Loe raamatut: «Angel on earth»

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Angel on earth

Alicia Seitz


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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2012

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

Lektorat: Hedda Esselborn

Titelillustrationen: K.-U. Häßler (Weltkugel) & Asmaa Murad (Engel) / fotolia.com lizenziert

ISBN: 978-3-86196-083-6 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-318-7 - E-Book

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Die Autorin

Nachwort

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Kapitel 1

„… und daher verurteile ich dich hiermit nach Himmelsgesetzbuch Seite 843, Paragraf Acht, Absatz Vier auf Bewährung …“, so lautete das Urteil, das mir im Prozess vor dem Oberhimmelsgericht ausgesprochen wurde.

Leider hatte die Staatsanwaltschaft natürlich recht, da hätte ich mir gar keinen Anwalt holen müssen, denn ich wusste, dass ich meine Pflichten vernachlässigt hatte. Trotzdem nützte mir die Einsicht nun auch nichts mehr, denn leider hatte ich genau in dem Augenblick nicht aufgepasst, als es am Gefährlichsten war, sodass sich dieses Unglück ereignen konnte.

Wobei sich über die Größe des Zwischenfalls wirklich streiten ließ. Laut meinen Freunden war es gar nichts, konnte jedem einmal passieren und hätte erst recht nicht vor Gericht gebracht werden müssen. Laut meines Ausbilders, dem Direktor meiner Schule und der Staatsanwaltschaft war es das Schlimmste, was einem Engel, der sich noch in seiner Ausbildung befand, passieren konnte.

Und ich selbst? Ich hatte keine wirkliche Vorstellung davon, wie schwer oder falsch es war, was ich getan hatte. Es war einfach alles ein riesiger Schock gewesen. Ich hatte mich doch wirklich nur kurz ausgeruht, ein kleines Nickerchen gemacht. Und Elsa war sonst noch nie etwas zugestoßen. Jede einzige Minute, die ich sie zum Schützling hatte, hatte ich sie mit Adleraugen beobachtet. Meinen ersten Schützling, die Person, auf die ein Engel sein ganzes Leben lang stolz war. Meine Lehrerin für Geschichte und Engelskunde hätte Stunden damit verbringen können, davon zu erzählen, wie viel Spaß sie doch daran hatte, auf die erste ihr zugeteilte Person aufzupassen, welche verrückten Dinge sie doch angestellt hatte und was das für wilde Jahre auf der Erde gewesen waren, die Siebziger.

Das war der Optimalfall. Ein Mensch mit einem interessanten Leben, ein junger Mensch, unvorsichtig und unerfahren, den Sinn des Lebens suchend. Ein Mensch, der seinen Schutzengel auslastete, der ihm Aufgaben und Schwierigkeiten bot.

Doch mein erster Schützling war davon so weit entfernt, wie es nur ging. Elsa war eine alte Dame, die auf sich allein gestellt in einem Dorf irgendwo in den bayrischen Alpen wohnte, mit sich und ihrem Leben zufrieden war und die das Ruhige und Entspannte liebte. Sie ging nicht einmal in die Stadt, ihre Tochter besuchen, weil sie sich vor den Straßenbahnen fürchtete und ihr die lauten Geräusche Kopfschmerzen bereiteten. Stattdessen saß sie lieber stundenlang auf der Holzbank vor ihrem Häuschen, strickte und lauschte dem Rauschen der Bäume.

Trotz alledem versuchte ich meinen Job wirklich gut zu machen und bewachte die Dame rund um die Uhr. Selbst im Schlaf hatte ich ein Auge auf sie. Doch gerade, als ich mich einmal – an einem der Nachmittage, an denen Elsa wieder einmal seelenruhig auf ihrer Bank saß und an einem Pullover strickte – für fünf Minuten hingelegt hatte, geschah, was ein Engel eigentlich hätte verhindern müssen:

