Loe raamatut: «Die Drachenprinzessin, Band 2», lehekülg 3

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Prinzessin Margarete löste sich aus seiner Umarmung und sah ihn traurig an. Sie weinte nicht mehr, aber ihre Wangen waren noch feucht von ihren Tränen. »Du wirst sterben«, sagte sie schließlich, so ruhig und klar, dass Iain ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. »Ich habe es gesehen«, fuhr sie fort.

Prinzessin Margarete hatte in ihren Träumen schon oft die Zukunft gesehen. Bisher waren es stets gute Träume gewesen, geboren aus ihrem kindlichen Wesen, doch in letzter Zeit schlief sie kaum noch und hielt sich wach, da ihre Träume Grausiges zeigten. Sie hatte bisher mit niemandem darüber gesprochen. Weder über den Wandel ihrer Träume noch über das, was sie ihr zeigten. Doch nun konnte sie es nicht länger zurückhalten. Jetzt, wo der Tag immer näher rückte. Die Hochzeit stand bevor und sie wusste, dass diese Feierlichkeit ihren Bruder töten würde.

Prinzessin Margarete liebte ihre beiden Brüder, hatte beide geliebt. Doch Iain war ihr stets ein Stück näher gewesen als Jock, welcher der Thronfolger gewesen war. Man hatte Großes von ihm erwartet und er hatte versucht, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Da blieb keine Zeit für Späße und Albereien, die aber tief in Margarete verwurzelt waren. Iain hingegen teilte ihre Unbeschwertheit. Er hatte sie zumindest früher geteilt, bis er die Last tragen musste, die vorher auf Jocks Schultern gelegen hatte. Nun war auch er ernst und unnahbar geworden. Und er fehlte ihr so sehr.

Iain hörte ihre Worte, doch er sagte nichts. Was hätte er auch darauf erwidern sollen? Die Nornen hatten bereits vor langer Zeit sein Schicksal bestimmt. Es stand festgeschrieben und was immer er auch tat, er konnte es nicht umkehren. »Ich weiß«, sagte er, gab seiner Schwester einen zarten Kuss auf die Stirn und erhob sich. »Lass uns gehen!« Er hielt ihr seine Hand entgegen.

Margarete blickte auf. Noch immer glitzerten Spuren vergossener Tränen in ihren Augen. Sie schob ihre zarten Finger in seine große starke Hand, die sich schneeweiß von ihrer Bräune abhob. So verließen sie den Burggarten. Keiner sprach mehr ein Wort. Edan folgte ihnen, während sich der Himmel verdunkelte und schwarze Wolken aufzogen.

Im dunklen Turm

Madwegdaw war weit geflogen und das Meer unter ihm schien endlos. Als die Luft immer mehr abkühlte und die Winde so kalt wurden, dass sich Eiskristalle an seinen Wimpern bildeten, ließ er sich etwas absinken. Er flog jetzt ganz dicht über der Wasseroberfläche. Manchmal tauchte er kurz ein und genoss die Kühle des Wassers. Ab und zu schnappte er sich einen Fisch, um sich zu stärken. Die Entfernung zur Insel der freien Drachen verringerte sich. Sie war nah, sehr nah. Er fühlte es. Seit ihm die Elfen das Leben zurückgegeben hatten, das Leben, das er nicht mehr gewollt hatte, hatte er sie gespürt. Es war ein Pulsieren tief in seinen Adern, das ihm den Weg wies. Nie hätte er gedacht, dass er es fühlen würde. Er wusste, dieses Gefühl stellte sich ein, wenn der Mensch starb, mit dem ein Drache verbunden war. Doch er war es gewesen, der das Band getrennt hatte. Freiwillig! Der Weg zur freien Insel war eine Belohnung, die jeder Drache für seine Dienste erhielt. Doch er?

Er hatte so viel Böses getan und er hatte seinen Freund im Stich gelassen. Dennoch erhielt auch er diese Belohnung. Doch auch wenn er den Ruf der Insel spürte, fühlte es sich falsch an. Aber er konnte sich dem Rufen nicht widersetzen. Eine Zeit lang hatte er es versucht, als er im seichten Wasser des Ufers der Elfeninsel gelegen hatte, doch es hatte ihm unendliche Qualen bereitet. Als Aemiliana ihm dann Vergebung gab, wurde sein letzter Widerstand gebrochen und er folgte dem Ruf. Und nun flog er schon seit Tagen immer weiter gen Norden. Bald würde er die Insel erreichen und er hoffte, dass er es dort endlich schaffen würde, sich selbst zu vergeben.

