Loe raamatut: «Sigfrids Träume»
Alfred Rohloff
Sigfrids Träume
Erzählungen und Kurzgeschichten
ATHENA
edition exemplum
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ISBN (Print) 978-3-89896-684-9
ISBN (ePUB) 978-3-89896-894-2
Vorwort
Die Entstehung der hier zusammengestellten Erzählungen und Kurzgeschichten hat sich wohl über ein halbes Jahrhundert hingezogen, weshalb sie denn auch – was Inhalt und Ausdruck angeht – von großer Verschiedenartigkeit sein mögen. Vielleicht, daß nur einige von ihnen auf einen gemeinsamen Stil verweisen.
Im Ganzen konnte es deshalb nur darauf ankommen, sie in einer zeitlichen Abfolge ihrer Entstehung zusammen zu stellen. Aber selbst das konnte bei einigen von ihnen nur aufgrund von Mutmaßungen geschehen, weil die »Erstpapiere« verloren gegangen waren und sie nur noch in Sekundärpapieren oder im Computer festgehalten waren.
Am längsten hat mich wohl die Geschichte von Sigfrid (»Sigfrids Träume«) beschäftigt. Dies wohl auch deshalb, weil darin die autobiographischen Züge oder Bezüge stärker ausgeprägt sind als in den anderen Geschichten: habe ich doch zwei Jahre auf der Insel Island (1964–1966) zugebracht, habe ich doch noch vor unserer Flucht die Schönheit Masurens in Ostpreußen kennengelernt, aber in meiner Kindheit auch den Krieg und das autoritäre Nazi-Regime unmittelbar erlebt.
Die ersten Aufzeichnungen zu dieser Novelle fand ich nun, da ich heute die Geschichte zusammenschreibe, auf Papierbögen, die ich nachweislich während meiner Island-Zeit benutzte. Es waren dies die Rückseiten von Formularen, die ich in einer isländischen Importfirma beschrieb, wenn ich dem Unternehmen für einen Teil ihrer Importe die Weiterverkaufspreise berechnete. Da las ich dann auf einem Blatt, das erste Sätze dieser Novelle enthielt, die Jahreszahl 1966. Da hat die Geschichte wohl ihren Anfang genommen. Einige andere Zettel fand ich, auf denen das Datum 29.9.1989 vermerkt war. Nun heute endlich habe ich die Geschichte, die mein Bewußtsein nicht verlassen wollte, ohne daß ich sie aufschreibe, beendet.
Bei der langen Zeit, in der sich meine Vorhaben in meinem Kopf halten und anfangs nur in Bruchstücken »zu Papier« oder »zu PC« gebracht werden, ist es schwer, im Nachhinein die Entstehungszeit genau festzulegen. Mein Computer hilft mir dabei auch nicht immer. Der vermeldet mir immer nur den letzten Tag, den ich an einem Projekt zugebracht habe, nicht aber den ersten. Hinzu kommen dann noch die Veränderungen der Titel, wie sie sich bei einer langen Entstehungszeit ergeben, was dann ohnehin die Merkfähigkeit des Computers überfordert. So sind denn auch einige der im Inhaltsverzeichnis angegebenen Entstehungszeiten eher als Näherungswerte zu verstehen.
Die Anordnung der Novellen erscheint – auch wegen der nicht so leicht lesbaren Geschichte von »Sigfrids Träumen« – in umgekehrter Reihenfolge ihrer Entstehungszeit, während die Kurzgeschichten gemäß ihrer Entstehungszeit aufgeführt sind.
Hänigsen, im Oktober 2016
Die Besuche der alten Dame
Igor Alexandrowitsch saß an seinem Schreibtisch über Abrechnungen gebeugt, als der alte Diener Sebastian das kleine, neben dem Wohnzimmer gelegene Arbeitszimmer betrat und eine, wie er es fand, schreckliche Meldung zu machen hatte:
»Herr, es ist jemand von den Kaminskis draußen«, stammelte er mehr, als daß er es sagte.
Igor hob seine breite Stirn von den Papieren, und seine kleinen blauen Äuglein kullerten unter den buschigen Augenbrauen hervor und gleichsam hinüber zu Sebastian.
»Wer ist es?«, fragte er, seinen aufwallenden Zorn unterdrückend, mit fester Stimme.
»Es ist eine Magd, – eine Magd von denen da«, stotterte Sebastian.
