Der Abt vom Petersberg

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Kapitel 3

Erfurt 1444

Fast 20.000 Seelen zählte die große Handelsstadt Erfurt am Kreuzungspunkt der Via Regia und der Nürnberger Geleitstraße. Man nannte sie die türmereiche, denn alle Orden mit ihren Klosterkirchen waren in ihr vertreten. Es gab fünfundzwanzig Pfarrbezirke, ebenso viele Kirchhöfe, Kapellen und natürlich die mächtigen Wachtürme der langen Stadtmauer. Marktplätze, Gasthäuser, Ausspannen. Es war ein Getümmel auf den Straßen. Die reichen Waidhändler, die aus der Waidpflanze ein wertvolles blaues Farbpulver herstellten, Bierbrauer, Futterer, die die Ausspannen betrieben und als Getreidehändler die Pferde der vielen Fernhändler fütterten, Kaufleute, Goldschmiede, Tuch- und Gewürzhändler und die Ratsherren darunter und alle anderen, die zum Patriziat gehörten, protzten mit ihren großen Anwesen und verzierten steinernen Hausfassaden. Alle anderen versuchten, auch die kleinsten Häuserlücken mit Holzkonstruktionen und Lehm zu bebauen, sodass die Gassen enger und die Häuser höher wurden. Dort war das Leben elender. Die Breite Straße, die Wege zu den Märkten vor dem Rathaus, auf dem Anger, bei der Allerheiligenkirche und auf dem Platz vor den Graden, den Stufen, die auf den Domhügel führten, zu den Kirchen, zum Rathaus auf dem Fischmarkt, zum Kauf- und Waaghaus und zur Universität waren grob gepflastert, die Nebengassen hatten ungepflasterten Boden, der bei Regenwetter in ein Schlamm- und Kotbett verwandelt wurde, sodass die Bürger beim Passieren der Gassen meist schwere Holzschuhe anzogen. In die winkligen Gassen drangen nur spärlich Sonnenstrahlen und der Boden blieb wochenlang in seinem ekelhaften Zustand. Aus Gewohnheit entleerten die Bewohner allen häuslichen Unrat vor dem Haus. Stallmist, Scherben, Stroh und Kot häuften sich in den schmalen Durchlässen zwischen den einzelnen Häusern auf. In übel riechenden Pfützen standen die Abwässer in den verstopften Gassen, sickerten in den Boden, drangen in die Brunnen und durchsetzten das Trinkwasser mit Krankheitskeimen oder gelangten über die schmalen Wasserklingen in den großen Fluss. Da fast alle Stadtbewohner zur Deckung ihres Fleischbedarfs Vieh hielten, wälzten sich tagsüber die Schweine im Gassenkot, drückten ihn breit und trugen ihn weiter. Doch als fast noch unsauberer galten die Pfaffen und die Mönchsklöster. Die Mönche, die durch die Bürgerhäuser kamen, trugen auch ihre Unreinlichkeit in diese hinein. Häufig auch Krankheiten. Denn der Bettelmönch bettelte nicht nur, er pflegte auch den Kranken, in dessen Haus er trat. Vom Kranken ging er wieder zum Gesunden, setzte sich an seinen Tisch, berührte seine Kinder und seine Hausgenossen und verbreitete die Keime. Der Bürger aber küsste noch in Demut und Unwissenheit die Hand, welche sein Haus mit Unglück belastete.

Die Kleriker wüteten gegen die Fleischesteufel und erzogen ihre Gläubigen zur Heuchelei in fleischlichen Dingen. Das enge Zusammenwohnen in den Gassen und der Mangel an höherer geistiger Zerstreuung nährten jedoch die Sinnlichkeit. Die Notzucht war selbst durch Rädern und Vierteilen nicht zu besiegen, sodass Frauenhäuser eine unverzichtbare Angelegenheit waren. Obrigkeitliche Verordnungen regelten genau den Preis und die Ausübung des Gewerbes, schrieben den Dirnen die Kleidung vor, damit sie sich von den Frauen der städtischen Ehrbarkeit unterschieden. Die Liederlichkeit des Klerus hatte mit dem Zölibat zugenommen und immer häufiger sah man Kutten durch die Dirnengässlein streichen. Ein Mumenhaus, in dem Frauen für Geld ihre Körper anboten, befand sich ganz in der Nähe des Domes St. Marien, ein anderes zwischen Kaufmannskirche und Johanneskirche in der Sperlingsgasse. Die käuflichen Frauen verdienten hier ihren Lebensunterhalt.