An dem Abend zuvor hatte ein starker Sturm gewütet und vieles verwüstet. Das Haus meines Schützlings war, dank meiner Hilfe, vollkommen unbeschadet davon gekommen. Dummerweise hatte ich dabei nicht an die großen Tannen gedacht, die majestätisch über das Holzhaus hinweg ragten, denn während Elsa dort saß und strickte, krachte plötzlich ein schwerer Ast herunter und traf die alte Dame. Den Rest könnt ihr euch sicherlich denken. Normalerweise wäre ihr Schutzengel, also ich, in einem solchen Fall zur Stelle gewesen, hätte den Ast weggelenkt oder die Dame daran erinnert, dass sie zum Beispiel noch eine Pfanne auf dem Herd stehen hatte, weshalb sie aufgestanden und in ihr Haus gegangen wäre. Doch da ich schlief, konnte ich es nicht.

Ich hatte mich so sehr bemüht, alles richtig zu machen, hatte allen beweisen wollen, dass ich sehr wohl imstande war, Verantwortung zu übernehmen. Wie ich wusste, war es kein Zufall, dass ausgerechnet ich den langweiligsten Schützling hatte, bei dem man wirklich nichts falsch machen konnte. Mir hatte generell niemand zugetraut, es so weit zu schaffen, einmal einen Schützling zu haben. Meine Lehrer hatten mir von Beginn an gesagt, dass sie keine Hoffnung hätten, dass ich meine Ausbildung je schaffen würde. Ich hatte besonders hart gearbeitet und es geschafft, selbst die härtesten Kritiker von mir zu überzeugen, und Elsa war nur noch die Krönung, um endgültig alle Zweifel zu beseitigen. Doch statt dies zu tun, hatte ich alles nur noch schlimmer gemacht.

Und deshalb wurde ich angeklagt und verurteilt. Vielleicht könnt ihr euch nicht vorstellen, was es heißt, auf Bewährung verurteilt zu werden, weil es auf der Erde etwas völlig anderes bedeutet als bei uns. Im Himmel heißt es für Schutzengel so viel wie auf die Erde zu fliegen, dort seinem neuem Schützling zu begegnen und sich seine Probleme sozusagen vor Ort anzuschauen. Er ist getarnt als normaler Mensch und fügt sich einfach in den Alltag ein. Dabei ist dem verurteilten Schutzengel weder bekannt, wer sein neuer Schützling ist, noch, wie und wann er wieder zurück in den Himmel kommen kann. Es ist an ihm, dies herauszufinden, sowie sich in der fremden Welt zurechtzufinden.

Ich persönlich kannte niemanden, der schon einmal auf der Erde gewesen war, und war generell mit niemandem befreundet, der Straftaten begangen hatte. Ich war schon immer diejenige gewesen, der die dummen Zufälle nur so hinterher liefen, als wären sie billige Schmuckimitate und ich ein starker Elektromagnet. In jedes Fettnäpfchen, das es gab, tappte ich hinein, und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis etwas Schreckliches passierte.

„Oh Gott Becca! Ich hab’s von Amelia gehört! Ich will nicht, dass du gehst! Das ist alles so kurzfristig! Wirklich schon morgen? Das ist so schrecklich! Wäre ich der Richter gewesen, ich hätte dich freigesprochen ...“, rief Antonia, als ich zur Tür unseres Lieblingscafés hereingeflogen kam und mich zu meinen Freunden an den Tisch gesellte. Der Schock war ihnen allen ins Gesicht geschrieben.

Meine Mitbewohnerin Amelia, die den Prozess die gesamte Zeit über mitverfolgt hatte und als Zeugin aussagen musste, hatte nach der Urteilsverkündung nicht lange gefackelt und sofort alle meine Freundinnen an unserem Stammtreffpunkt zu einer ordentlichen Verabschiedungsrunde zusammengetrommelt. Es schien für sie alle wirklich sehr überraschend zu kommen, oder sie waren einfach nur wirklich gut darin, zu überspielen, dass sie es sich die ganze Zeit schon gedacht hatten. Sie konnten nicht wirklich geglaubt haben, dass ich ohne Strafe aus der Sache herauskommen würde. So naiv war nicht einmal Antonia.