»Und was will sie denn? – Na, los, und laß Dir nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Ich kann sie ja wegschicken, Herr, wenn Ihr es wollt …«, erlaubte sich Sebastian, eingedenk des Zerwürfnisses zwischen den Familien, vorzuschlagen.
»Was sie will?«, donnerte jetzt Igor dazwischen und sprang von seinem Stuhl auf.
»Das ist es ja, Herr, – wenn sie nun etwas Salz, eine Hacke oder ein Wagenrad wollte, so hätte sich das vielleicht, sozusagen unter der Hand, regeln lassen, – aber sie sagt, daß die da kommen will, Herr …«
»Wer will kommen verflixt noch mal?«, brüllte Igor den alten Diener an, der ihm inzwischen mehr Freund denn Diener geworden war.
»Na, die Herrin, – ihre Herrin, – die Kaminski selbst!«, sagte Sebastian und war froh, daß er diese Ungeheuerlichkeit endlich heraus gebracht hatte. Daß er sich dabei solch respektloser Bezeichnungen wie »die Kaminski« bediente oder aber von »denen da« sprach, war nicht der Ausdruck seiner eigenen Mißachtung, sondern gehörte vielmehr zu den jahrelangen Gepflogenheiten im Hause Alexandrowitsch.
Igor aber hatte seinen Schreibtisch verlassen, hob sein breitflächiges Gesicht mit seinem strubbligen Bart, der nun schon mit den Jahren eine graue Farbe angenommen hatte, gen Himmel und begann kreuz und quer durch das kleine Arbeitszimmer zu wandern.
»Herr, soll ich sie wegschicken?«, fragte wiederum Sebastian, weil er glaubte, auf diese Weise allen Widerwärtigkeiten, die sich mit einem solchen Besuche ankündigten, am besten aus dem Wege zu gehen.
Aber da hielt Igor in seiner Wanderung inne, richtete sein Gesicht wie eine Haubitze auf den armen Sebastian und schrie es heraus:
»Ein Alexandrowitsch verkriecht sich nicht vor einem Weibe, – das wirst Du Dir ja wohl denken können! Oder kennst Du mich so schlecht?«
»O nein, mein Herr, – natürlich verkriecht er sich nicht – ich dachte nur wegen der Unannehmlichkeiten, die solche Besuche vielleicht bereiten könnten. Sie inkommodieren doch häufig den Gastgeber«, verteidigte sich Sebastian.
»Wann will sie denn kommen?«, fragte Igor, der sich inzwischen wieder gefaßt hatte.
»Das ist es ja, Herr, – schon morgen soll es sein …«
»Na gut denn, – sie soll kommen«, grummelte Igor und ging an seinen Schreibtisch zurück.
Doch dort gelang es ihm aber nicht mehr, einige Ordnung in seine Abrechnungen zu bringen. Vielmehr schob er sie ein wenig sinnlos von der linken Seite des Schreibtisches auf die rechte, ohne ihre Zahlen aufgenommen zu haben.
Was mochte dieses Weibsbild von ihm wollen, von ihm, der hier Herr war auf dem kleinen Gut in Schraten? Waren die Beziehungen zwischen den Familien nicht ein für alle Mal abgebrochen, seitdem man sich so in den Haaren gelegen hatte?
Dabei hatten die Familien Kaminski und Alexandrowitsch schon über einige Generationen friedfertig als Nachbarn nicht nur nebeneinander sondern auch miteinander gelebt. Waren die einen, die Familie Kaminski, mehr aus dem Südwesten, aus Masowien kommend, hier eingewandert, so die anderen, die Familie Alexandrowitsch, aus dem ferneren Osten. Fast gleichzeitig waren sie hier, im Bereich der fruchtbaren Inster-Niederung, im Preußischen in Erscheinung getreten, hatten stets großen Wert auf gute Nachbarschaft gelegt, was alles dann auch in der Weise seine Früchte getragen hatte, daß sie über entferntere Verwandte, die sich geehelicht hatten, gar in eine gewisse verwandtschaftliche Beziehung geraten waren.
Geändert hatte sich das alles mit der Geburt der beiden Kinder, mit der von Igor Alexandrowitsch und mit jener von Katja Kaminski.
Natürlich ging diese Veränderung, wie der erfahrene Leser schon ahnen wird, nicht schlagartig und auch nicht ohne ein gewisses Zutun der Familien vonstatten.