Der Rat der Stadt hatte sich zu einer Besprechung im Rathaus versammelt. Martin von Nordhausen, Johannes von Allenblumen, Tilmann Ziegler, Hermann von Denstedt, Heinrich Lange, Johann Nafzer und Walter Ludolf waren die Anwesenden.

»Die Zustände in unserer Stadt sind fast unerträglich. Wir werden dem Laster kaum noch Herr, wenn nicht endlich die Klosterregeln erneuert werden und Zucht und Ordnung nicht nur gepredigt, sondern auch gelebt werden. Ich habe Angst um meine Verlobte, wenn sie bei Dunkelheit auf die Gasse geht. Die Bürger erwarten, dass wir handeln«, begann Martin.

»Nicht nur das. Der Schmutz und die Unzucht auf der einen Seite, die über alles erhabenen Juden auf der anderen Seite. Wir demütigen uns selbst dadurch, dass wir ein Bier- und Hurenhaus sind, und dazu kommt die Demütigung, uns von den Wucherern Geld leihen zu müssen. Bald haben uns die Juden in der Hand. Die Unzufriedenheit nimmt zu, die Zünfte raten ihren Mitgliedern, gegen die Steuerlast zu protestieren. Sie sagen, das Geld werde nicht klug ausgegeben«, ergänzte Allenblumen.

»Und denkt daran, dass wir eine der renommiertesten Universitäten haben. Hier werden Kirchenrecht und Theologie gelehrt. Diese Zustände schrecken die Gelehrten ab und machen die Fakultäten unglaubwürdig«, sagte Ziegler.

»Habt ihr gehört, dass das nächste Generalkapitel der Benediktiner dieses Jahr in Erfurt auf dem Petersberg stattfinden wird? Es geht um die Klosterreform. Bis dahin müssen wir Weichen stellen, Maßnahmen ergreifen, einen Plan haben und uns einmischen! Martin, dein Bruder ist doch bei den Benediktinern – sprich mit ihm. Vielleicht gibt es Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Abt Herling scheint nicht der richtige Mann für Reformen zu sein, wenn man den Gerüchten Glauben schenkt.« Ludolf machte ein ernstes Gesicht.

Martin von Nordhausen nickte. »Ja, wir müssen uns einbringen. Es geht nicht nur um die Klöster, es geht um unsere Stadt, um unsere Kinder und unseren Besitz. Wir müssen der höheren Gewalt gehorchen, und die gehört dem Konzil, das sich im Unterschied zu den Päpsten noch nie geirrt hat.«

Allenblumen ergänzte: »Alles richtig, schön und gut. Nicht zuletzt geht es natürlich auch um die Pest. Ist sie einmal da, breitet sie sich ohne Ansehen des Standes aus. Wie oft hatten wir sie in Erfurt? Die Ausgehverbote wurden unterwandert, Wachen vor den Häusern ausgetrickst. Wenn die Moral nicht strikt gepredigt, vorgelebt und überwacht wird, wird der Schwarze Tod immer wieder leichtes Spiel haben. Und die Folgen? Eine Handelsstadt wie unsere lebt vom Geschäft, von den Steuern. Nach der letzten Pestilenz war die Not groß, und es hat lange gedauert, bis wir wieder eigenständig wirtschaften konnten. Dörfer mussten wir verpfänden, Kredite bei den Juden aufnehmen. Und … Ihr wisst, dass gerade sie komischerweise vor der Pest gefeit zu sein scheinen!«

»Ja, Spielsucht, Trinkgelage in den Gasthäusern und Unzucht in den Schlafstuben, das alles hat stets die Pest verschlimmert. Eine Strafe Gottes, ganz einfach, wenn ihr mich fragt!«, ergänzte Martin.

Ziegler fügte hinzu: »Nur gut, dass wir den Freydelschen Turm gleich hier am Rathaushof erworben haben und sein Untergeschoss ein Gefängnis wird. Wie wollten wir es nennen? ›Zum Paradies‹?«

»Ja, ›Zum Paradies‹!« Alle lachten.

Martin von Nordhausen beeilte sich, nach der Ratssitzung nach Hause zu kommen. Es war schon Nachmittag, vielleicht saß sein Bruder Günther, der Mönch, noch beim Vater, bevor er zum Abendgebet zurück im Kloster sein musste. Sie besaßen ein großes steinernes Haus mit Pferdestall und Kutschenremise, mit Innenhof für den Bierausschank, wenn sie wieder brauten, und mit einem Waidspeicher, dessen spitz zulaufendes hohes Dach über drei Böden mit je vier Belüftungsluken verfügte. Es war April, die erste Ernte getrockneter Waidblätter befand sich im Speicher. Die Waidknechte hatten alle Hände voll zu tun mit dem Zerschlagen der Ballen, dem Befeuchten derselben mit dem gesammelten Urin des letzten Ausschanks, mit ständigem Umschaufeln und damit, fertige Waidasche in Tongefäße zu füllen und für den Verkauf vorzubereiten und zu lagern. Der Urin diente dem Gärungsprozess. Er durfte nur von Männern stammen, denn der Urin von Frauen war unrein. Bald würden sie wieder brauen und ein Extrafass nur für die Waidpinkler aufstellen.