„Leute, ich will auch nicht weg von hier! Wer weiß, wie lange ich da unten bleiben muss! Ohne euch!“, klagte ich, während ich durch die Karte blätterte, obwohl ich so oder so schon wusste, was ich bestellen würde.

„Und dann auch noch die Erde! Hätten die dich nicht zu gemeinnütziger Arbeit oder so etwas in der Art verdonnern können?! Aber nein! Die Erde! Ich habe gehört, da sind alle komplett durchgedreht, laufen nackt durch die Gegend, essen nur Tiere und bringen sich gegenseitig um! Ich will nicht, dass du dahin gehst!“, sagte Marilla.

Ich musste schmunzeln. Selbst ohne sie zu kennen, hätte man sofort heraushören können, dass sie eindeutig kein Schutzengel war. Es waren viele Gerüchte über die grausamen Menschen im Umlauf – einige waren zu haarsträubend, um sie zu wiederholen – und täglich hörte man neue auf den Straßen. Die Menschen waren das Gesprächsthema Nummer Eins unter Nicht-Schutzengeln, der Mehrheit der Gesellschaft. Eine Schutzengel-Ausbildung war lang und hart, und nicht zuletzt auch teuer. Eltern mussten ihre Kinder dafür schon früh von zu Hause weggeben, um sie in Internaten unterrichten zu lassen. Viele ließen es daher von Anfang an sein und schickten ihre Engelchen stattdessen auf staatliche Schulen, damit sie andere Berufe erlernen konnten.

„Naja, sooo schlimm wird es wohl nicht werden. Aber trotzdem ist das ziemlich blöd gelaufen! Und dass das jetzt alles so schnell gehen muss, hätte ich wirklich nicht gedacht!“ Amelia kannte sich gut mit der Erde aus, war in Erdkunde immer Klassenbeste gewesen und auch sonst glatte Einser-Schülerin, weshalb man dachte, sie mit mir zusammen in ein Zimmer zu stecken, würde einen guten Einfluss auch mich haben. Es lief dann eher andersherum, denn ehe man sich versah, schwänzte sie mit mir den Unterricht, was ihren Noten aber nichts tat.

„Ich weiß!“, stimmt ich zu und steckte die Speisekarte zurück in ihre Halterung. „Ich muss heute Abend noch packen und morgen geht’s gleich nach Sonnenaufgang los!“

„Waaaaaas? Aber dann sehen wir dich ja vor der Abreise gar nicht mehr!“, stellte Tilla erschrocken fest und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie fing sofort an heftig zu schlucken, um nicht gleich in herzzerreißendes Schluchzen auszubrechen.

Ich rückte ein Stück zu ihr und nahm meine Freundin in den Arm. „Hey, ich komm doch wieder! Es wird doch alles wieder so, wie es vorher war, wenn ich wieder da bin!“

„Aber wann?“

Tja, wenn ich das nur gewusst hätte ...

„Hast du auch alles eingepackt?“, fragte Amelia besorgt und sah mit zweifelndem Gesicht auf die kleine Tasche, die ich in den Händen hielt. Sie wünschte mir nun schon zum dritten Mal eine gute Reise, bemitleidete mich sogar schon zum fast 50. Mal. Sie wühlte immer wieder in meinem Kleiderschrank, warf mir Sachen zu, die ich ihrer Meinung nach noch mitnehmen sollte. Ich packte diese sofort wieder aus und warf sie zurück in Richtung meiner Freundin, was sie nicht zu erfreuen schien.

„Ich will doch nur, dass es dir dort unten gut geht!“, sagte sie verzweifelt und kam nun mit einem Stapel Unterwäsche, den sie noch in meiner schon fast platzenden Tasche unterzubringen versuchte. Langsam begann mich ihre Überfürsorge zu nerven. So süß es auch von ihr war, dass sie sich Sorgen machte, und wollte, dass ich meine Zeit auf der Erde gut überstand, so anstrengend war es so oder so schon, sich innerhalb nur eines einzigen Tages auf das Verlassen seiner eigenen Welt für unbestimmte Zeit vorzubereiten. Da brauchte ich nun wirklich nicht auch noch meine Mitbewohnerin, um mir noch zusätzlichen Stress zu machen.

