Der galaktische Faust: Science Fiction Abenteuer

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So mancher kleiner Planetendiktator hätte seinen rechten Arm dafür gegeben, denn mit diesem Verfahren konnte man perfekte Untertanen formen.

Auf Neuwelt wurde es dazu eingesetzt, um die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten eines Menschen dadurch zu erweitern, daß man ihn von hinderlichen Komplexen befreite, die ihn andernfalls lebenslang mitbeherrscht und an der vollen Ausschöpfung seiner Fähigkeiten gehindert hätten.

Vielleicht liegt der Grund für seine Angst darin begründet, daß er nicht von hier stammt, nicht hier sozialisiert wurde, kam es Nangre schließlich in den Sinn.

Da Nangre Neuwelt nie verlassen hatte, konnte er sich kein Bild davon machen, wie es dort aussah, wo Cagliari herkam und lange Zeit gelebt hatte.

»Möge Gleichmut dich regieren!« sagte eine sanfte, weibliche Stimme, und Nangre blickte auf. Ohne daß er es bemerkt hatte, war Ganjassa eingetreten, eine seiner Ehefrauen. »Die Zentralanzeige gab an, daß du zurückgekehrt bist«, stellte sie fest, und Nangre beobachtete sie jetzt mit mehr Aufmerksamkeit.

Ihr kahlgeschorener Kopf wirkte im Dämmerlicht geheimnisvoll.

Er konnte es bei diesen Lichtverhältnissen nicht sehen, aber er wußte, daß sie an ihrem Kinn ein Grübchen hatte, das ihr stets einen Zug von Fröhlichkeit gab.

Warum fing sie ihn bereits hier ab? Hatte sich irgend etwas Wichtiges ereignet, das sie ihm mitteilen wollte?

»Wir haben Besuch, Ojo«, erklärte sie.

Besuch? Wer mochte das sein?

»Wer ist es?«

»Keiner von uns kennt ihn. Er kommt auch nicht von Neuwelt.«

Nangre bemerkte die stumme Frage in Ganjassas Augen und geriet mehr und mehr in Verwirrung.

»Also sag' schon: Wer ist es?«

»Er nennt sich Gustavo Mendelew und möchte dich sprechen. Er wartet auf dich. Kennst du ihn?«

»Nein.« Nangre überlegte einen Moment und schüttelte dann bekräftigend den Kopf. »Der Name sagt mir nichts. Hat er nicht gesagt, was er von mir will?«

»Nein. Und irgendwie er gefällt mir nicht! Er hatte auch so ein seltsames Tier bei sich...«

Ganjassa führte Nangre durch ein paar Korridore und Aufenthaltsräume in einen hell erleuchteten Raum, in dem verschiedentliche Antiquitäten an den Wänden hingen - ausgesucht nicht nach Wert oder Aussehen, sondern aufgrund psychologischer Wirkung.

In einem der herumstehenden pneumatischen Sessel saß ein Mann mit kahlgeschorenem Schädel, listigen, kalten Augen, vorstehenden Wangenknochen und schwarzem Knebelbart um das Kinn, der die Bleichheit seiner Haut noch hervorhob, ebenso wie seine gänzlich schwarz gehaltene Kleidung, die aus weiten Hosen, Hemd und kurzschaftigen Stiefeln bestand. Auf dem Schoß hatte er jenes seltsame Tier, das Ganjassa bereits erwähnt hatte.

Zunächst fiel es Nangre überhaupt nicht auf, da es vom selben Schwarz seiner Kleidung war, aber dann bemerkte er eine Bewegung und erkannte es. Es hatte ein krauses, merkwürdig frisiertes Fell und vier Beine, deren Enden zum Greifen oder Fertigen irgendwelcher Werkzeuge ungeeignet schienen. Intelligent schien es nicht zu sein.

»Dies ist Ojo Nangre«, stellte Ganjassa den Schwarzen auf Brasilianisch vor.

Gustavo Mendelew nickte kurz. Nangre wußte nicht, was er vom Gesichtsausdruck des anderen zu halten hatte. Es schien eine Mischung aus Spott und Verachtung darin zu liegen, aber da war auch noch etwas anderes, das nicht so leicht herauszulesen war und das Nangre auch nicht zu identifizieren vermochte.