Sie wohnten im Georgsviertel, das direkt an die Michaeliskirche grenzte, wo der Heilige Michael, der Drachentöter, als der Pfahl im Fleische des Juden galt. Über die unsichtbare Grenze dieser Kirche hinaus wohnte kein Jude mehr. Es war vielen schon ein Dorn im Auge, dass die wichtigen Handelsplätze um die Krämerbrücke und um das Rathaus von Spitzhüten und Geldwechslern beherrscht wurden. Martin grüßte den Juden Alexander Schmuck, der wohl gerade von der Synagoge kam. Die Stadt hatte vor Kurzem mit seinem Geld die Futterstraße neu gepflastert. Martin wünschte, sie hätten das Angebot ausschlagen können. »Wir sind das Aushängeschild der Stadt als Ausspann für die auswärtigen Marktbesucher, zahlen hohe Steuern und müssen im Sumpf versinken!« Ziegler selbst wohnte dort und forderte, auch in seiner Eigenschaft als Ratsmitglied, Abhilfe.

Die Glocke der Georgskirche schlug Viertel. Martin ging über den Innenhof durch den hinteren Eingang, der gleich über eine kleine Stufe in die Küche führte. Auf dem Herd stand ein Topf Suppe, der noch dampfte. Seine Mutter erhob sich vom großen Holztisch, an dem sein Vater und seine Brüder Günther und Hermann mit Bierkrügen saßen. »Martin! Magst du noch etwas Kohlsuppe? Günther sagt, sie wäre viel besser als die, die er im Refektorium bekommt!« Sie lächelte zufrieden.

Er bejahte, setzte sich und die alte Dame stellte eine Schüssel mit einer Scheibe Brot vor ihn hin.

»Grüßt Euch! Schön, Günther, dass ich dich noch antreffe. Wir hatten gerade Sitzung im Rathaus. Es geht um das Generalkapitel, von dem du mir erzählt hast. Ein wichtiger Anlass, kommt es doch nur alle sechs Jahre zusammen. Auch werden wichtige Ämter besetzt. Und natürlich geht es uns um die Missstände in der Stadt. Es geht so nicht mehr weiter! Weißt du, was man auf der Straße über die Geistlichkeit sagt?«

 

»Nein, nur raus damit!« Günther lehnte sich gelassen zurück. Er war der kühlere Gegenpol zu seinem eifrigen Bruder.

»Die Mönche mästen sich mit Sünden und werden fett von Aas. Oder: Lass den Mönch ins Haus, so kommt er in die Stube; lass ihn in die Stube, so kommt er ins Bett. Ich könnte noch weiterreden. Wie’s den Mönchen eigen, Essen, Trinken, Schweigen.« Günther zuckte verächtlich mit den Schultern. Ihn betraf das nicht.

»Martin, es reicht!«, mischte sich Vater Hans ein. »Worum geht’s?«

»Es geht um die Zustände in der Stadt. Die Kirche lebt’s vor, das Volk macht’s nach. Das Volk treibt’s bunt und niemand wird ihm habhaft.«

»Günther, dein Bruder hat recht. Seit zehn Jahren gehörst du dem Orden an. Was sagst du dazu? Oder du, Hermann. Du bist auch schon ein paar Jahre auf dem Petersberg?«

Hermann schaute betreten auf den Boden. »Der Abt lässt alles zu. Zudem hat er auch nichts unter Kontrolle. Er wohnt außerhalb der Klausur und lässt es sich gut gehen!«

Günther fügte hinzu: »Ich könnte so einiges berichten. Doch wer will es hören? Wer kann es ändern, wenn der Abt selbst der Schlimmste ist? Hier kommt ein Spruch von mir: Alles mit der Zeit, sagte der Abt, wie man ihn ob der Magd ertappte.«

Sie mussten lachen.