Da ist zunächst daran zu denken, daß die beiden Kinder – Katja, ein schwarzhaariges Mädchen von feingliedriger aber drahtiger Gestalt, und Igor, ein großer rotblonder Junge mit kleinen blauen Äuglein und runden fleischigen Waden – prächtig heranwuchsen, und daß beide Elternpaare von Stolz erfüllt waren ob solcher gesunder Nachkommenschaft.
Das Ungemach in den Beziehungen unserer beiden Hauptpersonen begann aber eigentlich schon in ihren frühen Kindheitstagen. Da fingen die beiden an, sich gegenseitig zu beschimpfen, ja mitunter gar handgreiflich gegeneinander zu werden. In jenen Tagen bemühten die beiden denn auch zum ersten Mal die fortan gebräuchlichen Schimpfwörter »schwarze Hexe« – von Igor auf Katja gemünzt – und »roter Teufel« – von Katja dem Igor wegen seines rötlichen Haares entgegengeworfen.
Das eigensinnige Verhalten der beiden steigerte sich dann eher noch, wenn sie bei den gegenseitigen Besuchen der Familien aufgefordert wurden – was damals ganz üblich war –, über ihren hohen geistigen Entwicklungsstand Zeugnis abzulegen, um die versammelte Gesellschaft in Erstaunen zu versetzen. Da sollte dann einmal ein Liedchen vorgesungen werden, ein anderes Mal ein kleines Gedicht rezitiert oder gar eine Rechenaufgabe »stante pede« gelöst werden.
Das führte indessen sowohl bei Katja wie auch bei Igor zu einer vollendeten Verweigerungshaltung, so daß aus ihnen auch nicht das Geringste herauszubringen war. Aber nicht nur das! In solchen Fällen fing Igor zu schreien an, knallte mit seiner kleinen Peitsche, die er ständig bei sich führte, so daß man schon froh war, daß nicht irgendeine der im Wohnzimmer der Kaminskis aufgestellten Porzellanfiguren dabei zu Schaden kam. Außerdem pflegte er laut zu rufen: »Anspannen, Sebastian, wir fahren nach Hause!«
Katja aber stand Igor in dieser Hinsicht kaum nach, indem sie bei solchen Gelegenheiten laut zu kreischen begann und sich in einem Schrank oder hinter einer Truhe, mochte dies nun bei den Kaminskis oder den Alexandrowitsches geschehen, zu verstecken pflegte.
Da die Eltern einsehen mußten, daß derartige Übungen eher dazu angetan waren, ihre eigene Erziehungsunfähigkeit als die Fortschritte ihrer Kinder zu dokumentieren, unterließen sie es bald, die Kinder bei den gegenseitigen Besuchen mitzunehmen, was aber die Distanz der Kinder in ihrem Verhalten zueinander nur noch erhöhte.
So geschah es dann, daß sie sich in den seltenen Fällen, da sie sich auf dem zwischen den beiden Grundstücken gelegenen Erlenweg begegneten, gegenseitig beschimpften, voreinander ausspuckten, wenn auch nicht handgreiflich traktierten.
Auch die nachfolgenden Entwicklungsphasen brachten die Kinder einander nicht näher. Trat Igor in eine Militärakademie ein, so erfuhr Katja ihre Erziehung, oder was man dafür hielt, auf einem Internat.
Als sie einmal zu jener Zeit einander auf einem Ball begegneten, erschraken sie fast darüber, wie erwachsen der jeweils andere inzwischen geworden war, und Igor konnte nicht umhin, sich noch Monate danach Katjas gertengleicher Gestalt beim Tanze zu erinnern. Aber er hatte sich am selben Abend doch nicht überwinden können, über die Grube, die zwischen beiden gewachsen war, hinweg zu springen und sie um einen Tanz zu bitten.
Bei aller anwachsenden Feindschaft der Kinder gegeneinander blieben die Eltern doch über lange Zeit gute Nachbarn. Zwar nahmen die Besuche langsam ab, aber man half sich doch, wo man konnte, und sei es auch nur, um eine fehlende Sense zu ersetzen bei der anstehenden »Kornaust«. Indessen ging all solches nachbarschaftliches Helfen an den beiden Kindern vorbei, da sie entweder nicht zu Hause waren oder doch nicht von solchem Handeln der Eltern erfuhren.