»Mein Name ist Mendelew«, erklärte der Gast, ebenfalls auf Brasilianisch.

»Und ich möchte mit Ihnen über etwas Bestimmtes reden. Sprechen Sie meine Sprache? Meinetwegen können wir auch auf Neufranzösisch oder Hindi umsteigen, wenn Sie das wünschen...«

»Nein, das ist nicht nötig, ich verstehe Sie gut.«

»Okay...«

Dann blickte er zu Ganjassa hinüber, verzog etwas die Mundwinkel und fragte:

»Wäre es möglich, daß wir beide uns ungestört unterhalten? Ich möchte die Dame nicht beleidigen, aber...«

»Oh, entschuldigen Sie«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich hatte keineswegs die Absicht, zu stören.« Damit wandte sie sich um und schickte sich an, zu gehen.

Doch Nangres Stimme hielt sie zurück.

»Bleib!« sagte er (diesmal in Objektivsprache). Sie sah ihn fragend an, und er erklärte: »Ich möchte, daß du dabei bist. Ich weiß nicht, was er will, aber es ist durchaus denkbar, daß ich hinterher einen Zeugen brauche, der mir hilft, das Geschehene objektiv zu sehen.«

»Gut, wenn du es so wünschst...« Sie blieb also, und Mendelew zog beide Augenbrauen hoch.

»Was ist noch?« wollte er wissen.

Die Unterhaltung wurde in Brasilianisch fortgeführt, und Nangre erklärte dem Gast, daß er Ganjassas Anwesenheit wünschte. Dem bleichgesichtigen Mann schien das jedoch wenig zu gefallen.

»Warum?« rief er. »Was bezwecken Sie damit?«

»Sagen Sie, was Sie zu sagen haben«, erwiderte Nangre kühl.

Mendelew zuckte ohnmächtig mit den Schultern und seufzte, stieß einen kurzen, aber eindeutigen Fluch in einer anderen Sprache aus und meinte dann: »Es geht um einen Mann namens Fausto Cagliari. Man sagte mir, daß Sie ihn kennen, Senhor Nangre.«

Nangre wechselte kurz einen erstaunten Blick mit seiner Frau und bestätigte dann die Aussage des anderen durch ein Kopfnicken.

»Kennen Sie ihn sehr gut?« fragte Mendelew, während seine Finger hektisch durch das Fell des Tiers auf seinem Schoß glitten.

»Ich kenne ihn einigermaßen. Warum fragen Sie?«

»Weil es da einige Gerüchte über diesen Cagliari gibt. Gerüchte, die besagen, daß er nahe dem Wahnsinn ist.«

Noch gerade rechtzeitig konnte Nangre dem überaus starken Impuls widerstehen, alles, was er wußte oder vermutete, aus sich heraussprudeln zu lassen. Dieser Mendelew wollte irgend etwas von ihm erfahren, und wenn Nangre jetzt gleichfalls etwas über sein Gegenüber erfahren wollte, durfte er nicht vorzeitig aus der Hand geben, was er ihm zu bieten hatte. Und so wich er mit einer Gegenfrage aus, von der er hoffte, daß sie Mendelew gleichzeitig in die Defensive drängen würde.

»Warum erkundigen Sie sich eigentlich bei mir nach Cagliari? Warum gehen Sie nicht zu ihm hin und fragen IHN, was Sie wissen wollen? Sie erwarten doch wohl nicht im Ernst, daß ich Ihnen Einzelheiten angebe, ohne zu wissen, was Sie eigentlich wollen!«

»Ich möchte ihm helfen.«

»Helfen?«

»Ja.«

»Inwiefern?«

»Ich habe ihm ein Angebot zu machen, von dem sowohl er als auch ich erheblichen Gewinn ziehen kann. Aber bevor ich zu ihm gehe, muß ich sicher sein, daß er auch der richtige Mann für diese Sache ist.«

»Worum geht es?«

Mendelew verzog sein Gesicht zu einem maskenhaften Lächeln.