»Mein Sohn, Günther, du hast in diesem Jahr dein Grundstudium des geistlichen Rechts als Magister Artium abgeschlossen. Denkst du nicht, du könntest Einfluss nehmen? Der Titel gibt dir zweifelsfrei Autorität. Das Amt des Priors stünde dir gut. Danach solltest du streben. Versuche, dich beim Generalkapitel einzubringen. Auch wenn du bei den Gesprächen nicht dabei bist, könntest du dich in privaten Unterhaltungen hervortun, durch eine vorbildliche Haltung auf dich aufmerksam machen.«

»Ja, Günther, strebe den Prior an, und du, Hermann, du kannst schreiben und rechnen, versuche, in die Verwaltung zu kommen!«, riet Martin. »Da du gerade zu mehr Mitsprache rätst. Wie steht es um deine Chancen, in den Viererrat gewählt zu werden?«, erinnerte der Vater an Martins diesbezügliche Ambitionen.

»Es geht immer um Einfluss und Verbindungen. Wenn man mir zutraut, etwas bewegen zu können, so wird man mich wählen. Mein Amt verpflichtet euch alle. Unsere Familie muss im rechten Licht stehen.«

»Wir müssen zurück ins Kloster. Zur Komplet dürfen wir nicht zu spät sein. Gehabt euch wohl!« Der ältere Mönch Günther und sein jüngerer Bruder Hermann verließen in ihren schwarzen Kutten das Elternhaus, liefen bis zur Pergamentergasse, wo aus den Werkstätten der Papiermacher die Geräusche der Pressen zu hören waren, zum Severiviertel, das sich rechts unterhalb der Severikirche auf dem Domberg erstreckte. Dann ging es ein Stück bergan, an den Weinbergen des Klosters vorbei, auf den Petersberg.

Rechts außerhalb der Klausur befand sich das Gasthaus zum Grünen Hagen. Hier wohnte Abt Hartung Herling mit seinen Familiaren in dem eigentlich für Gäste bestimmten Gebäudekomplex. Es waren Laienmitglieder, die außerhalb des Klosters die Spiritualität des Benediktinerordens leben wollten, die bei ihm Rat und Vorbild suchten. Er selbst führte daher auch eher das Leben eines weltlichen Herrn und stellte seine aufwendige Haushaltung gerne zur Schau. Nur wenige Schritte und der Erfurter Benediktiner befand sich inmitten städtischen Lebens und Treibens. Einige Brüder aus dem Kloster tafelten ausgiebig und nach ihrem Geschmack in der Wohnung des Abtes und entzogen sich so der Verpflichtung zu Pünktlichkeit, Tischdienst, Gebet und Lesung sowie dem kargen Essen.

»Die Mönche verneigen sich nicht vor dem Abt, sondern vor seinen vollen Schüsseln. Merk dir das, Hermann! Hörst du das Gelächter und das schnelle Spiel der Geige? Es scheint schon wieder lustig zuzugehen.«

Günther und Hermann machten ein angewidertes Gesicht. Sie erreichten das große Holztor und klopften. Der Pförtner öffnete. Rechts war der Abteihof mit der großen Abtei. Links von der Pforte die Stallungen und der Wirtschaftshof, der sich die ganze Nordseite entlang erstreckte, mit dem Brau- und Malzhaus am Ende. Im Klosterinneren lagen nördlich des Kreuzgangs die Küche, das Laienrefektorium für die Brüder ohne Priesterweihe, das Sommerrefektorium, die Sprachstube und die Bibliothek, östlich das Winterrefektorium, das Archiv, der Kapitelsaal, in dem sich jeden Freitag die Mönche versammelten, südlich grenzte die Kirche an, und im Westen, wieder in Richtung Eingang, befanden sich die Kellnerei und die Böttnerei, die Fässer putzte, band und herstellte. Außerhalb des Klostergemäuers gelangte man nördlich zum Holzstadl, östlich zur Infirmerie, der Krankenstation, und zur Annenkapelle. Zwischen Annenkapelle und den Osttürmen der Peterskirche lag der Kirchhof mit der kleinen Fronleichnamskapelle. Die Brüder liefen durch die große Abtei über den Eingang im Westen in die Kirche zum Gebet. Dreiundzwanzig Altäre zählte die Kirche, wobei die mittleren, der Barbara-Altar, der Kreuz-Altar, der Benedikts- und der Peter-und-Paul-Altar im hohen Chor die wichtigsten waren. Der Bonifatius-Altar war eine Stiftung von Heinrich Brun, der schon seit Jahrzehnten im Stadtrat vertreten war. Der Barbara-Altar war von den Grafen von Gleichen vor circa hundert Jahren gestiftet worden. Sie hatten hier ihre Familiengruft.

