963, 314), zurechtfinden. Es geht darum, welche Fähigkeiten (z. B. rationales Kalkulieren) und Wertvorstellungen die Adaption an die neuen Strukturen fordert, die von den in einer anderen Tradition aufgewachsenen Menschen eine Konversion ihrer (ökonomischen) Einstellungen, »une réinvention créatrice« verlangen (Travail et travailleurs 1963, 313 ff.). Aus der Untersuchung der algerischen Gesellschaft wird so auch eine Überprüfung der Thesen Max Webers über die förderlichen Bedingungen für die Entstehung des Kapitalismus in der sozialen Mentalität.7 Bourdieu erinnert sich später:
»… meine Frage war: ›Was sind die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Zugangs zur Rationalität …?‹ Es war eine Webersche Frage, die ich allerdings in marxschen Begriffen stellte …« (zit. nach Schultheis 2000, 166)
Zu diesem Zweck lernte Bourdieu Deutsch und übersetzte Ausschnitte aus Webers Protestantismus-Studie (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 112).
Um Antworten auf diese weit gespannten Fragen zu erhalten, entwickelte Bourdieu auf der Basis erster ethnografischer Erfahrungen einen Fragebogen, der auch Fragen nach den Erwartungen an den Beruf und nach dessen Wahrnehmung bzw. Einschätzung enthielt (Travail et travailleurs 1963, 558 ff.).
Kombiniert wurde dieser Fragebogen jeweils mit einem offenen Interview. Zu den nach Zufall ausgewählten Personen wurden zwei Interviewer [18]geschickt: ein Algerier und ein Franzose.8 Weil meist auf Aufnahmegeräte verzichtet wurde, war diese Konstellation nicht nur für eine vertrauenserweckende Atmosphäre und somit für die Qualität der Informationen förderlich, sie war auch praktisch: Der eine schrieb mit und der andere führte das Interview. Der Interviewer ließ sich zunächst auf die Aussagen des Befragten ein, ohne sich strikt am Fragebogen zu orientieren. Die dadurch mögliche »reelle« Verständigung trug dazu bei, eine vertrauensvolle Gesprächssituation zu schaffen (Travail et travailleurs 1963, 261, Fußn. 4), in der es dann auch möglich wurde, politische Fragen zu stellen, die sonst oft Misstrauen erregten. Erst am Ende wurde rekapitulierend der Fragebogen hinzugezogen. So wurden die Vorteile der geschlossenen Befragung mit denen des offenen Interviews kombiniert. Bereichert wurde die Studie durch zusätzliches Datenmaterial (Sprichwörter etc.). Rückblickend meint Bourdieu, dass ihm das quantitative Vorgehen ein Stück weit über seine Verunsicherung in einer emotional aufwühlenden und auch gefährlichen Situation hinweggeholfen und ihn daran gehindert habe, »den Philosophen zu spielen« (zit. nach Schultheis 2000, 175 ff.; auch: Schultheis 2003, 35).
In deutscher Sprache liegt seit dem Jahr 2000 »Die zwei Gesichter der Arbeit« vor, eine ursprünglich für einen Aufsatz gekürzte Version des zweiten Teils von »Travail et Travailleurs« von 1963. Anhand dieser Fassung werden im Folgenden Bourdieus statistische und ethnografische Arbeiten der Jahre 1958 bis 1961 skizziert.
Die quantitative Erhebung erbringt erste wichtige Erkenntnisse, zeigt aber auch die Schwierigkeiten, die in den Vorannahmen einer standardisierten Befragung stecken können. So impliziert der Begriff der Arbeit eine kapitalistische Logik, wenn er in der Dimension produktiv/unproduktiv verstanden wird. In der vorkapitalistischen Gesellschaft wird die Aktivität an sich geschätzt; nicht Unproduktivität, sondern Müßiggang wird verachtet. Weniger eine spezielle Leistung als vielmehr der Einsatz für die Gruppe – und sei es in der Form eines Gesprächs mit den Dorfältesten – erfährt Anerkennung. Jedem Gruppenmitglied wird eine, wenn auch oft nur symbolische Arbeit zugewiesen, so dass es die Möglichkeit hat, seine Pflichten gegenüber der Gruppe zu erfüllen. In einer solchen Ordnung kommt Arbeitslosigkeit nicht vor. Die Frage danach ist also eine, die aus (europäischer) Forschersicht an den Interviewten herangetragen wird, aber keine, die im bäuerlichen Traditionalismus [19]eine Rolle spielt. Insofern ist das Bewusstsein, arbeitslos zu sein, ein Indiz für »eine Konversion in der Haltung gegenüber der Welt« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 95), aufgrund derer Arbeit nicht mehr eine soziale Funktion beschreibt. Diese veränderte Einstellung taucht vor allem in den vom Kapitalismus stärker durchdrungenen Regionen auf.