»Woher weiß ich, daß ich Ihnen trauen kann? Wenn Informationen darüber an die falschen Leute gelangen, kann das großen Schaden anrichten.«

»Für wen arbeiten Sie?«

»Auch das möchte ich nicht preisgeben. Aber das, was ich ihm anzubieten habe, wird ihn glücklich machen...«

Doch die Art, in der er das sagte, weckte Zweifel in Nangre. »Erzählen Sie mir etwas über ihn. Ich habe gehört, daß Sie ihn ab und zu besuchen.«

»Ja, das ist richtig. Aber da Sie nicht mit offenen Karten mir gegenüber spielen, werde ich Ihnen keine weiteren Auskünfte geben.«

Mendelew saß einen Augenblick wie versteinert da, dann erhob er sich und brummte: »Wenn Sie sich für unentbehrlich halten, Nangre, so täuschen Sie sich gewaltig. Leben Sie wohl!«

Später überlegte Nangre, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, mit dem unsympathisch wirkenden Fremdling zu kooperieren, um gewisse Einflußmöglichkeiten zu behalten. Aber andererseits war es auch möglich, daß Cagliari dadurch Schaden zugefügt worden wäre.

»Ich fühlte mich in Anwesenheit dieses Mendelew unbehaglich«, gestand ihm Ganjassa. »Er hatte etwas sehr Barbarisches an sich.«

»Er kam nicht von hier«, gab Nangre zu bedenken.

*

Cagliari hatte sich über das Erscheinen Gustavo Mendelews zunächst sehr gewundert. Was konnte dieser Fremde von ihm wollen? Er war sich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.

»Ich empfange nicht oft Besuch«, erklärte Cagliari ein wenig verlegen, und sein Gast betrachtete eingehend die zeusianische Harfe.

»Sie haben Sinn für Antiquitäten, was?«

»Ich mag diese Sachen, ja.«

»Können Sie drauf spielen?«

»Nein.«

Cagliari bemerkte das schwarzbefellte Tier, das der Gast auf seinem Arm mit sich führte. »Sagen Sie, ist das nicht ein Pudel, Senhor Mendelew?«

»In der Tat.«

»Hatten Sie keine Schwierigkeiten wegen ihm? Ich meine zum Beispiel in Bezug auf Quarantäne-Vorschriften, die hier außerordentlich streng gehandhabt werden.«

»Es hat ein paar Komplikationen gegeben. Ist aber nicht der Rede wert.«

Dann herrschte eine Weile verlegene Stille.

Mendelew wandte sich Cagliari zu und bedachte ihn mit einem leicht zynischen Lächeln. »Ich will keine langen Umschweife machen, mein lieber Cagliari, sondern Ihnen gleich sagen, was ich von Ihnen will. Ich arbeite im Auftrag der Arantes AG, Luanda (Angola).«

»Angola?« fragte Cagliari mißtrauisch. »Von dem Planeten habe ich noch nichts gehört, er muß sehr weit außerhalb liegen.«

»Angola ist kein Planet, Senhor Cagliari, sondern ein Land auf der Erde. Aber das tut eigentlich nichts zur Sache. Sie suchen nach einer Möglichkeit zu absolut objektiver Wahrnehmung, stimmt's?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Erinnern Sie sich beispielsweise an einen Mann namens Sebastiano Barretto-Dantas?«

 

»Ja, natürlich. Barretto war einer meiner Professorenkollegen in Cunhal auf Zeus.«

»Ich habe mit ihm gesprochen.« Mendelew verzog etwas das Gesicht. »Und dann gibt es da eine gewisse Greta Calergis-Manzoni, mit der Sie lange Zeit liiert waren.«

Cagliari wurde blaß, und in Mendelews Augen blitzte es triumphierend. »Sie sehen, ich weiß gut über Sie Bescheid. Ich habe mit Dutzenden von Leuten gesprochen, die mit Ihnen etwas zu tun hatten. Aber in den letzten Jahren scheinen Sie sich ziemlich abgekapselt zu haben... Da waren eigentlich nur noch diese Calergis-Manzoni und ein gewisser Ojo Nangre, der mich übrigens nicht gerade besonders zuvorkommend behandelt hat...«

»Was gibt Ihnen eigentlich das Recht, sich in meine Angelegenheiten zu mischen, hier herumzuschnüffeln?« schrie Cagliari, jetzt außer sich vor Wut. Zu allem kam noch hinzu, daß er sich mit seinem Gast auf Brasilianisch unterhalten mußte - einer Sprache, die er ablehnte.