An die achtzig Mönche, überschlug Hermann, hatten sich im Hohen Chor eingefunden. Weniger als die Hälfte aller Klosterinsassen. Sie nahmen ihre Plätze stehend im Chorgestühl ein. Mit gesenktem Kopf sprachen sie ein stilles Gebet. Der Prior saß rechts neben den Chorschranken. Die Kantorenbrüder Konrad von Kreuzburg und Friedrich Goldschmied stimmten den Psalmengesang an, in den die Anwesenden einstimmten. Die unterschiedlichen tiefen Tonlagen wurden ergänzt durch glockenhelle Stimmen, die zeitversetzt erklangen. Die Schwingungen erfüllten den ganzen Raum und durchfluteten das Innerste der Klosterbrüder. Günther stieß Hermann mit dem Ellenbogen unauffällig in die Seite und deutete mit den Augen auf Bruder Walter, der, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, offensichtlich die Augen geschlossen hatte und nun leicht hin und her wankte. Als der Gesang verstummte, vernahm man von ihm ein leises Schnarchen. Hermann flüsterte in seine Richtung: »Walter! Aufwachen!«

Der schrak zusammen und stieß so ungünstig gegen seinen hochgeklappten Sitz, dass die Stuhlklappe krachend nach unten fiel und man meinte, der Kirchenraum werfe das Krachen als Echo zurück.

»Halt die Klappe und sammle dich!«, wurde er vom Prior ermahnt.

Während der Komplet, dem Nachtgebet, sah Günther sich nach Abt Hartung um. Er war nicht überrascht, ihn nicht zu sehen.

Hartung Herling befand sich im Grünen Hagen, hatte seine jüngste Bedienstete, die 15-jährige Tochter des Böttchers Schmalfuß, in sein Zimmer kommen lassen, als es in der Gaststube laut und lustig zuging, und sie gefragt, ob sie etwas zu beichten hätte. Sie verneinte.

»Schönes Kind, komm setz dich mir gegenüber. Ich weiß, du musst Vertrauen zu mir fassen, um mir deine sündigen Gedanken zu gestehen.« Er zog einen Stuhl dicht vor den seinen, bedeutete ihr, sich zu setzen, und nahm ihre Hände. »Hör mal, Gott sieht alles und weiß alles. Ob eine Sache getan oder nur gedacht, ist das Gleiche. Denkst du manchmal an einen unbekleideten Mann?«

»Eigentlich nicht, oder vielleicht«, gab das Mädchen schüchtern zu.

»Hast du schon einmal einen beobachtet?«

Nun fühlte sie sich ertappt. Gott sah alles. Leugnen half nicht. »Ich habe schon einmal durchs Schlüsselloch geschaut, als meine Schwester und ihr Mann sich liebten.«

»Und, was hast du gesehen, mein Kind? Und welche Wünsche kamen in dir auf?« Hartung Herling merkte, wie seine Fragen, ihre Antworten und vor allem ihre Unschuld, die leicht erröteten Wangen und ihr tiefer Atem ihn erregten. Als sie dann sagte, wie ihr Schwager sich entkleidete und in ihre nackte Schwester eindrang und sie sich an ihre Stelle gewünscht hatte, zog der Abt sie zu sich und legte ihre Hand in seinen Schoß. »Gott will dich nicht unerfüllt und vor allem unerfahren von mir, seinem Diener, gehen lassen. So, wie du mir dienen musst, muss ich ihm dienen. So ist für alles gesorgt. Er begann, sie zu entkleiden, entledigte sich seines Beinkleides, ließ sie einen großen Schluck von seinem Gebrannten nehmen und begann sie am ganzen Körper zu streicheln. »Schäme dich nicht, es ist Gottes Wille. Er kennt dich sowieso.«

Der starke Alkohol machte des Böttchers Tochter willig, der Abt zog die Vorhänge zu und vergnügte sich an dem Mädchen, das er erst nach über einer Stunde mit der Ermahnung gehen ließ, dass die Beichte für beide dem Schweigegebot unterlag. Eine mehr, die mir hin und wieder das Leben versüßt, dachte er zufrieden bei sich.