Das Meer wurde wilder und ein Sturm zog auf. Die Wellen schlugen hoch, so dass Madwegdaw weiter aufsteigen musste. Nebelschwaden nahmen ihm nahezu die Sicht. Er sah nichts und flog blind. Doch sein inneres Pulsieren leitete ihn immer weiter durch den Nebel hindurch, bis sich darin schemenhaft eine felsige Küste abzeichnete. Nach und nach lichtete sich der Nebel und die Felsen waren klarer zu erkennen. Eine Insel, ganz aus Stein, bedeckt mit Schnee und Eis, ein karges und graues Ödland kam in Madwegdaws Blickfeld. Kein Ufer war zu sehen, nur eine steile Klippe, an deren Fuß sich die Wellen brachen. Nichts deutete darauf hin, dass es hier Lebewesen gab und auch von den Drachen war nichts zu sehen. Alles, das verriet, dass es sich hier nicht nur um leblosen Fels und Stein handelte, war ein dunkler Turm, der sich oben an die Klippe klammerte. Fast schien es, als wäre er aus dem Fels gewachsen. Unten war er breiter und nach oben hin verjüngte er sich, bis er in vier spitzen, zackigen Enden gipfelte.

Madwegdaw stieg noch höher und flog auf den dunklen Turm zu. Schließlich zog er seine Kreise über der Insel. Und da sah er sie. Sie lagen auf einem Plateau und hatten die Köpfe zum Himmel gerichtet. Drachen, so weit Madwegdaw blicken konnte. Das ganze Plateau war voll von ihnen. Zu Hunderten drängten sie sich dort zusammen. Friedlich!

Langsam ging Madwegdaw tiefer und in die Drachen kam Bewegung. Sie rückten weiter auseinander und machten ihm Platz, damit er landen konnte. Sie hießen ihn willkommen.

Als seine Pranken endlich den schneebedeckten, felsigen Boden berührten, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Sie waren wie er und doch waren sie anders. Sie beäugten ihn freundlich, doch sie näherten sich ihm nicht. Auch von hier war der Dunkle Turm zu sehen, allerdings nur die vier Spitzen, die oberhalb des Plateaus lagen und durch eine Mauer im rechten Winkel miteinander verbunden waren. Ein dunkles Loch klaffte zwischen zwei Türmen in der Mauer. In diesem Loch zeichnete sich eine Gestalt ab, die nun langsam näher kam. Ein Mann bahnte sich seinen Weg durch die Drachen, die ihm bereitwillig Platz machten. Er kam auf Madwegdaw zu. Der Mann ging gebeugt und zog das rechte Bein nach. Sein Gesicht war von Narben zerfurcht und anstelle des linken Auges klaffte ein dunkles Loch, dessen Ränder sich zusammengezogen hatten. Alles in allem bot er einen Anblick, der einen das Fürchten lehren konnte. Doch Madwegdaw fürchtete sich nicht. »Ich bin Carden, Herrscher vom Dunklen Turm, und ich heiße dich willkommen, Madwegdaw«, begann er. »Wir haben dich schon früher erwartet, doch nun bist du da. Du hast ein großes Opfer gebracht, womit deine Taten, die du in Morlas Auftrag begangen hast, getilgt sind. Deshalb hast auch du dir einen Platz auf dieser Insel verdient.«

Carden fühlte, was in Madwegdaw vorging. Er versuchte, ihm seine Last zu nehmen, obwohl er wusste, dass nur Madwegdaw allein das konnte. »Nun suche dir einen Platz unter den deinen und versuche, dir selbst zu vergeben.« Der Mann drehte sich um und ging zurück in Richtung Turm. Madwegdaw blieb mit den anderen Drachen zurück und mit seinem Schmerz, der auch durch Cardens Worte nicht geringer geworden war.