»So kommt es, daß sich die Landbewohner der kabylischen Regionen gerne al arbeitslos bezeichnen, sobald sie ihre Beschäftigung als unzureichend erachten, während sich die Landwirte und Hirten im Süden Algeriens bei ähnlich liegenden Beschäftigungsquoten als beschäftigt ansehen.« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 95)
Um solche für den Forscher scheinbar selbstverständlichen Vorstellungen wie die moderne Idee der Arbeit relativieren zu können, helfen die qualitativen Interviews, die Analyse von Sprichwörtern, allgemein der offene Umgang mit Informationen jeder Art. Sie helfen so auch bei der Interpretation der Daten der quantitativen Erhebung.
Indem der Kapitalismus auf Rationalisierung und Berechenbarkeit setzt, steht er konträr zur traditionellen Lebens- und Arbeitsweise der algerischen Bauern. Als Voraussetzung für eine rationalisierte Arbeitshaltung identifiziert Bourdieu die spezifische Auffassung der Zeitstrukturen, die Vorstellung von der (Machbarkeit der) Zukunft. Er zeigt, wie das Zeitbewusstsein mit den materiellen Existenzbedingungen verbunden ist (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 43). Entsprechend den geringen objektiven Möglichkeiten, die eigenen Existenzbedingungen zu kontrollieren, wird die traditionelle Lebensund Arbeitsweise nicht durch einen vorausschauenden Blick in die Zukunft geleitet. Vielmehr werden, indem man aus der Not eine Tugend macht, jene zukunftsorientierten Dispositionen, die der Kapitalismus voraussetzt, geradezu vermieden, wie Berechnung und Rechenhaftigkeit (es gibt Regeln, die das Zählen und Beziffern verbieten; Travail et travailleurs 2000, 42), die Sorge um Effizienz und Produktivitätssteigerung, Kalkulation – alles Dispositionen, die in eine »unwirkliche Welt des Zukünftigen und Möglichen« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 41) weisen.
Die Bauern setzen ihre Ausgaben auf der Grundlage der Erträge aus der letzten Saison, und nicht im Hinblick auf den zukünftig erwarteten Ertrag fest. Sie konsumieren einen Überschuss an Weizen oder Gerste, statt ihn zu reinvestieren. Sie sorgen, statt vorausschauend zu kalkulieren, für den Erhalt des Status quo und opfern insofern »die Zukunft der Produktion zugunsten jener des Konsums« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 33).9
[20]Rationales Kalkulieren ist bei einem überschaubaren, sich wiederholenden Produktionszyklus wie dem landwirtschaftlichen, der dazu an natürliche (mythisch interpretierte) Prozesse gebunden ist, auch weniger erforderlich als beim kapitalistischen, der, zergliedert in Teilprozesse, eine abstrakte Zukunft anvisiert (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 34 f.). Für den Bauern ist das Kommende nicht ein planbares Jenseits der Gegenwart, sondern es ist in der Gegenwart enthalten – wie der Samen in der Erde oder das Kind im Mutterleib.
Das Leben der kabylischen Bauern wird zeitlich geordnet durch einen mythisch-rituellen Kalender, der das Handeln der Individuen in Gleichklang bringt. Dieser einheitliche Lebensrhythmus ermöglicht die Vorhersagbarkeit des Verhaltens der anderen und damit den Zusammenhalt der Gruppe: »Respekt vor den zeitlichen Rhythmen ist tatsächlich eines der grundlegenden Gebote dieser Ethik der Konformität.« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 58)
Der Zusammenhalt der Gemeinschaft wird auch gewährleistet durch die Besitzgemeinschaft der Verwandten, die jede Berechnung einzelner Konsumausgaben und jede individualistische Aneignung des Bodens ausschließt. Gestützt wird dieses System durch die Moral der Ehre10, die Eigenschaften wie Berechnung, Gier oder die Orientierung an der Uhr verdammt (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 45). Im Rahmen von Treu und Glauben erbittet man beispielsweise einen Kredit von einem Verwandten oder Bekannten. Im Gegensatz zur Kreditaufnahme bei einem Fremden ist hier die Abmachung nicht durch einen kodifizierten Vertrag, der den zukünftigen Verlauf abstrakt regelt, sondern durch die objektive und dauerhafte Bindung der Akteure in der Gegenwart gesichert, die keiner genau kalkulierten Fristsetzungen bedarf (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 40).