Als sie das Zimmer verlassen hatte, richtete er seine Kleidung, zog seine Kutte über, setzte seine runde Kappe auf, die genau seine Tonsur bedeckte, und verließ den Grünen Hagen durch die Hintertür. Er musste ins Kloster, um nach dem Rechten zu sehen. Der Weg war zwar kurz, doch half er ihm, seine Gedanken an das Mädchen abzuschütteln. Er konzentrierte sich auf die Umgebung. Hinter der Mauer auf dem Klostergelände fingen die ersten Knospen an zu blühen. Ja, auch in ihm regten sich die Frühlingsgefühle immer wieder – an sich ein gutes Zeichen, dachte er, das von Jugendlichkeit und Gesundheit zeugte. Der Vorgarten eines Ordens symbolisierte eigentlich das Paradies. Er sah sich auf den Beeten um. Schlechtes Gewissen machte sich in seiner Magengegend breit. Angesichts der soeben erlebten Freuden erinnerte er sich an den Sündenfall. Die Frauen sind Verführerinnen und Schlangen! Was soll ich machen, Gott?, fragte Hartung in Gedanken. Morgen werde ich den Gärtner beauftragen, das Unkraut zu jäten, die Bäume in Form zu bringen und den Rasen zu schneiden.

Gerade als er seinen Schritt zur Abtei lenken wollte, kam ihm der Konventuale Otto Konrad Pfefferkorn entgegen. »Abt Hartung, ich grüße Euch. Ich wollte mit Euch sprechen. Es geht um Ichtershausen.«

Der Abt forderte ihn auf, mitzukommen. In der Abtei gingen sie in Hartungs Arbeitszimmer, wo dieser Konrad einen Hocker anbot. »Was ist es, Pater?«

»Ihr wisst, dass ich schon mehrmals Sorge geäußert habe wegen der Zisterzienserinnen in Ichtershausen, deren Beichtvater ich bin. Nicht nur, dass ich immer wieder Schoßhündchen antreffe, die, wie man mir sagt, den Besitzerinnen zum Zeitvertreib im Bett dienen oder gerade letztens wieder ein Kind geboren wurde, dessen Vater möglicherweise ein Erfurter Ordensbruder ist, auch der Kerzenverbrauch recht hoch ist aus mir zugetragenen unschicklichen Gründen und ich mir freiwillig einen Keuschheitsgürtel anlege, um nicht überfallen zu werden …«

»Entspannt Euch und kommt zum Punkt!«, ermahnte ihn der Abt mit ungeduldigem Gesichtsausdruck.

»Verzeihung. Nicht also nur das, sondern nun trage ich gar ein Panzerhemd unter meiner Kutte, weil ich von der Äbtissin Hildegard gewarnt wurde, dass bewaffnete Verwandte im Kloster auftauchen könnten, wegen der Klosterzucht, die ihren gutbürgerlichen oder adeligen Töchtern neuerdings zuteilwird. Ich bitte um Eure Unterstützung in dieser Angelegenheit!«

»Was erwartet Ihr?«

»Nun, viele Familien sehen es gern, wenn ihre Kinder den Umgang mit Nonnen pflegen, sich mit ihnen unterhalten und sogar die Feiertage im Kloster verbringen, fromm Gebete schreiben und lesen lernen und sich ein ehrbares Benehmen angewöhnen. Die Eltern sind bereit, dafür zu bezahlen oder wenigstens für die Unkosten aufzukommen. Doch ich fürchte um die Seelen der Nonnen, wenn Mädchen aus reichem Hause mit ihren roten und gelben Kleidern, mit Perlen und kostbarem Schmuck und bunten Borten die Sinne der Schwestern auf weltliche Freuden lenken.«

Weltliche Freuden. Der Abt sah für eine Sekunde das Bild des jungen Mädchens von eben vor sich, besann sich aber sofort seines Amtes. »Ich werde Euch das nächste Mal begleiten und mit der Äbtissin das Problem erörtern und auch zu beseitigen wissen. Seid unbesorgt!«

»Vielen Dank!« Konrad verließ die Stube des Abts. Hartung atmete tief durch. Er fühlte, dass er in mancher Angelegenheit nicht mehr der richtige Ansprechpartner war.

Schon klopfte der Nächste. »Herein!«

»Abt Hartung, gut, dass ich Euch antreffe. In meinem Amt als Cellerarius fühle ich mich verpflichtet, Euch darauf hinzuweisen, dass das bevorstehende Generalkapitel unter Umständen unsere Finanzen übersteigt. Die Bücher weisen nur geringe Mittel aus und mir wurden schon einige Beträge der Küche und des Gästehauses mitgeteilt, die sie für Besorgungen benötigen. Ich befürchte auch, dass der Erzbischof höchstpersönlich Einsicht in die Bücher nehmen wird und bei der Gelegenheit den Anteil des Erzbistums einfordert. Ich kann ihm schlecht erklären, dass wir mittlerweile für zwanzig Bälger zahlen. Vielleicht wird auch Ihre Wohnung außerhalb des Konvents wieder angesprochen. Ihr wisst, wie kritisch er sich im Oktober vor vier Jahren in unserer Abtei umgesehen hat und ihm auch nicht verborgen blieb, dass Ihr nicht innerhalb der Klausur lebt, wie es die Reformbulle von Basel vorsieht. Diese Urkunde mit der Verkündung der päpstlichen Rechtsakte ist absolut verbindlich, wie Ihr wisst.«