»Regen Sie sich ab, Senhor. Es ist alles zu Ihrem Besten. Wir mußten sicher sein, daß Sie der richtige Mann für uns sind. Bis jetzt spricht vieles dafür.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Ich habe Ihnen im Auftrag des Arantes-Konzerns ein Angebot zu machen, das Ihnen gefallen wird: Sie suchen die absolute Erkenntnis, die maximierte Objektivität der Wahrnehmung. Wir können Sie Ihnen bieten.«

Cagliari schaute auf, sichtlich überrascht.

Mendelew gab vor, ihm das bieten zu können, wonach er sein Leben lang gestrebt hatte (mit wenig Erfolg, wie er sich selbst eingestehen mußte). Mendelew bot es ihm an, als wäre es irgendeine Kleinigkeit, präsentierte es ihm mit demonstrativer Lässigkeit, die Cagliari offensichtlich verunsichern sollte.

»Hören Sie mir mal gut zu«, setzte Cagliari an, aber er wurde unterbrochen:

»Nein, hören Sie mir erst einmal zu. Ich mache keine Scherze, ich meine es wirklich ernst! Der Arantes-Konzern hat auf einem Planeten, den ich hier nicht näher nennen möchte, eine Lebensform entdeckt, die eine phänomenale Fähigkeit zur Empathie besitzt. Sie besitzt keine eigenen Sinnesorgane, sondern sieht ihre Umwelt durch die in ihrer Umgebung befindlichen Lebewesen. Wir arbeiten an gewissen Methoden der Zellverpflanzung, die es ermöglichen werden, diese Fähigkeit auf den Menschen zu übertragen und gleichzeitig erheblich zu maximieren.« Er lächelte. »Na, hab' ich zuviel versprochen? Ist es nicht das, was Sie immer wollten? Sie werden mehr als nur Ihre eigene, subjektive Wirklichkeit wahrnehmen und dadurch eine höhere Objektivität erreichen.«

Cagliari kratzte sich am Kinn.

Er wirkte nachdenklich, aber in Wirklichkeit war sein Kopf vollkommen leer und ausgebrannt.

»Natürlich kann ich Ihnen jetzt keine Details angeben. Das wäre zu gefährlich.

Selbst das, was ich Ihnen gerade mitgeteilt habe, bedeutet schon ein Risiko, denn wer sagt mir, daß Sie nicht hingehen und es jedem erzählen, der es wissen möchte?«

Cagliari erwiderte, fast so, als hätte er die letzte Bemerkung seines Gastes gar nicht gehört: »Sie wollen mich als gewissermaßen als... Versuchsperson.«

»So könnte man es auch formulieren, ja. Aber sie werden gut bezahlt -

abgesehen davon, daß sich für Sie ein Herzenswunsch erfüllen wird.«

Er nannte eine Summe, aber sie schien Cagliari gar nicht zu interessieren.

»Das ganze hat doch sicherlich auch einen Haken, Senhor Mendelew, nicht wahr?«

»Nun..., es ist nicht ganz ungefährlich.«

»Wie groß ist das Risiko?«

»Nicht sehr groß. Wir haben auf jenem Planeten, dessen Namen ich Ihnen aus offensichtlichen Gründen nicht nennen darf, ein Forschungscamp eingerichtet.

Dort werden Sie dann alle Einzelheiten erfahren. Bis dahin können Sie übrigens auch von dem Vertrag zurücktreten, den ich im Auftrag des Arantes-Konzerns mit Ihnen schließen werde - falls Sie Interesse haben.«

Es war ein verlockendes Angebot, das mußte Cagliari zugeben.

Aber dennoch zögerte er.