Die Feindschaft von Katja und Igor erfuhr ihren Höhepunkt aber erst nach dem Tode ihrer Eltern. Beide waren im Grunde von einem ähnlichen Schicksal betroffen: Nicht nur, daß sie ihre Eltern sehr früh verloren hatten. Es hatte sich für beide auch nicht ein Ehepartner eingestellt, so daß es zuletzt in ihrer Nähe keine Person mehr gab, die die angestaute Feindschaft in sanftere Bahnen hätte lenken können. Vielmehr konnte jetzt, da sie zu Herren auf ihren Besitzungen geworden waren, der Eigensinn ohne weitere Einschränkungen nach außen treten, denn die Dienerschaft traute sich eine mäßigende Einflußnahme, selbst wenn man ihr eine solche zugestanden hätte, in keiner Weise zu.
Eine besondere Rolle kam dabei dem schon erwähnten, von Erlen umsäumten Weg zu, der die Grenze zwischen den zwei Besitzungen markierte. Dieser Erlenweg wurde geradezu zum Aufmarschgebiet der feindlich gegeneinander antretenden Kräfte. Pflegte Katja auf einem Rappen diesen Weg hinunter zu galoppieren, so stürmte Igor in einer Gig, einer kleinen zweirädrigen Kutsche, daher, wobei er stehend das Pferd lenkte, so daß im Ganzen der Eindruck eines rasenden römischen Kampfwagens entstand.
Begegneten sie einander – und dies geschah sehr häufig, da beide die Mittagspause für ihren Schaukampf nutzten –, so schauten sie meistens zur Seite, um zu demonstrieren, daß der andere für sie Luft sei, was dann in einigem Widerspruch dazu stand, daß sie ja gerade für den anderen diese fragwürdige Veranstaltung unternahmen.
Einmal aber konnte es Igor bei solch einer Gelegenheit nicht unterlassen, dem gerade vorbei stürmenden Rappen einen kurzen Peitschenschlag auf die Hinterbeine zu versetzen, so daß dieser sich aufbäumte und Katja fast heruntergefallen wäre. Aber sie war eine gute Reiterin und konnte das scheu gewordene Pferd bändigen.
Igor war damals mit einem unguten Gefühl nach Hause gefahren und stand mehrere Monate in der quälenden Erwartung, von Katja eine Anzeige wegen einer groben Behinderung oder Gefährdung der Gesundheit zu erhalten. Aber nichts geschah.
Dann aber – es mußte wohl ein ganzes Jahr seit jenem Vorfall vergangen sein – erhielt er doch von Katja eine Anzeige, aber jetzt in einer ganz anderen Sache. Sie verklagte ihn nun wegen des Erlenweges und nahm für sich in Anspruch, daß dieser gänzlich zu ihrem Besitz gehören sollte, weshalb denn auch das Gericht dem Igor Alexandrowitsch die Benutzung desselben zu untersagen habe.
Das verschlug Igor die Sprache, und das Gesinde in seinem Haus wehklagte ob solcher Feindschaft, pries aber Gott, daß Igors »selige Eltern« all dies nicht mehr erleben mußten.
Nachdem die erste Bestürzung ob dieser Klage vorüber war, er seine Fassung wieder erlangt hatte, vergrub Igor sich hinter seinem Schreibtisch, holte alte Akten vom Boden und besuchte gar das Katasteramt in Tilsit, um alles Mögliche herbeizuschaffen, das den Erlenweg als sein Eigentum dokumentieren sollte.
Das Urteil war dann im Grunde auch eine Niederlage für Katja. Aber wie Urteile es so an sich haben, konnten beide die Sache doch wieder so wenden, daß sie als Sieger dastanden. Zwar wurde im Urteil der Erlenweg eindeutig als Besitz des Gutes Alexandrowitsch herausgestellt, aber da nun inzwischen seine Nutzung durch die Kaminskis wie auch durch andere, die ihre Milch zur Straße transportierten, zu einem Gewohnheitsrecht geworden sei, wurde er durch dieses Gerichtsurteil zu einem öffentlichen Weg deklariert, womit es denn auch der Katja erlaubt wurde, ihn für ihre Ritte weiterhin zu nutzen. Allerdings wurde ein Streifen, der so breit war wie dieser Weg, von der anliegenden Erlenschonung der Katja Kaminski abgetrennt und den Besitzungen Igors zugeschlagen – dies als ein Ausgleich dafür, daß sein Weg, ab jetzt in rechtlicher Weise, der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurde.