Als Carden zum dunklen Turm zurückging, hatte er seine Schuldigkeit getan. Er hieß jeden heimkehrenden Drachen willkommen, doch er wartete auf einen ganz bestimmten Drachen. Einen, der noch jemanden mitbringen würde. Auch wenn Carden als einziger Mensch auf dieser Insel lebte, so erfuhr er doch, was im Rest von Laingladhdôr geschah. Auch er wusste, dass Aemiliana zurückgekehrt war, und ihm war klar, was dies bedeutete. Für ihn bedeutete. Es wurde Zeit, dass er seine Vorbereitungen traf. Carden kam auf dem felsigen Untergrund nur mühsam voran. Er ging langsam, da sein rechtes Bein schmerzte. Es lag lange Zeit zurück, doch auch er hatte mit Morla eine gemeinsame Geschichte. Er war ein direkter Nachkomme von Gullveig, der Zaubererfrau aus dem Göttergeschlecht der Vanen und einst der mächtigste Zauberer von Laingladhdôr gewesen. Niemand hätte sich ihm in den Weg stellen können. Und niemand tat es. Er war stark und schön anzusehen gewesen. Er hatte um Morla geworben, die ihn betörte und die er begehrte wie kein anderes Weib. So viele hatte sie schon abgewiesen, doch er wähnte sich sicher. Welche Frau könnte ihm schon widerstehen? Und so geschah es, dass Morla sein Werben erhörte und sein Weib wurde. Sie war so jung und wunderschön. Und er so töricht! Er erkannte nicht das Trugbild, mit dem sie ihn täuschte. Denn ihre wahre Gestalt war so hässlich, dass selbst er in seiner jetzigen Gestalt wunderschön dagegen wirken würde. Geblendet von ihrer vorgetäuschten Schönheit, sah er nicht ihr eigentliches Wesen, sah nicht, welches Ziel sie verfolgte. Als sie ihr wahres Gesicht zeigte, verschlug es ihm den Atem. Die wunderschöne Frau, die er geehelicht hatte, war in Wirklichkeit die Tochter von Hel und somit eine direkte Nachfahre von Loki. Ihrer Mutter stand sie in nichts nach. Nicht an Hässlichkeit und nicht an Grausamkeit.

Carden bezahlte einen sehr hohen Preis für seine Oberflächlichkeit und wurde zu dem, was er jetzt war. Ein Monster, von dem man sich in Schauergeschichten erzählte. Nur ein Bruchteil seiner Macht war ihm geblieben, denn Morla hatte ihm alles genommen. Fast alles, denn zum Schutz trug er nie die ganze Macht seines Zaubers in sich. Er hatte einen Teil davon abgespalten und in fünf Steinen gespeichert. Vier bestanden aus schwarzem Obsidian und einer aus rotem Carneol. Dies war alles, was ihm geblieben war, als Morla ihn seiner Kraft und seines Lebens beraubte. Und es war das, was ihn im Leben hielt.

Doch der Tod lässt sich nicht betrügen. So bezahlte Carden mit einem Teil seines körperlichen Seins und wurde das Ungeheuer, das er nun war. Die Menschen aus dem Dorf, in dem er damals lebte, hatten ihn davongejagt. Sie fürchteten sich vor dem, was geschehen war, und vor dem, was noch geschehen könnte, wenn sie ihm erlauben würden zu bleiben. Nur die fünf Steine der Magie hatte Carden retten können. Sonst war ihm nichts geblieben als die Kleider, die er trug. Von dieser Zeit an fristete er sein Dasein in den Wäldern. Bis zu dem Tag, an dem Catríona mit Aemiliana auf der Flucht vor Morlas Schergen war. Er sah, wie die beiden auf Vásíphel trafen und Catríona ihn um Hilfe bat. Doch so mächtig Vásíphel auch war, seine Kraft reichte nicht aus. Deshalb gab Carden seine Kraft aus vier seiner Steine dazu, um Vásíphel zu helfen. Zusammen öffneten sie das Tor und retteten Aemiliana vor Morla. Wenigstens das wollte er tun, um seine Schuld zu begleichen. Denn dass Morla nun so mächtig war, war hauptsächlich seine Schuld.

Doch ganz uneigennützig war seine Hilfe nicht. Er bat die Elfen darum, sich auf die geheime Insel der Drachen zurückziehen zu dürfen. Im Gegenzug dafür wolle er für das Wohl der Drachen sorgen, die dort lebten.

Die Elfen willigten ein, doch Carden verfolgte seine eigenen Ziele. Er kümmerte sich tatsächlich darum, dass es den Drachen an nichts mangelte, aber darüber hinaus schmiedete er Pläne, um sich an Morla zu rächen für das, was sie ihm angetan hatte. Zwar war dank seiner Hilfe Aemiliana entkommen, doch seinen Rachedurst hatte das nicht stillen können. Er zog sich auf diese Insel zurück und nährte sich an der Magie der Drachen. Zu Anfang versuchte er, seine Wunden, innere wie auch äußerliche, durch die gesammelte Magie zu heilen. Doch bald schon merkte er, dass dies zwecklos war. Von da an bündelte er die Magie und lud damit die vier Steine aus schwarzem Obsidian wieder auf. Mit Hilfe der Magie und dem fünften seiner Steine, dem roten Carneol, ließ er den Dunklen Turm aus dem Felsen der Klippe erwachsen. Dabei verschmolzen die vier schwarzen Steine aus Obsidian mit dem Fels, so dass sie die vier Spitzen des Turmes bildeten. Zwischen ihnen bildete sich eine Platte aus Fels, in deren Mitte er den roten Carneol bettete. Damit würde er seine Macht mehren können, bis der Tag der Abrechnung kam.