Mendelew sagte: »Hier, Senhor Cagliari!« und legte ein Magnetband auf den Tisch. »Dies ist der Vertrag. Sehen Sie sich die einzelnen Bedingungen und Zahlungsmodalitäten in Ruhe an und schlafen Sie noch einmal über diese Sache.

Morgen werde ich dann wieder bei Ihnen vorbeischauen.«

»Gut.«

»Wenn Sie erlauben, werde ich dann jetzt gehen.«

»Eine Frage noch, Senhor Mendelew: Weshalb gerade ich?«

»Nicht 'gerade Sie'. Das könnte auch jemand anderes machen, aber wir haben uns dazu entschlossen, zunächst Sie anzusprechen, weil bei Ihnen einige positive Faktoren zusammenkommen. Zum Beispiel verfügen Sie über ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau, was sehr entscheidend für uns sein kann. Es genügt nämlich nicht, daß Sie einfach nur wahrnehmen. Sie müssen die Flut von fremden Eindrücken, die sich über Sie ergießen wird, auch verstehen und ordnen können. Wir haben sowohl Ihre wissenschaftliche Laufbahn, als auch Ihren persönlichen Werdegang genauestens verfolgt, beziehungsweise rekonstruiert, um sicherzugehen. Aber das alles heißt natürlich nicht, daß wir von Ihnen abhängig sind. Ganz und gar nicht. Sie sind unser Wunschkandidat, aber letztlich doch nur einer unter Tausenden.«

Mendelew ging davon und ließ Cagliari mit seiner Entscheidung und seinen Gedanken allein.

Vielleicht ist es eine Chance? überlegte Cagliari. Vielleicht ist es wirklich eine Chance?

Sicher, Mendelew hatte auch von Risiken gesprochen, aber sollte er sich davon schrecken lassen?

Noch vor einem Tag hätte Cagliari alles gegeben, alles aufs Spiel gesetzt, um sein Ziel zu erreichen. Aber jetzt, wo dieses Angebot kam, zögerte er plötzlich, war sich unsicher. Warum?

Er zupfte etwas an seiner zeusianischen Harfe herum, sah aus dem Fenster in den Garten (es war diesiges Wetter) und spuckte zweimal hinaus.

Es ist deine letzte Chance, Fausto!

Er spuckte noch einmal, wandte sich dann abrupt um und betrachtete das Magnetband, das ihm der Gast hinterlassen hatte.

Später befand er sich dann etwas mehr als eine Stunde im Zustand der Ekmnesie: Er war fest davon überzeugt, wieder Professor an der Universität von Cunhal zu sein, der zweimal die Woche vor seinen Studenten über Erkenntnistheorie dozierte.

Der Anfall wurde schlimmer; schließlich begannen mehrere zeitliche Ebenen sich zu mischen, und Cagliari wurde vollends verwirrt.

Als er am nächsten Morgen erwachte, kam ihm zunächst alles traumatisch und irreal vor. Dann durchzuckte ihn ein beunruhigender Gedanke, der ihn frösteln ließ: Mendelews Angebot ist wirklich meine letzte Chance!

Die Anfälle wurden häufiger und schlimmer, der Wahnsinn würde kommen.

Das Magnetband lag noch immer dort, wo Mendelew es hingelegt hatte.

Ich hätte es dem Hauscomputer zur Prüfung geben sollen! dachte Cagliari, als es seinen Blick für einige Momente einfing, nachdem er aus unbestimmtem Grund den Raum mit den Instrumenten betreten hatte.

Aber seine Entscheidung stand fest, und da es eine schnelle, aus Verzweiflung geborene Entscheidung war, wären wohl auch logisch-rationale Bedenken des Computers nicht dazu in der Lage gewesen, sie zu erschüttern.

*

Cagliari war in Tarvisio auf Catakri geboren, einem atmosphärelosen Mond des Gasriesen Wega 36.

Damals wie heute war Catakri eine arme und unfruchtbare Welt mit wenig devisenträchtigen Bodenschätzen und düsteren Zukunftsaussichten. Aber daraus zu schließen, daß es auf Catakri keinen Reichtum gegeben hätte, wäre unzulässig gewesen. Reichtum gab es durchaus, wenn auch nur bei wenigen.