Die meisten Leute in Schraten und Umgebung hatten dieses Urteil als ein salomonisches gepriesen, die beiden Kontrahenten aber waren, als der Richter Schimkat ihnen das Urteil verlas, mit hochrotem Kopfe und ohne Gruß aus dem Gerichtssaal gestürmt.
Erst viel später war beiden zu Bewußtsein gekommen, daß sie, im engeren Sinne des Wortes, ja gar nicht verloren sondern viel eher gewonnen hatten. Bei Igor hatte es zu dem geführt, was seine Dienerschaft »die Erlenfahrten« nannte. Wieder fuhr er – und das fast täglich – den Erlenweg entlang, aber jetzt nicht mehr aufrecht stehend in einer Gig. Nein, – er hatte ja den Kampf gewonnen und der schwarzen Hexe durch ein gerichtliches Verfahren einen Streifen Erlenschonung abgenommen. Dies feierte er nun, indem er in einem offenen Landauer daher fuhr, dessen vier Ecken durch große Erlenzweige geschmückt waren, – Zeichen der gewonnenen Gerichtsschlacht und des gewonnenen Erlenstreifens.
Zwar holte er diese Erlenzweige nicht eigens aus seinem neuen Besitz, dem sehr schmalen Erlenstreifen, sondern aus einem kleinen Gehölz gleich hinter dem Hofe – das andere wäre ihm zu umständlich gewesen – aber Erle blieb nun einmal Erle. Auch ließ er sich nicht von einem Diener kutschieren – denn er scheute sich doch ein wenig, das Gesinde in diesen Krieg hineinzuziehen –, was dann zu der seltsamen Erscheinung führte, daß er selbst vorne auf dem Kutschbock saß und der Kutschwagen – sieht man einmal von den Erlentrophäen ab – gänzlich leer blieb.
Natürlich begegnete er auf diesen Erlenfahrten des öfteren auch der Katja Kaminski, die immer wortlos, ihn keines Blickes würdigend, an ihm vorüber galoppierte. Auch sie eine Siegerin, hatte sie sich doch durch ein Gerichtsurteil ein für alle Mal das Recht auf die Benutzung des Erlenwegs gesichert.
Zunächst fanden diese Erlenfahrten fast täglich statt. Dann, wenn andere sich um die frühe Nachmittagsstunde noch ein wenig aufs Ohr legten, ließ Igor anspannen und den Wagen dekorieren. Aber schließlich gingen diese Fahrten, wie auch die damit verbundenen Begegnungen an ihrer eigenen Monotonie zugrunde und wurden schließlich versteinerte Geschichte.
Der geneigte Leser wird nun, nach diesen Bemerkungen, besser verstehen, warum die Ankündigung, Katja Kaminski wolle dem Hause Alexandrowitsch einen Besuch abstatten, den Igor nicht schlafen ließ. Was mochte dieses Teufelsweib wollen, fragte er sich. Hat sie womöglich schon wieder einen Prozeß im Sinn? Aber diesen Gedanken verwarf er bald wieder, da er annahm, daß die Kaminski für diesen Fall ihn eher mit einem Papier ihres Anwalts überrascht hätte.
Am nächsten Tage nun, als die Zeit des Besuches heran gekommen war, lief Igor »gestiefelt und gespornt«, wie man so zu sagen pflegte, durch das geräumige Wohnzimmer. Zwar muß ich hier insofern eine kleine Korrektur anbringen, als er in Wirklichkeit keine Sporen angelegt hatte – denn er saß nicht mehr gern zu Pferde, weil er dies bis zum Überdruß beim Militär hatte tun müssen –, aber er hatte doch seine Breeches und seine braunen Stiefel angezogen. Zudem trug er eine dicke Joppe, was ihn wegen des schon beheizten Wohnzimmers bald ins Schwitzen brachte. Aber er wollte dieser Person – mochte man sie nun Dame, Canaille oder Hexe nennen – durch seinen Aufzug von vornherein deutlich machen, daß er für ein langes Geschwätz, oder gar Gezänk, kaum Zeit zu erübrigen hätte.
Als dann die Kaminski das Zimmer betrat, stellte sich heraus, daß auch sie mit Stiefeln bekleidet war. Aber was für ein Unterschied: Ihre zierlichen Füße steckten in feinen schwarzen Lackstiefeln, während Igors Stiefel, wegen seiner dicken Waden, ein Mehrfaches des Umfanges erreichten.