Und nun stand dieser Tag kurz bevor. Noch musste Carden geduldig warten. Doch nicht mehr lang, dann würde er sich das zurückholen, was ihm gehörte. Mit Aemilianas Hilfe!

Carden ging durch das Tor und den Aufgang zur ersten der vier Turmspitzen hinauf. Oben angekommen wendete er seine Schritte zu der einzigen Seite, die Fensteröffnungen besaß. Zwei Rundbögen zierten die Öffnungen im Stein. Auf dem Platz zwischen den beiden Fenstern war ein Zwerg im Stein abgebildet, der mit den Händen etwas über sich abstützte. Mit Runen stand darüber das Wort »Oster« geschrieben. Eine kleine Weile blieb Carden mit geschlossenen Augen vor den Fenstern stehen. Er tastete mit seinen magischen Fühlern hinaus, ob er ihn spürte. Den einen Drachen, auf den er wartete. Doch nichts. So ging er weiter und wiederholte die Prozedur in jeder der vier Turmspitzen. In jeder gab es zwei Fenster und die gleiche Zeichnung im Stein zierte den Platz dazwischen. Nur durch eine Kleinigkeit unterschieden sich die vier Türme voneinander. Dort, wo im ersten das Wort »Oster« zu lesen war, stand im zweiten »Norder«, im dritten »Vester« und im vierten prangte »Suder« in blassroten Runen im Stein. Ein jeder Turm stand für eine Himmelsrichtung. Die vier Zwerge erinnerten daran, wie die drei Brüder Odin, Vili und Ve nach ihrem Kampf mit dem Reifriesen Ymir aus dessen Schädel den Himmel schufen, den sie über die neu entstandene Welt stellten. Denn an jeder Ecke hatte ein Zwerg gestanden. Sie stützten den Himmel und trugen eben diese Namen. So erzählten es sich die Menschen in Geschichten, die sie von Generation zu Generation weitergaben. Doch Carden wusste, dass es nicht nur Geschichten waren. Er hielt auf diese Weise die Verbindung zu den Göttern aufrecht, um im Fall der Fälle auf ihre Hilfe und Unterstützung hoffen zu können.

Jedes Mal, wenn Carden in einem der Türme haltmachte und seine Fühler magisch ausstreckte, leuchteten die Runen für einen Moment tiefrot auf. Immer wieder tastete er sich vor, doch noch immer spürte er ihn nicht. Daher hieß es für Carden, weiterhin geduldig zu warten.


Die Halle von Wolffshall erstrahlte in festlichem Glanz. Alles war vorbereitet für den großen Tag. Nálani lief durch die Halle und beobachtete das emsige Treiben. Die Tische waren reich geschmückt und auch die Vorbereitungen in der Küche waren in vollem Gang. Ihr Sohn, ihr einzig verbliebener Sohn, würde heiraten und auch wenn die Umstände nicht die besten waren, so sollte es an nichts fehlen. Nálani blickte aus dem Fenster in den Burghof. Dort hatte sie für die Untertanen, die schon seit langem den Schutz von Wolffshall in Anspruch nahmen, ebenfalls Tische und Bänke aufstellen lassen. Auch sie sollten an diesem Fest teilnehmen. Das Gefolge von Morla und ihre Handlanger waren bereits eingetroffen und mit ihnen eine riesige Horde Orluks als Begleitung. Zum Schutz, hatte Morla Nálani wissen lassen. Schutz wovor? Nálani vermutete eine Hinterlist und hatte darauf bestanden, dass die wilden Kreaturen vor dem Burgtor blieben. Sie hatte die Hochzeit zwar als einzig sichere Möglichkeit befürwortet, aber sie traute Morla selbstverständlich nicht und traf ihre Vorkehrungen.