Und Fausto war durch Zufall und glückliche Umstände als Sohn eines dieser Wenigen zur Welt gekommen: Antonio Cagliari, Besitzer der Cagliari-Aquarien und außerdem noch Präsident einer Wohnungsbaugesellschaft und mit zwanzig Prozentanteilen an der Vereinigte Sauerstoffwerke AG beteiligt, gehörte zu den reichsten und mächtigsten Männern Catakris.

Bei der Nahrungsmittelproduktion des Mondes kamen 60 % aller auf dem Markt befindlichen Erzeugnisse aus den hydroponischen Anlagen der Cagliari-Aquarien - eine Tatsache, die Antonio stets auch großen Einfluß auf politischer Ebene gesichert hatte.

Und während der Großteil der 5,5 Millionen Catakrianer dicht zusammengedrängt in den viel zu engen Kuppelstädten lebten, oft in menschenunwürdigen Verhältnissen, wuchs Fausto in einer durch Mauer und Stacheldraht hermetisch vom Rest der Stadt Tarvisio abgeriegelten Villa auf, die von einem für die hiesigen Verhältnisse geradezu verschwenderischen Zierpark umgeben war.

Faustos Vater war ein grauhaariger, höhensonnengebräunter Mann, in dem sich intensivste Anteilnahme und Mitgefühl mit zynischer Rücksichtslosigkeit abwechselten. Sein Charakter war unbeständig und ruhelos, doch sein hektisch wirkender Aktivismus verleitete ihn nur äußerst selten zu unüberlegten Schritten.

Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, sein Temperament zu kontrollieren.

Über seinen Aufstieg aus dem scheinbaren Nichts gab es sehr unterschiedliche und sich teilweise widersprechende Versionen, und Antonio selbst tat nichts dazu, das Dunkel um seine Vergangenheit zu erhellen - was wohl gute Gründe hatte.

Fest stand nur, daß er eines Tages mit einem Batzen Geld aufgetaucht war und die kurz vor dem Bankrott stehende Firma Tarvisio Hydroponic (später: Cagliari-Aquarien) aufgekauft hatte.

Fest stand auch, daß er vorher einige Jahre auf anderen Welten zugebracht hatte und während dieser Zeit in einige mehr oder minder dubiose Affären verwickelt war.

Manche sagten, er hätte etwas mit verdächtig hoch versicherten Frachtraumschiffen zu tun gehabt, deren wertvolle Ladungen während der Reise wahrscheinlich gegen Schrott ausgetauscht wurden, und die dann unter mysteriösen Umständen havariert waren.

Andere wiederum wollten wissen, daß Antonio Cagliaris Reichtum aus früheren Aktivitäten im interplanetarischen Drogenschmuggel gewachsen sei.

Aber was Wahrheit war und was der Fantasie der Gerüchteverbreiter entsprang, das wußte weder Fausto noch sein Bruder Enrico.

Antonio hatte nie mit ihnen darüber gesprochen und wie Fausto später feststellte, hatte nicht einmal seine Frau eine Ahnung von seiner Vergangenheit.

Alle diejenigen, die authentische Informationen darüber hätten liefern können und sich in Antonios Reichweite befunden hatten, waren nach und nach auf die eine oder andere Art zum Schweigen gebracht worden.

Die Gerüchte waren deshalb nicht verstummt, aber ihrer Glaubwürdigkeit beraubt und damit für seine Karriere nicht mehr hinderlich.

Er traute niemandem, außer sich selbst, und so war er zeit seines Lebens sehr einsam, woran auch seine Ehe mit der phlegmatisch-depressiven Naraia Santoni, der Mutter seiner beiden Söhne, nicht viel änderte, Antonio kam aus der Unterschicht; er repräsentierte keine Tradition, und darum wollte er eine schaffen.

Analog zu weit zurückliegenden Zeiten üblicher Herrscherdynastien, wo die Väter ihr Amt und ihre Macht über Generationen hinweg an ihre Söhne weitergaben, wollte Antonio eine Art Industrie-Dynastie gründen und sich selbst damit verewigen.

Aber zu seinem großen Verdruß mußte er seine beiden Söhne als völlig mißraten betrachten.