„Wenn ich da bin, kauf ich mir neue Klamotten, damit ich nicht auffalle. Oder denkst du, ich flieg da in meinem weißen Kleid durch die Straßen und die Leute denken, ich wäre eine verfrühte Weihnachtswerbung eines Kaufhauses, oder was?“ Eigentlich hatte ich mir noch gar keine richtigen Gedanken darüber gemacht, wie es dort unten überhaupt ablaufen würde. Ich wusste nicht, wohin ich kommen würde, ich hatte keine Schimmer vom Leben auf der Erde. Durch Elsa hatte ich nichts anderes kennengelernt außer den Bergen und der Einöde, und falls ich nicht durch den allergrößten Zufall in den Alpen landen sollte, war ich aufgeschmissen.

Plötzlich klopfte es an der Tür, und ohne eine Antwort abzuwarten, trat der Schulleiter in den Raum. Wie von selbst verstummte unser Gespräch.

„Hast du schon fertig gepackt, Rebecca?“, fragte er.

„Ja, Herr Rektor, ich bin abreisebereit“, antwortete ich mit zittriger Stimme und schluckte einen dicken Kloß hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Das war der Moment, den ich gefürchtet hatte, von dem ich gewünscht hatte, dass er nie kommen würde, dass sie mich einfach vergessen und mit dem Alltag weitermachen würden. Aber natürlich hatten sie mich nicht vergessen!

„Dann lass uns gehen. Das ist noch eine kleine Starthilfe für dich, damit du dich in der neuen Welt ein bisschen schneller zurechtfindest“, sagte er und drückte mir ein Säckchen aus Samt in die Hand. Als ich es öffnete, sah ich, dass sich Geld darin befand.

„Das sind 500 Euro“, erklärte mir der Direktor, als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, „das ist die Währung in weiten Teilen Europas, umgerechnet etwa 7000 Sterne wert. Es wird nicht die gesamte Zeit deiner Bewährung reichen, wenn du merkst, dass du damit nicht mehr auskommst, wirst du dir eine Arbeitsstelle suchen müssen. Ich habe dir schon einmal eine Auswahl zusammengestellt. Und das hier wirst du sicherlich auch brauchen.“ Er deute auf einen gefalteten Zettel, den er gut sichtbar in die Seitentasche meines Gepäcks gesteckt hatte, daneben steckte ein Fläschchen, das aussah, als wäre einmal Parfüm darin gewesen. „Das ist für deine Flügel“, erklärte er, „damit sie keiner mehr sehen, fühlen, oder irgendwie sonst bemerken kann, wer und was du bist.“

Aha, Europa. Ein Hinweis.

„Danke, aber wie komme ich auf die Erde?“ Dies interessierte mich wirklich, das Einzige, was mich doch ein klein wenig gespannt auf meine Strafe machte. Natürlich hatte ich Filme darüber gesehen, wie ein Schutzengel, der meistens sein Verbrechen nicht selber verschuldet hatte, auf die Erde geschickt wurde. Zumindest den einen, in dem Leonardi Do Kalabrio die Hauptrolle gespielt hatte. Aber da ich wusste, dass man Himmlywood nicht glauben konnte und wahrscheinlich keiner der Regisseure das alles jemals durchgemacht hatte, nützte das herzlich wenig.

„Gut, dass du fragst, das hätte ich doch beinahe vergessen. Auf die Erde kommst du, indem du die Arme kreuzt, die Hände auf die Oberarme des jeweils anderen Arms legst und molitea andilataria sagst.“

„Du schaffst das schon, Becca, ich zähl auf dich, und schreib mir mal“, rief Amelia mir zum Abschied zu. Sie war uns auf dem Hof gefolgt und stand neben mir, ihre Hände in den Taschen ihres Kleides vergraben.

„Machs gut“, sagte ich und musste schlucken, „mach keinen Unsinn, wenn ich weg bin! Ach, was sag ich da, du wirst keinen Unsinn anstellen, ich kenn dich doch. Pass auf dich auf!“

„Ich werde dich vermissen!“, sagte sie traurig und umarmte mich, ließ dabei unbemerkt ein kleines Päckchen in meine Jackentasche sinken, trat dann ein Stück zurück und winkte.