Morla selbst war noch nicht anwesend, ihre Tochter Gale hingegen hatte sie bereits vorausgeschickt. Gale war ein schmächtiges zartes Mädchen von dreizehn Jahren. Das blonde Haar fiel ihr glatt und gezähmt über ihre Schultern bis hinab zur Hüfte. Gezähmt, das schien auch Gale selbst. Nálani versuchte sich vorzustellen, wie es wohl gewesen sein musste, mit einer Mutter wie Morla aufzuwachsen. Ob Gale genauso unnachgiebig und grausam war wie Morla? Oder schlummerte etwas von König Natháirs sanftem Wesen in ihr? Das wollte Nálani herausfinden. So hatte sie sich bereitwillig einverstanden erklärt, Gale für die anstehende Hochzeit vorzubereiten, da ihre Mutter nicht abkömmlich sei und erst später in Wolffshall eintreffen werde. Armes Kind, dachte Nálani, doch sie zwang sich, nicht zu viel Mitleid mit Gale zu haben. Nicht bevor sie wusste, wie es um Gales Wesen bestellt war.

Sie wandte sich vom Fenster ab und ging aus der Halle hinaus zu den Gemächern. Vor Gales Tür blieb sie stehen und klopfte an. Hinter der Tür war es ruhig. Zu ruhig. Nálani fürchtete schon, Gale könnte nicht mehr in ihrem Zimmer sein. Der Gedanke, dass sie sich womöglich frei in Wolffshall bewegte, bereitete ihr Unbehagen. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als sie ein leises Geräusch hinter der Tür vernahm. Leise zarte Schritte näherten sich und mit einem ebenso leisen Knarzen wurde die Tür geöffnet. Gale stand unsicher im Türrahmen und sagte kein Wort, als sie zu Nálani aufschaute, die sie um zwei Köpfe überragte. Nálani glaubte, ein Glitzern in ihren Augen zu sehen. Hatte sie geweint?

»Komm mit, Gale«, sagte Nálani zu dem blonden Mädchen, drehte sich um und ging den Gang entlang zur Treppe, die nach unten führte. Gale schloss ihre Tür und folgte ihr stumm. Es war totenstill. Man hörte nur die Schritte der beiden. Stark und kräftig die von Nálani, zart und unsicher die von Gale. Sie gingen die Treppe hinunter und Nálani führte Gale zum Burggarten. Dort folgten sie den Wegen zwischen den Pfirsichbäumen und Rabatten. Am Brunnen angekommen setzte Nálani sich schließlich auf eine der Steinbänke. »Setz dich zu mir!«, sagte sie, doch Gale stand da und sah sich um.

Mit Erstaunen nahm sie die Pflanzenvielfalt dieses Biotops wahr. Gale hatte bisher nur das Land draußen vor den Toren von Wolffshall gesehen. Schnee und Eis überall. Doch nicht die Tatsache, dass hier Pflanzen gediehen, die sonst nur in warmen Gefilden anzutreffen waren, überraschte sie, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie überhaupt gediehen. Sie hatte auch das Land im Süden gesehen und all die Gegenden auf ihrem Weg hierher. Sie alle starben zusehends. Also warum erblühte und grünte hier alles in voller Pracht? Gale sah Nálani fragend an. »Nicht alles stirbt«, antwortete Nálani auf die unausgesprochene Frage. »Dieser Ort nicht. Hier hat deine Mutter keine Macht.«

Gale öffnete den Mund, doch sie zögerte. Sollte sie dieser Frau, über die sie rein gar nichts wusste, wirklich vertrauen? Vermutlich hasste Nálani sie. Ihr Sohn musste sie zur Frau nehmen, ob er wollte oder nicht. Ihre Mutter war die meist gehasste Frau in Laingladhdôr und die meist gefürchtetste. Das hatte sie schon früh zu spüren bekommen.

Ihre Mutter hatte sie immer abgeschottet, doch eines Tages hatte sie sich nach Wyndham, den Ort am Fuße des Burgberges von Dracobéria davongeschlichen. Sie erinnerte sich noch genau, obwohl es schon eine gefühlte Ewigkeit zurücklag. Sie war zehn Jahre alt und wollte doch nur wie andere Kinder sein. Toben und lachen und mit anderen Kindern spielen. Ein einziges Mal nur. Doch als sie im Ort angekommen war, erkannte man sie sofort. Man mied sie und betrachtete sie argwöhnisch. Selbst die Hunde und Katzen in den Straßen schienen ihr aus dem Weg zu gehen. Auf ihrer Suche nach einem Spielkameraden hatte sie sich in den Gassen verlaufen und war in die übelste Gegend des Dorfes vorgedrungen. Es dunkelte bereits und Schatten zeichneten sich an den Häusern ab. Dunkle Gestalten krochen aus den Gassen hervor und umringten sie. Diebe, Mörder und Vergewaltiger sammelten sich hier in dieser Gegend und scherten sich nicht darum, wer sie war. Gale hatte damals panische Angst, doch sie flehte nicht darum, dass man sie verschonte. Sie stand einfach nur da und hoffte, dass jemand kam und sie rettete.