Enrico, der jüngere der beiden, hatte sich zunächst in einer Weise entwickelt, die seinem Vater Anlaß zu größten Hoffnungen bot. Er war agil und temperamentvoll, machte sich die Härte und Zielstrebigkeit zu eigen, die Antonio ihm vorlebte, aber als er siebzehn wurde, gab es einen Knick in seiner Entwicklung.

Bis dahin hatte er nur die Welt seiner eigenen Klasse zu sehen bekommen, die Glitzer- und Prunkwelt der kleinen catakrischen Oligarchie, die so gar nichts gemein hatte mit dem Leben jener, die täglich mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes oder dem Ausfall eines der öffentlichen Sauerstoff-Aggregate rechnen mußten. Noch eine Stufe tiefer gab es dann die Welt derjenigen, die keine Arbeit hatten und auf Zuwendungen von Verwandten und Freunden angewiesen waren.

Aber Enrico lernte diese andere Welt Stück um Stück kennen.

Das Elend, das er sah, die Leichen, die mit erschreckender Regelmäßigkeit in den Straßen lagen, entweder verhungert oder weil in irgendeinem Stadtteil die Frischluftversorgung für ein paar Stunden ausgefallen war, das alles erschütterte Enrico zutiefst.

Der Glaube an die Rechtmäßigkeit dessen, was sein Vater und seinesgleichen taten und was auch er eines Tages hätte tun müssen, wankte. Den Lebensstil, den er führte, empfand er zunehmend als permanenten Diebstahl an den Armen.

 

Sein Blick für politische Zusammenhänge wurde durch diese Erlebnisse zunehmend geschärft, und mit wachsendem Mißtrauen sah er zu, wie schamlos sein Vater die herrschenden Militärdiktatoren mit dem Hinweis auf die 60 Prozent Marktanteile der Cagliari-Aquarien erpreßte, Entscheidungen verhinderte oder erzwang, wie es ihm zum Vorteil gereichte.

Ein Drosseln der Produktion um nur ein Prozent bedeutete schon eine Hungersnot. Und welche Regierung konnte sich das schon leisten? Die Verhältnisse waren unsicher genug, das Elend ohnehin schon viel zu groß, die Bürokratie uneffektiv und korrupt.

Das einzige, das relativ gut funktionierte, war der Polizei-Apparat, der gerade ausreichte, um das aufrechtzuerhalten, was die Regierung euphemistisch als

'öffentliche Ordnung' bezeichnete.

Es kam unweigerlich bald zu harten verbalen Auseinandersetzungen zwischen Enrico und seinem Vater.

Antonio verstand seinen Sohn einfach nicht mehr, und er begriff auch nicht die Wandlung, die sich in ihm vollzogen hatte.

Diese Wandlung war ein längerer Erkenntnis- und Reifungsprozeß gewesen, aber für Antonio, der diese (sich zunächst nur sehr subtil bemerkbar machende) Entwicklung zunächst gar nicht bemerkt und nicht Stufe für Stufe ihres Werdens mitverfolgt hatte, mußte es anders erscheinen: Als hätte Enrico innerhalb kürzester Zeit seine alten, von den Eltern übernommenen Ansichten über Bord geworfen und wahllos gegen neue ersetzt.

»Hör' zu, Junge, ich komme selbst von da unten!« schrie Antonio seinen Sohn einmal wütend an. »Ich komme von da unten, hörst du? Ich bin in den Slums groß geworden, und ich weiß, was das heißt! Aber ich bin da 'rausgekommen, ich hab's zu 'was gebracht, und jeder, der sich Mühe gibt und stark genug ist, kann's auch schaffen, davon bin ich überzeugt!« Aber Enrico war es schon seit längerem nicht mehr. »Die Zustände da sind schlimm, das weiß ich - ich hab's selbst erlebt. Aber man sollte deshalb nicht sentimental werden. Es ist das Gesetz des Universums, daß der Stärkere siegt und der Schwache stirbt. Ich bin stark und klug, und deshalb habe ich erreicht, was ich erreicht habe. Das Universum ist manchmal grausam, aber wenn du stark bist, hält es viele Freuden für dich bereit.«

Antonios Verehrung galt der Stärke (vornehmlich seiner eigenen), was das direkte Resultat seiner Biographie war.