Schließlich sprach ich die Worte aus, die der Direktor mir mit auf den Weg gegeben hatte, und ehe ich mich versah, verschwammen die vertrauten Gesichter der Engel vor meinen Augen. Es wurde sehr dunkel um mich herum. Ich sah bunte Farben, Formen und einen endlos langen Tunnel. Meine Reise kam mir vor, als würde sie eine Ewigkeit dauern ... bis ein kleines Licht am Ende des Tunnels auftauchte. Langsam wurde es größer und verschluckte mich schließlich.

*

Kapitel 2

Mein Kopf tat weh, brummte, als würden Dutzende kleine Bauarbeiter mit Presslufthämmern unermüdlich versuchen, durch meine Schädeldecke zu brechen. Ich spürte den kalten Asphalt unter mir, hörte Stimmen rund um mich herum, etwas, vielleicht auch jemand, rüttelte an meinem Körper. Dann etwas Nasses in meinem Gesicht, was mich schließlich dazu brachte, die Augen zu öffnen.

Und ich schrie. Nicht, weil ich mich bei meiner Ankunft verletzt hatte, nicht, weil ich mich in einer mir völlig fremden Stadt befand, nicht, weil ich von allen Seiten angestarrt wurde. Nein, der Grund, warum ich schrie, war, dass ein junger Mann über mir saß und mich mit einem Becher in der Hand erwartungsvoll, aber mit einem gewissen Hauch von Sorge im Gesicht anstarrte.

Mein Schrei hatte ihn anscheinend ebenso erschreckt wie er mich, denn er wich abrupt zurück und trat dabei noch auf meinen Fuß, was mich gleich noch einmal aufschreien ließ. Als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, richtete ich mich vorsichtig auf und schaute mich um. Ich befand mich mitten in der Fußgängerzone einer gut besuchten Innenstadt. Um mich herum standen viele Leute und redeten wild durcheinander. Als ich mich ein zweites Mal umsah, entdeckte ich einen Mann mit einer Kamera.

„Um Gottes willen, Mädchen! Geht es dir gut?“, fragte der Mann, der eben über mir gekniet hatte nun und beugte sich herunter, um mir zu helfen.

„Sie ist wach, sie ist wach!“, rief ein kleines Mädchen, das direkt neben meinem Kopf saß und mich besorgt anschaute, noch bevor ich wieder auf den Beinen stand. Also bleib ich liegen. So kalt war der Asphalt eigentlich gar nicht, das war wohl nur eine Einbildung gewesen. Nun brannte er sich buchstäblich in meine nackten Beine, ebenso wie die Sonne, die ungehindert vom Himmel auf meinen Kopf schien. Ich blinzelte zur Sonne hoch. Dort oben, hinter den Wolken, befanden sich meine Heimat, meine Freunde, alles, was ich liebte. Das Ende des Horizonts schien so nah, war aber doch so unerreichbar.

„… Ich habe gerade erfahren, dass das Mädchen aufwacht, also würde ich sagen, wir machen gleich weiter mit unseren Augenzeugenberichten, aber vorher muss ich das Mädchen etwas fragen. Kleine, bist du wach?“, sagte eine blonde, aufgetakelte Frau mit einem Mikrofon plötzlich in meine Gedanken hinein.

„J...ja, ich b...bin wach, aber wo bin ich hier …?!“, fragte ich daraufhin. Ich war nun vollkommen verwirrt. Was wollten all diese Leute von mir? Warum hatte der Mann eine Kamera? Was hatte der andere Mann machen wollen? Warum starrten mich alle an?

„Du bist in der Hafenburger Innenstadt auf dem Marienplatz, mein Kind! Aber wichtiger ist erst einmal, wer du bist, woher du kommst und was du hier machst. Du bist nicht wirklich gerade vom Himmel gefallen, wie es diese Menschen behaupten, oder?“

„W...wieso wollen Sie das wissen? Wer sind Sie denn überhaupt?“

„Ich will es wissen, weil ich vom Fernsehen bin. Ich heiße Anna Strandinski und wir sind live auf Sendung“, antwortete die Blonde leicht ungeduldig und lächelte in die Kamera.