Als ihre Gegenspieler den Kreis schließlich enger um sie zogen, geschah es. Eine dunkle Gestalt sprang vom Dach eines Hauses mitten in die Menge der Schurken und stellte sich schützend vor sie. Ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren, mit tiefschwarzem lockigem Haar. Er drehte sich kurz zu ihr um und bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick aus seinen dunklen Augen. Noch nie hatte Gale solche Augen gesehen. Sie waren beinahe ebenso schwarz wie sein Haar. Er wirbelte herum. Von rechts nach links und wieder zurück. Die Männer, die sie umringten, merkten kaum, wie ihnen geschah. Am Ende hatte er sie alle in die Flucht geschlagen und wandte sich zum Gehen.

Bevor er in den Schatten verschwand, blickte er noch einmal zurück. »Du solltest nie wieder hierher kommen«, sagte er zu ihr. »Das nächste Mal töten sie dich für das, was du bist. Und nun geh nach Hause!« »Ich kann nicht«, erwiderte Gale, wobei ihr fast die Stimme versagte. »Ich weiß den Weg nicht.« Betreten blickte sie zu Boden. Es war ihr unangenehm, dass man sie hatte retten müssen und dass sie jetzt wieder Hilfe brauchte. Doch am meisten störte sie, dass sie diesen fremden Jungen darum bitten musste. »Komm«, sagte er und war auch schon im Schatten verschwunden.

Gale zögerte. »Nun komm schon«, hörte sie ihn. Also ging sie in die Richtung, aus der sie seine Stimme vernommen hatte. Als sie selbst mit den Schatten verschmolz, nahm sie ihn in der Dunkelheit wahr und folgte ihm. Er führte sie durch die Gassen des Ortes bis fast vor die Burg. »Den Rest musst du allein gehen«, sagte er und bevor Gale etwas erwidern konnte, war er verschwunden.

Sie hatte sich dann zurück in die Burg geschlichen und nur gehofft, dass ihre Mutter nichts bemerkt hatte.

Doch Morla blieb nichts verborgen. Und erst recht nichts, was Gale tat. Diese Lektion hatte sie ebenfalls in dieser Nacht auf eine schmerzhafte Art und Weise lernen müssen, denn ihre Mutter erwartete sie bereits in ihrem Zimmer. Als sie an die Bestrafung dachte, brannte ihre Haut erneut von den Schmerzen, die sie verursacht hatte. Nie wieder hatte sie sich danach davon geschlichen und nie wieder jemandem vertraut. Sie tat nur noch das, was ihre Mutter von ihr verlangte. Aber die Augen ihres Retters verfolgten sie bis heute in ihren Träumen.

Gale straffte den Rücken und sah Nálani fest in die Augen. »Ich bin nicht wie meine Mutter!«, sagte sie nur und ging.

Das wollte ich hören, dachte Nálani und sah ihr lächelnd hinterher.


Vásíphel hatte sich nach dem Gespräch mit Aemiliana in der großen Ahnenhalle von Laeg Eryn auf den Weg nach Wolffshall begeben. Für ihn war es ein Leichtes, dorthin zu gelangen, einem Wimpernschlag gleich. Aemiliana würde selbst auf dem Rücken von Faennarthan länger brauchen als er. So hatte er noch Zeit, um einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen. Sein Ziel war die Quelle der Seelen, zu der er in den vergangenen Jahren so oft gereist war. Als er in dem Buchenhain ankam, empfingen ihn schon die Stimmen im Wind. Sie wisperten und raunten. Vásíphel hörte sie, doch für einen Unwissenden war es nicht mehr als das Rascheln der Blätter.

Er ging zielstrebig zwischen den Bäumen hindurch bis zu einer kleinen Lichtung, an deren Ende sich eine Felsformation befand. Oberhalb davon stand eine riesige Esche. Sie war von stattlichem Wuchs mit einer Krone, deren Ende man nicht mit dem Auge erfassen konnte und mit all den Buchen um sich herum wirkte sie wie ein Irrläufer. Man nannte sie Yggdrasil, den Weltenbaum. An seinem Fuß entsprang eine Quelle aus dem Stein. Der Urdbrunnen. Mit seinem Wasser pflegten die Nornen Yggdrasil, damit ihre Zweige nicht verfaulten.