 

Der Cellerarius Jonas Eisenkraut war ein selbstsicherer und pflichtbewusster, aber auch gehorsamer Mönch, der sich um alle wirtschaftlichen und finanziellen Belange kümmerte. Abt Hartung wusste ihn auf seiner Seite. Gut, dass er ihn warnte. »Ich werde mir Gedanken machen. Danke für deine Offenheit!«

»Und nicht nur das. Im Vertrauen: Die Reformabsichten werden künftig Eigentum verbieten. Es aufheben, einziehen, wie auch immer – die Güterverwaltung wird sich ändern.«

»Woher wisst Ihr das?«, wurde Hartung hellhörig.

»Ich habe eine liebe Freundin unter den Nonnen von St. Martin im Brühl. Sie weiß vieles, was noch nicht in aller Munde ist.«

Hartung nickte nachdenklich und verständig. Als Jonas sein Arbeitszimmer verlassen hatte, schaute er vor der Tür, ob sich jemand auf dem Flur befand. Alles blieb still. Es war Zeit für die Prozession im Kreuzgang, worauf die Mönche in ihre Zellen zum Bibelstudium gingen. Auch Jonas war in Richtung Kreuzgang gelaufen. Hartung schlich durch die leere Kirche, schlüpfte durch eine Verbindungstür zum Kapitelsaal und ins daneben befindliche Archiv. Hier gab es einen kleinen Raum mit einer sehr schweren, durch eiserne Riegel verschlossenen Tür, zu der er als Abt den Schlüssel hatte. Er nahm sich eine Kerze und trat ein. Der fensterlose Raum war stockdunkel. Im Schein der Flamme konnte er die kostbaren Kelche, Insignien und die wertvollen Schmuckstücke, Geschenke von Gläubigen, betrachten, die dort auf samtenem Stoff in Regalen lagen oder standen, genauso wie die Reliquienbehälter. Hartung holte unter seiner Kutte ein Stoffsäckchen hervor, das an seinem Gürtel befestigt war. Nun ließ er diverse Ringe und Ketten, ein mit Edelsteinen besetztes Kästchen, ein durch Goldstickerei verziertes Tuch und einen kleinen goldenen Becher darin verschwinden. Er ordnete die Schatzstücke neu, sodass die frei gewordenen Stellen wieder gefüllt waren. Dann suchte er die Inventarliste, fand das Stück Pergament in einem Schubfach und steckte es sich in sein Obergewand. Das kalte Pergament lag steif auf seiner Haut. Er versicherte sich noch mal, dass alles unberührt aussah, schloss ab, stellte die Kerze an ihren Platz und verließ eiligst das Kloster, um seine Beute in sein privates Zimmer im Grünen Hagen zu bringen. Erst als er alles gut im hintersten Winkel unter seiner Matratze versteckt wusste, atmete er auf. Am nächsten Tag würde er seine Schwester besuchen und sie zum Wohle des Klosters und zum Schutz vor dem Zugriff Unberechtigter um Verwahrung der Gegenstände bitten. Der Klosterschatz ist nicht zuletzt aufgrund meines persönlichen Einsatzes gewachsen. Die Früchte meiner Arbeit nimmt mir niemand! Mit diesem Gedanken ging Hartung zu Bett und entglitt sofort ins Land der Träume.

Während der Abt schlief, verließen einige Mönche das Kloster. Zwei trieb es in die Gaststube, Pater Georg hatte einen kranken Mann zum Ziel. Seit zwei Wochen besuchte er ihn fast jeden Abend, um mit ihm für Genesung und das Erwachen am nächsten Morgen zu beten. Der Mann, dessen Kräfte schwanden, hielt dann seine Hand, dankte ihm mit einer Münze und trug seiner Frau auf, dem Mönch einen guten Schluck einzuschenken, bevor er wieder hinaus zum Kloster musste. Danach schlummerte er sofort selig ein und man hörte ihn von der Küche aus laut schnarchen.