„Ähm ... äh ...“, stammelte ich, weil ich wirklich nicht wusste, was ich tun sollte. Meine Ankunft hatte ich mir etwas anders vorgestellt, nicht ganz so öffentlich. Ich meine, das Fernsehen? Hallo? Es mochte daran liegen, dass die einzige Erfahrung, die ich bis jetzt mit Menschen gemacht hatte, irgendwo im Nirgendwo gewesen war. Aber trotzdem. Hatte ich wirklich so viel Aufsehen erregt? Ich konnte noch nicht lange hier liegen, sonst wäre bestimmt schon ein Krankenwagen gekommen. Hatte es so spektakulär ausgesehen, wie ich auf die Erde gekommen war? Ich konnte mich an nichts erinnern, hatte während meiner Reise zwischen den Welten jegliches Zeitgefühl verloren.

„Was ist los? Kannst du dich nicht an deinen eigenen Namen erinnern?“, fragte Anna Strandinski jetzt schon fast gelangweilt klingend. Sie hatte sich das alles hier sicherlich etwas interessanter vorgestellt.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Reden? Nein, das ging nicht! Lügen? Was sollte ich denn sagen? Ich war noch nie eine besonders gute Lügnerin gewesen, also war das wohl auch eine weniger gute Idee. Frau Strandinski hatte sich in der Zwischenzeit schon wieder von mir abgewendet und interviewte einige der Leute, die um mich herum standen.

Klasse, und was hätte sie getan, wenn ich ernsthaft verletzt gewesen wäre? Einige der Gerüchte über die Menschen waren wohl doch wahr. Oder zumindest schienen sie auf einige von ihnen zuzutreffen, denn ich war immer noch von einer Traube Menschen umringt, die nichts anderes taten, als auf mich herunter zu gaffen. Einzig der junge Mann, der mich eben schon mit kaltem Wasser aufgeweckt hatte, schien sich wirklich zu sorgen.

Als er bemerkte, dass es mir sichtlich unangenehm war, von allen Seiten von neugierigen Blicken durchbohrt zu werden, stand er auf, ging auf die Schaulustigen zu und sagte: „Okay, hier gibt’s nichts mehr zu sehen, Leute! Es ist alles in Ordnung, einfach weitergehen!“ Dann wandte er sich an die Fernsehmoderatorin. Ich konnte nicht genau verstehen, was sie sagten, aber nach kurzer Diskussion nahm der Kameramann seine Kamera herunter, klopfte Anna Strandinski auf die Schulter, sagte etwas wie „Du musst ja nicht aus jedem Unfall, an dem wir zufällig vorbeikommen, eine Riesengeschichte machen“, und ging in Richtung eines Vans, der einige Meter weiter geparkt war. Nach kurzem Zögern folgte die Blonde ihm, drehte sich jedoch noch einmal zu uns um und rief: „Ich werde diese Story senden, egal was Sie sagen!“ Dann streckte der Mann mit der Kamera seinen Kopf aus dem Fenster des Wagens, hupte und rief ungeduldig nach der Moderatorin, woraufhin sie sich auf dem Absatz umdrehte und davonstakste.

„Ist alles in Ordnung, ich hab die Gaffer vertrieben. Ein Krankenwagen ist schon auf dem Weg. Aber jetzt mal ganz ehrlich, wo kamst du auf einmal her?“

Ich hörte seine Frage gar nicht mehr richtig, alles, was ich denken konnte, war: Krankenwagen! Also doch! Aber ich konnte doch nicht ins Krankenhaus! Dort würden sie mich nach meinen Personalien fragen, aber diese besaß ich, so komisch es sich auch anhörte, nicht.