Das Wasser der Quelle floss die Felsformation hinab und sammelte sich in einem natürlich entstanden Becken. An dieses trat Vásíphel heran. Die drei Nornen Urd, Verdandi und Skuld konnte er nicht sehen, doch er spürte, dass sie da waren. Mit kreisenden Handbewegungen brachte er das Wasser im Becken in Bewegung, ohne es zu berühren und Nebel stieg daraus auf. Wieder erschien ein Bild auf der Wasseroberfläche, als der Nebel sich legte. So oft hatte Vásíphel dieses Bild schon gesehen, doch verstand er es nicht.

Er sah seine Tochter Aemiliana und den Herrscher vom Dunklen Turm, der sich auf der Dracheninsel befand. Sie stand in der Mitte der Plattform, die von den vier Spitzen des dunklen Turms gesäumt wurde. Blitze zuckten überall um sie herum. Und er sah ihn neben ihr stehen, den Herrscher vom Dunklen Turm, mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.

Er hatte darüber nachgedacht, was ihm dieses Bild zeigen wollte und auch seine Schwester Salérimä hatte er danach befragt. Sie kannte die Prophezeiung am besten, doch sie wich ihm stets aus. Er spürte, dass sie mehr wusste, als sie zugab. Und das machte ihm Angst. Wenn sie etwas vor ihm verheimlichte, dann konnte es nichts Gutes sein.

Vásíphel ließ das Bild verblassen und versuchte, seine trüben Gedanken zu vertreiben. Er ging über die Lichtung zurück und nahm anschließend den kleinen Pfad zwischen den Bäumen, der aus dem Hain hinausführte. Dieser Ort war heilig, ein Rückzugsort für jeden. Die einzige Magie, die es hier gab, war die, welche man mit Hilfe der Quelle heraufbeschwören konnte.

Außerhalb des Buchenhains fühlte Vásíphel die Macht seiner ganzen Kräfte und nutze diese nun, um nach Wolffshall zu gelangen.


Auf den Zinnen der Burg standen die Wachen mit ihren Bögen. Nálani hatte alle verfügbaren Männer dort postiert, denn vor den Toren versammelten sich die Orluks, die Morla ihrem Gefolge und ihrer Tochter als Begleitschutz mitgeschickt hatte.

Misstrauisch beobachteten die Bogenschützen, wie vor den Toren Nebel aufzog. War es eine Hinterlist, die Unheil brachte? Sie waren aufmerksam und hielten ihre Bögen gespannt. Als sich der Nebel langsam auflöste, zeichnete sich tatsächlich eine Gestalt darin ab und als er zur Gänze verschwunden war, erkannten sie Vásíphel, den höchsten Elfen des Elfenrates.

Dieser hingegen war nicht überrascht, als er die Überzahl der Orluks vor den Mauern von Wolffshall sah. Er hatte sie gespürt, bevor er sie sah. Und gerochen! Ein Grunzen ging durch die wilde Horde, als sie den Elfen bemerkten, doch keiner näherte sich ihm. Vielleicht aus Furcht, vielleicht aber auch nur, weil sie andere Befehle erhalten hatten.

Vásíphel schritt auf das Tor zu. Ohne, dass er auch nur ein Wort hätte sagen müssen, gewährte man ihm Einlass.

Nálani erwartete ihn bereits im äußeren Burghof. Die Wachen hatten sie sofort über sein Erscheinen informiert. »Sei gegrüßt, Vásíphel«, hieß sie ihn herzlich willkommen. »Was führt dich hierher? Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du zur Hochzeit erscheinst.« »Die Höflichkeit gebietet mir, deinem Sohn alles Gute zu wünschen«, begann Vásíphel. »Doch ich bringe auch frohe Kunde. Aemiliana ist auf dem Weg hierher und wird ihr Schicksal annehmen.«

Nálani überlegte. Sie wog ihr weiteres Vorgehen ab. Sollte das stimmen, müsste Iain nicht mit Morlas Tochter den Bund fürs Leben schließen, sondern könnte seinem Herzen folgen. Doch dann wäre Morlas Reaktion vorhersehbar und diese würde wohl keinem gefallen. Auch wenn Hoffnung in ihr aufkeimte, blieb sie sich ganz und gar der Verpflichtung dem Volk von Lucglénnos gegenüber bewusst. »Die Hochzeitsvorbereitungen sind getroffen«, sagte sie deshalb. »Sollte sie rechtzeitig hier eintreffen, werde ich meine Entscheidung überdenken. Aber bis dahin bleibt alles wie vorbereitet.«

Vásíphel wusste, sie musste so handeln, und nickte nur. »Folge mir«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Ich bringe dich zu deinem Zimmer, falls du dich ausruhen möchtest.« Nálani wusste, dass dies nicht nötig war, denn Elfen erschöpften nie. Doch zu ihren Pflichten gehörte auch dies.