»Frau Kaminski«, nickte er ihr zu, »Sie sehen, ich befinde mich gerade im Aufbruch. Die Rammosers wollten, daß ich ihnen einmal bei der Steuerabrechnung zur Hand gehe …«
»Aber man darf sich doch setzten, Igor Alexandrowitsch?«, fragte sie, von unten auf seine massige Gestalt schauend.
»Selbstverständlich«, kam es aus Igor heraus, und er wies auf einen kleinen Sessel, der zusammen mit einem zweiten neben einem metallenen Rauchtischchen stand.
Katja hatte ihre jugendliche Gestalt bis in diese Tage hinein, da sie wohl um die sechzig Jahre alt sein mochte, erhalten. Als sie ihre kleine graue Pelzkappe abnahm, sprangen, so wie schon vor vielen Jahren, ihre langen schwarzen Haare hervor, die sie über der Stirn zu einem Pony geglättet hatte, und ihre dunklen Augen hatten nichts von ihrem Glanz aber auch ihrer unruhig umspringenden Aktivität verloren.
»Ihr seid doch sicher gekommen, um mir etwas zu sagen«, murmelte Igor, auf den das Erscheinungsbild der kleinen Person nicht ohne Eindruck geblieben war.
»Ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, ob ich es Euch sagen soll, oder ob ich es Euch zu lesen geben soll …«
»Wie denn? Ist das so schwierig?«, fragte Igor, der sich auf so eine Andeutung keinen Reim machen konnte.
»Es handelt sich um einen Brief meines Vaters, den er vor vielen Jahren aus England meiner Mutter geschrieben hat. Ich fand ihn erst letzte Woche beim Aufräumen«, sagte Katja.
»Ja, aber was habe ich damit zu tun, Katja, – ääh – Ent-schuldigung – Frau Kaminski« …, verhaspelte er sich.
»Du kannst ruhig Katja zu mir sagen, – kannst mich auch duzen, – mußt ja nicht gleich schwarze Hexe zu mir sagen«, kam es aus ihr heraus.
»Entschuldigung, – aber damals …«
»Na gut, um es kurz zu machen: mein Vater hat dort über Dich – ich darf dann ja wohl auch Du zu Dir sagen – einige Äußerungen gemacht.«
»Aber ist es recht, daß Du mir davon Kenntnis gibst?«, fragte Igor.
»Das habe ich mir lange überlegt«, sagte Katja mit entschlossener Stimme, »Ich denke, daß es richtig ist; und damit ich nichts Falsches sage, lese ich Dir die Sätze, die Dich betreffen, vor«.
Damit holte sie aus ihrer kleinen Handtasche ein Couvert hervor und entnahm diesem einen zusammengefalteten Brief. Als sie ihn auseinander legte, blickten ihre schönen dunklen Augen Igor unverwandt an, so daß dieser verlegen auf seine Stiefelspitzen zu schauen begann.
»Also hier steht es«, begann sie. Und dann fortfahrend: »Eigentlich ist Igor Alexandrowitsch, wenn auch mitunter etwas jähzornig, ein gutherziger, wackerer Mensch, und gegen eine Verbindung mit Katja wäre im Grunde überhaupt nichts einzuwenden. – So, – jetzt ist es heraus, Igor. Nun wirst Du mich fragen, warum ich das hier vortrage. Dazu sage ich Dir: Ich habe ja jetzt unsere ganze Familie zu vertreten – oder das, was davon noch übrig ist –, deshalb wollte ich Dir nur damit sagen, daß mein Verhalten Dir gegenüber nicht dem der ganzen Familie entspricht. Ich wollte Dir nur deutlich machen, daß meine Eltern anders über Dich gedacht haben als ich. Du solltest nur eben diese Wahrheit wissen, Igor, eben die ganze Wahrheit. Das war der Grund für diese Eröffnung«.
Igor, der während des Briefzitates aufgesprungen war, schrie nun dazwischen: »Also das war es: verkuppeln wollten die mich …«
Jetzt sprang auch die Kaminski auf und ließ ihren Spazierstock aus einer beachtlichen Höhe auf die Fliesen des Wohnzimmers herabspringen, so daß es einen kurzen metallenen Knall gab.