„Hallo? Erde an Unbekannte? Kannst du mich verstehen?“

Erde an Unbekannte, das traf es wirklich gut. Was sollte ich denn darauf antworten? Wie redete man denn mit Menschen? Gab es da Unterschiede zu Engeln? Wir hatten das alles in Erdkunde durchgenommen, aber das war nie mein Paradefach gewesen. Und dann war da immer noch das Problem mit dem Krankenwagen! Was würde denn eigentlich passieren, wenn die Menschen herausfänden, dass ich ein Schutzengel war?

Ich schaute mich ein weiteres Mal um. Ich befand mich am Rande eines großen Platzes, auf dem die Menschen in alle Richtungen strömten. Ein paar Meter von meinen Füßen entfernt war eine Haltestelle, eine Bahn war kurz zuvor dort zum Stehen zu kommen. Das war meine Chance: Ich sprang so schnell es ging auf, rief „Sorry!“ in Richtung des Jungen, der mich nur verwirrt anstarrte, aber dann begann, hinter mir herzurennen. Im letzten Moment erreichte ich die Bahn, die Türen schlossen sich hinter mir und sie setzte sich in Bewegung. Als ich einen Blick zurückwarf, sah ich meinen Helfer kopfschüttelnd hinter der Straßenbahn herschauen. Ich hätte mich bei ihm bedanken sollen, aber das Risiko, ins Krankenhaus gebracht zu werden, war zu hoch um es einzugehen.

Nach einer Weile, während der ich mir einen Platz gesucht und mich gesetzt hatte, bemerkte ich, dass mich die anderen Leute in meinem Waggon seltsam anstarrten. Verwirrt schaute ich an mir herunter. Okay, das Kleid war nun nicht die neuste Mode, selbst im Himmel war es das nie gewesen, und die Riemchensandalen waren auch vom letzten Jahr, aber ich hatte Menschen bemerkt, die wesentlich schlechter aussahen und die nicht so extrem angestarrt wurden.

Erst als mich eine ältere Frau aus Versehen anrempelte – ich spürte es, aber es war mir zunächst ein Rätsel, wie sie es geschafft hatte, da ich ja saß – fiel mir auf, dass sie an einem meiner Flügel hängen geblieben war, der etwa einen halben Meter aus der Sitzbank heraus in den Gang ragte. Meine Flügel! Das hatte ich ja komplett vergessen! Kein Wunder, dass mich alle anstarrten. Es sah sicherlich auch sehr seltsam aus, wenn jemand mitten im Hochsommer – es war, laut der Anzeige in der Bahn, August – in einem langen Gewand und gefiederten Flügeln mit der Straßenbahn fuhr.

Ich hatte zwar mitbekommen, dass es auf der Erde durchaus Feste gab, zu denen man sich verkleidete, doch diese zwei waren im Frühling beziehungsweise Herbst. Die meisten schien es jedoch nicht weiter zu stören, dass ich seltsam gekleidet war. Ich hatte an einer Haltestelle eine Gruppe Jugendlicher gesehen, die sich die Haare bunt gefärbt hatten, jedoch komplett schwarze Kleidung trugen. Da war ein Mädchen im Engelskostüm wohl auch nichts wirklich Außergewöhnliches.

Trotzdem stieg ich an der nächsten Station aus und suchte mir auf einer Parkbank, etwas abgelegen von der Innenstadt, ein ruhiges Plätzchen, um schnell meine Flügel verschwinden zu lassen. Nachdem ich sie mit dem Inhalt des Parfümfläschchens besprüht hatte, begannen sie wie verrückt zu kribbeln, gerade so, als würden Tausende von Ameisen darüber laufen. Just als ich dachte, ich hielte es nicht mehr aus, ertönte ein merkwürdiges Geräusch, das sich anhörte wie das Ploppen, wenn man eine Seifenblase mit dem Finger zerstach, und fort waren sie. Es fühlte sich seltsam an, so ganz ohne jegliche Rückenbedeckung – mit Ausnahme des Kleides, das aber dort, wo normalerweise die Flügel herausguckten, einen langen, breiten Schlitz hatte.

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Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
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91 lk 3 illustratsiooni
ISBN:
9783960743187
Õiguste omanik:
Bookwire
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Mustand
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