»Erst würde ich gern ein wenig die Ruhe eures Burggartens genießen, wenn du gestattest«, antwortete Vásíphel. Nálani nickte. »Du kennst den Weg?« Sie formulierte dies als Frage, erwartete jedoch keine Antwort. Wann immer Vásíphel in Wolffshall einkehrte, führte ihn sein erster Weg in den Burggarten. Dort blieb er oft mehrere Stunden, bis er schließlich das Zimmer aufsuchte, das Nálani für ihn bereithielt. Vásíphel war ein gern gesehener Gast und er kam häufig nach Wolffshall. Seine Gesellschaft war stets eine Wohltat für Nálani.

Vásíphel nickte Nálani zu. Er lief über den äußeren Burghof durch das Tor, das zur grünen Oase von Wolffshall führte. Er suchte diesen Ort gern auf. Die Pflanzenvielfalt, die hier gedieh, war atemberaubend und die Magie war auch hier allgegenwärtig. Er spürte sie, wenngleich er fühlte, wie seine eigenen Kräfte blockiert wurden. Über ganz Wolffshall lag ein mächtiger Schutzzauber, der gestärkt wurde durch die heiße Quelle des Brunnens, der in der Mitte des Burggartens stand. Das warme Wasser floss das Gebilde aus Eis hinab, aber es schmolz nicht.

Nálani kannte das Geheimnis der magischen Macht und hütete es. Kaum jemand ahnte etwas davon, doch der Elfenrat sah alles und so wusste Vásíphel um die Entstehungsgeschichte der heißen Quelle von Wolffshall. Sie war ein Geschenk, das König Kylion, Nálanis Mann, einst von den Nornen erhalten hatte. Er hatte darum gebeten, um seine Frau glücklich zu sehen. Die Anfangszeit in Wolffshall war schwer für Nálani gewesen, denn ihr Herz war in wärmeren Gefilden zu Hause. So sehr sie König Kylion auch liebte, trauerte doch ein Teil von ihr.

Eines Tages war König Kylion auf der Jagd in den Wäldern um Wolffshall unterwegs. Auf der Suche nach Beute geriet er immer weiter südlich, dorthin, wo die Wälder dichter wuchsen. Er verfolgte die Fährte eines verwundeten Hirsches. Doch als er ihn schließlich stellte, erlegte er ihn nicht. Er fing ihn lebend und nahm ihn mit nach Wolffshall. Dort pflegte ihn Nálani gesund. Was ihn dazu gebracht hatte, dieses Tier zu verschonen, konnte König Kylion nicht genau sagen. Jedoch zeigte sich schon bald, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Denn dieser Hirsch war Durathror, einer der vier Hirsche, die auf der Krone von Yggdrasil weideten.

Eines Tages stieg Durathror hinab, um einer Hirschkuh nachzusteigen, die er vom Blätterdach des Weltenbaums aus erspäht hatte. Doch er unterschätze die Gefahren der Welt, in der die Menschen lebten. So geschah es, dass er, anders als die Hirschkuh, nicht flüchtete, als er auf Menschen traf. Sie jagten ihn und auf seiner wilden Flucht durch die Wälder verletzten sie ihn. Dafür, dass er Durathror verschont und Nálani ihn gesund gepflegt hatte, gestatteten die Nornen König Kylion einen Wunsch. Er wählte ein Stück Heimat für seine Frau. Ein Biotop, in das sie sich zurückziehen konnte, wenn ihr Wolffshall zu eisig erschien und sie etwas Wärme benötigte. So verzweigten die Nornen die magische Quelle des Urdbrunnens und ließen das Wasser in einem unterirdischen Fluss bis nach Wolffshall fließen, wo es dann inmitten des inneren Burghofes von Wolffshall als magische, heiße Quelle entsprang. König Kylion ließ anschließend eine Kuppel darüber errichten, damit die Wärme nicht verloren ging. Es dauerte nicht lange und die ersten Pfirsichbäume wuchsen an diesem magischen Ort, der Nálani stets Zuflucht gewährte, wann immer sie diese brauchte.

Tasuta katkend on lõppenud.