»Niemand wollte Dich verkuppeln – schließlich gab es ja auch noch mich – ja glaubst Du denn, ich hätte mich verkuppeln lassen«, schrie jetzt auch die Katja Kaminski.
»Na, jedenfalls in meiner Familie wurden solche Verkupplungspläne nicht geschmiedet, – das kann ich mit Fug und Recht sagen«, entgegnete Igor, dabei jedes Wort einzeln betonend. Und gleichsam, als sei ihm ein ungeheuer wichtiger Gedanke gekommen rief er in voller Lautstärke:
»Sebastian, – Sebastian!«
Dieser war im Nu zur Stelle, hatte er doch ein wenig gelauscht, und wiewohl er auch nicht den vollen Sinn des bisherigen Gesprächs hatte erfassen können, so glaubte er doch, daß nun das eingetreten sei, was er befürchtet hatte und weshalb er auch von dem Empfang der alten Dame abgeraten hatte.
»Sebastian«, begann Igor, »nun hör mir mal zu und sage mir auf Dein Ehrenwort: Haben jemals meine Eltern – und Du kennst sie ja wohl ebenso lange wie ich – mir gegenüber geäußert, daß Katja, – also ich meine, daß hier die gnädige Frau für mich die rechte Frau wäre? Aber jetzt sag uns die Wahrheit!«
»Das nicht mein Herr, – aber …«
»Verflixt, was heißt das: Das nicht mein Herr, aber …?«
»Mein Herr, sie haben nie etwas Derartiges zu Ihnen gesagt,- das hätten sie sich ja auch wohl gar nicht getraut –, aber zu uns, ich meine zur Dienerschaft, da haben sie doch dann und wann etwas Ähnliches geäußert.«
»Ha-ha, ha-ha«, triumphierte jetzt die Kaminski und reckte den versilberten Knauf ihres Spazierstockes in die Höhe gegen Igor, jedes ha-ha damit betonend.
»Raus – raus!«, schrie Igor gegen Sebastian gewandt mit solcher Lautstärke, daß dieser sofort verschwand. Aber im gleichen Augenblick besann er sich – vielleicht auch weil er meinte, in Gegenwart einer Dame, und sei sie auch eine Katja Kaminski, zu heftig reagiert zu haben – und rief sogleich wieder:
»Sebastian, Sebastian«, und dieser, abermals in der Tür erscheinend, wußte gar nicht wie ihm geschah, als Igor eine »Entschuldigung« stammelte und ihm bedeutete, daß er nun gehen könne.
Von alledem war Igor so schwindelig geworden, daß er sich setzen mußte.
»Na, wie auch immer«, stammelte er nach einer Weile gesenkten Hauptes, während ihn die Kaminski fast mitleidig ansah. »Jedenfalls haben meine Eltern sich erst gar nicht getraut, solch abwegige Gedanken mir gegenüber zu äußern.«
»Na glaubst Du, Igor Alexandrowitsch, meine Eltern hätten mir gegenüber so etwas gesagt? Ich schwöre es bei meiner Seele, erst seit ein paar Tagen, da ich diesen Brief fand, weiß ich davon.«
»So, so, – na denn wäre das ja geklärt«, meinte Igor.
Für einen Augenblick saßen die beiden, stumm geworden, einander gegenüber.
»Na ja, jedenfalls haben wir unseren Eltern das ganz schön vermasselt«, nahm die Katja Kaminski nach dieser Pause das Wort.
»Aber nun guck sich einer nur einmal unsere Eltern an, – was die sich so alles gedacht haben«, sinnierte Igor.
Da erst fiel ihm nun auf, daß er immer noch in dieser verdammt warmen Joppe und den Stiefeln steckte.
»Moment Katja, warte mal einen Augenblick, ich komme gleich wieder«, und damit ging er in das anstoßende Arbeitszimmer, um sich der Stiefel und der Joppe zu entledigen.
Als er kurz darauf das Wohnzimmer wieder betrat, hielt er eine Karaffe und zwei Gläser in den Händen.