Er hatte zu lange zu den Schwachen gehört.

Enrico bekam schließlich Kontakt zu im Untergrund arbeitenden Widerstandsorganisationen, und eines Tages kam er nicht mehr nach Hause; er lebte jetzt unter dem Namen Enrico Galno und arbeitete im Verborgenen für den Umsturz.

Er war nicht sentimental; er war Pragmatiker.

Enricos Mutter zeigte nach seinem Weggang kaum eine Reaktion. Sie blieb gewohnt phlegmatisch, aber Antonio traf die Entscheidung seines Sohnes hart.

Er hatte Großes mit ihm vorgehabt und in ihm eine Art Spiegelbild seiner selbst gesehen. Aber alle Pläne hatte Enrico jetzt selbst zunichte gemacht.

Wozu die viele Bildung, die teuren Hypnoschulungen auf Neufrankreich?

fragte Antonio sich oft. Alles umsonst!

Enrico Galno avancierte trotz seines jugendlichen Alters rasch in die Spitzen-und Schaltstellen des Widerstandes, was zweifellos durch seinen hohen Bildungsstandard bedingt war.

Jahrelang hörte seine Familie nichts von ihm. Dann kam es zu Straßenkämpfen, und es wurde offenbar, daß die Regierung auf sehr wackeligen Säulen thronte. Schließlich war sie nicht mehr in der Lage, den Unmut der Bevölkerung zu bremsen. Sie wurde gestürzt, und ein Revolutionsrat übernahm die Macht, dem auch Enrico angehörte.

In weiser Voraussicht hatte Antonio Cagliari (der die instabile Lage der catakrischen Regierung sehr wohl wahrgenommen hatte) den Großteil seines Kapitals frühzeitig auf anderen Planeten angelegt, und als sich die Vorboten der Revolution zeigten, siedelte er mit seiner Familie nach Neu Salisbury auf Thompson um.

Vorher jedoch ließ er aus Wut seine Aquarien sprengen, um jeden Erfolg nachfolgender Revolutionsregierungen im voraus zu vereiteln.

Ohne die Aquarien mußte es auf Catakri unvorstellbaren Hunger geben, und Antonio wußte das, ja, beabsichtigte es sogar. Es war unter anderem auch eine Art Racheakt seinem mißratenen Sohn Enrico gegenüber, dessen Kopf er auf Steckbriefen hatte sehen müssen.

Die catakrische Revolution verriet zunehmend (unter dem Druck ökonomischer Zwänge und aufgrund des Machtdurstes einiger ihrer Apollogethen) ihre ursprünglichen Ideale und begann, ihre Kinder zu fressen.

Demokratie, Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit hatte man versprochen - und natürlich genug Nahrungsmittel für alle.

Aber Stück um Stück wurde von diesem Programm Abstand genommen, innere Machtkämpfe und Intrigen erschwerten die Arbeit von Revolutionsrat und Behörden.

Und es rollten Köpfe.

Zunächst die der alten Oligarchie und der regierenden Generalsjunta, soweit man ihrer habhaft werden konnte, später jedoch war auch der linientreueste seines Kopfes nicht mehr sicher.

Enrico erfuhr nie die wahren Hintergründe seiner Verurteilung und die Namen derjenigen, die gegen ihn intrigiert hatten.

Jemand deckte eines Tages seine Herkunft auf, was ihn beinahe seinen Sitz im Revolutionsrat kostete, und dann lagen plötzlich Beweise gegen ihn auf dem Tisch, die ihn konterrevolutionärer Umtriebe überführten und ihn außerdem bezichtigten, an der Sprengung der Aquarien irgendwie beteiligt gewesen zu sein.

Es war alles unwahr, aber irgendwem nützte Enricos Liquidierung, verschaffte ihm vielleicht eine bessere Ausgangsposition auf dem Weg nach oben.

Das Gerichtsverfahren lief schnell und öffentlichkeitswirksam über die Bühne, das Volk hatte einen Sündenbock und Enrico wurde hingerichtet.

*

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