An den ersten zwei Tagen blieb es beim Schluck des guten Weinbrands. Schon am dritten Tag wollte sich die junge und hübsche Frau des Hausherrn dankbar zeigen, indem sie ihr langes Haar offen trug, die Haube absetzte und Einblicke in ihr Dekolleté gewährte. Georg hatte die Einladung verstanden, sich aber nur zu einem heißen Abschiedskuss hinreißen lassen. Der Gedanke an diesen Kuss ließ ihn jedoch nach mehr verlangend unruhig schlafen, sodass er es am nächsten Tag kaum erwarten konnte, wieder zum Krankengebet zu gehen. Dieses Mal ließ er sich verführen und landete mit der Schönen im Stroh des frisch gemisteten Kuhstalls im Raum hinter der Küche außer Reich- und Hörweite des Krankenbettes. Die junge Frau war nicht nur dankbar für das Gebet, sie schien auch liebesdurstig, konnte ihr der wesentlich ältere und nun schon länger gebrechliche Mann in dieser Hinsicht wohl kaum etwas bieten.

Auch Pater Heinrich Holt frönte regelmäßig den fleischlichen Genüssen. Sein Gewissen belastete ihn hierbei wenig. Er ging zu den Pfaffenhuren im Mumenhaus hinter St. Marien in der Halben Monds Gasse. Eigens für die Geistlichen, um sie von anderen Sünden fern und damit im sonstigen Tun anständig zu halten, wurde das Haus eröffnet. Auf Reinlichkeit wurde geachtet, die Frauen verdienten sich damit ihr Geld. Der Mönch fand daran nichts Sündhaftes. Selbst bei der Beichte jeden Freitag im Kapitelsaal gab er seine Schwäche für das weibliche Geschlecht offen zu und erntete kaum Entsetzen. Heute war ein besonders lauer Frühlingsabend. Die Sonne war fast hinter dem Horizont verschwunden und schaffte gerade noch, einen dunkelroten Lichtstreifen hinter die Stadtkrone, den Türmen von St. Marien, St. Severi und St. Peter, zu zaubern. Einige bunt gekleidete Damen mit knallroten Lippen saßen auf einer Bank vor dem Frauenhaus oder standen davor. Er wollte immer zu einer bestimmten. Sie war vielleicht gerade siebzehn Jahre alt, hatte lange blonde Haare, blaue Augen, war ein bisschen füllig mit überdimensionalen Brüsten. Manchmal machte er nicht viel mehr, als sich nur an ihren weichen Körper zu schmiegen. Sie schien ihn schon zu erwarten, denn sie erhob sich von der Bank, als sie ihn nahen sah. »Bruder Heinrich, ich freue mich, Euch zu sehen. Gleich in die Badestube oder wollt Ihr erst essen und trinken?«

»Gehen wir rein. Eine Kleinigkeit essen, dann baden und trinken, anschließend ins Bett wäre heute genau richtig.«

Sie betraten das große Haus, dessen Fensterläden immer geschlossen waren. Drinnen gab es Laternen mit rotem, blauem und grünem Glas. Die Kupplerin stand am Eingang und überprüfte, wer mit wem die Räume betrat, um dann später abzurechnen.

»Wir gehen erst in die Gaststube, dann in den großen Zuber und hinterher ins Zimmer – mit einem Krug Wein, bitte!«

Die Kupplerin nickte zufrieden.

In der Gaststube ging es bereits lustig zu. Er war nicht der einzige Mönch. Ein Karthäuser und ein Dominikaner waren ebenfalls da. Sonst machte er noch einen fremdländischen Händler aus, des Weiteren zwei Auswärtige und drei Hiesige, der eine jung, die zwei anderen älter. Ein Musikant spielte einen schnellen Rhythmus und es wurde gebrüllt, gekreischt und gelacht. Heinrich aß ein schönes Stück Schweineschulter mit gebratenem Kamm. Ihm tropfte das Fett aus den Mundwinkeln, das ihm seine Hure mit der Zunge ableckte. Dann führte sie ihn in den Baderaum, wo diverse größere Wannen nebeneinanderstanden. Sie legten ihre Kleidung ab und stiegen in das lauwarme Wasser, dem nun von einer anderen fast unbekleideten Dame heißes Wasser aus einem Bottich hinzugegossen wurde. Mit dem Waschvorgang begann das Liebesspiel, wobei sich der Mönch nicht nur von seiner Gespielin erregen ließ, sondern auch von dem, was in den anderen Zubern zu erahnen war. Da es nur vier Badebottiche gab, mussten sie dem nächsten Paar Platz machen und begaben sich nun in das kleine Privatzimmer, in dem schon ein Krug Wein wartete. Dort fuhren sie mit Zärtlichkeiten fort, bis der Mönch sich erschöpft ein kurzes Nickerchen erlaubte. Nach zwei Stunden wachte er alleine wieder auf, zog sich an und ging zum Bezahlen.

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