»Ich werde die Rammosers bis morgen warten lassen. Man ist nach solchen Neuigkeiten doch ein wenig aus dem Tritt geraten. Wie wär’s, wenn ich Dir einen Schluck Portwein anbiete?«
»Wenn Du meinst, daß Du mit einer alten Hexe einen trinken möchtest …«, kam die Kaminski wieder auf die alte Zeit zurück, aber Igor überging den Ausdruck »Hexe« und vergab ein erstes Kompliment, indem er meinte:
»Na – na, Du bist doch noch nicht alt – ja wenn ich das von mir sagen würde …«
»Aber Igor, jeder Mensch hier im Dorf weiß doch, daß ich nun mal gerade zwei Jahre jünger bin als Du.«
Wie sie ihn so von der Seite lächelnd mit ihren dunklen Augen ansah, konnte Igor sich eines gewissen Wohlgefallens nicht erwehren. Er hatte darum auch gleich eine Idee.
»Wie wär es, wenn wir den Tee gemeinsam zu uns nehmen«, fragte er etwas scheu.
»Ich wollte eigentlich gar nicht solange bleiben«, meinte sie, – aber mit einer Handbewegung und einem »na laß uns mal« wischte Igor ihre Einwendung hinweg.
»Sebastian«, rief er, und als dieser erschien, befahl er ihm, doch den Samowar und zwei Teegedecke hereinzutragen.
Sebastian, der bei seinem Lauschen nicht die Einzelheiten des Gesprächs herausbekommen hatte, wunderte sich über den Auftrag. Nicht sicher, ob er selbst der Gesellschafter beim Teetrinken sein sollte und dies Teetrinken der beiden Männer vor den Augen der Kaminski vielleicht ein wohl kalkulierter Affront seines Herrn gegen den unliebsamen Gast sein könnte, fragte er vorsichtshalber zurück:
»Ein Gedeck für den Herrn – und eines für die Dame?«
»Na für wen wohl sonst«, polterte Igor zurück.
Als Sebastian verschwunden war, druckste Igor noch eine Weile herum und meinte dann:
»Na ja, ich trinke schon dann und wann den Tee mit ihm gemeinsam, aber heute habe ich ja nun einen Gast.«
Das Gespräch der beiden während des Teetrinkens kreiste eigentlich ganz und gar um ihre Eltern, wobei man sich sehr schnell einig war, daß sie im Grunde ganz gute Eltern gewesen seien, wenn sie denn auch in dem einen Punkte, dem einer Verbindung ihrer Kinder, mächtig daneben gelegen hätten.
Als Katja ging, begleitete sie Igor bis auf den Hof. Dort saß der Kutscher der alten Dame immer noch wartend auf seinem Kutschbock.
»Aber Sebastian, was sind das für Sachen«, beschwerte sich Igor, »man bittet die Gäste doch herein!«
»Sehr wohl, mein Herr«, verbeugte sich dieser und wußte nicht mehr so recht, in welcher Welt er nun lebte.
»Na, das nächste Mal machen wir es aber anders«, sagte Igor beim Abschied.
Als nach einer Woche Igor von Katja Kaminski eine Einladung erhielt, konnte er sich doch nicht entschließen, ihr zu folgen. Ihm war da alles, was sich ereignet hatte, noch zu neu und fremd. Darum schützte er eine Erkältung vor und sagte ab. Als dann aber einige Tage später die Kaminski persönlich sich für einen Besuch anmeldete, geriet er doch in einige freudige Erregung.
»Ich muß doch sehen, wie es dem roten Teufel geht«, scherzte sie, als sie das Wohnzimmer betrat.
Sebastian hatte die Wende, die zwischen den Familien eingetreten war, inzwischen nachvollzogen und einen schönen kleinen Tisch für zwei Personen gedeckt.
Für dieses Mal drehte sich das Teegespräch um das Urteil in ihrem Rechtsstreit; und wen verwundert es noch, daß sie sich darin einig waren, ein ganz unmögliches Gerichtsurteil erhalten zu haben.
»Was soll ich eigentlich mit diesem schmalen Streifen Erlenschonung anfangen, der nur so breit wie ein Weg ist«, ereiferte sich Igor, »na und Du? Ich habe gesehen, daß Du zwischen den Grundstücken einen Streifen von Deiner Erlenschonung hast kahl schlagen lassen, um die neue Grenze zu markieren. Dabei geht Dir dann noch mehr Land verloren. Weißt Du das ist doch alles unsinnig mit diesem Urteil.«
»Na ja, und was habe ich von dem Recht, nun öffentlich und gerichtlich festgelegt, den Erlenweg benutzen zu können. Kaufen kann ich mir auch nichts dafür«, entgegnete Katja.