Loe raamatut: «Mitten in Europa»

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Mitten in Europa

Verflechtung und Abgrenzung: Geschichte und Aktualität einer Schweizer Problematik

Europäisierung, Globalisierung und die Verunsicherung der Schweiz

Sackgassen und tote Winkel im nationalen Geschichtsbild

Identitätsbildung und Alteritätserfahrung: die Gründung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert

Verflechtungen in der alten Schweiz

Verflechtung durch Migration

Militärische Arbeitsmigration

Zivile Arbeitsmigration

Kommerzielle Verflechtung

Aussenpolitische und diplomatische Verflechtung

Abgrenzungen in der alten Schweiz

Neutralität als Abgrenzung: vom Gebot der Staatsräson zum Fundament nationaler Identität

Identitätsbildung durch Abgrenzung: «frume, edle puren» gegen den bösen Adel

Bedrohtes eidgenössisches Wesen: die Kritik an Solddienst und «fremden Händeln»

Helvetismus: Abgrenzungen gegen das Ausland und die Entdeckung des Schweizer Nationalcharakters

Zwischen Einbindung und Absonderung: Rollen und Rollenbilder des Kleinstaats im 19. und 20. Jahrhundert

Anders ( und besser): die Erfahrung des Sonderfalls

Anders ( und vorbildlich): die Rechtfertigung des Sonderfalls

Die Aussenbeziehungen einer kleinen, neutralen, besonderen Republik

Wachstum durch Verflechtung: der Kleinstaat als Wirtschaftsmacht

Mitten in Europa: Transnationalität als «condition d’être» der Schweiz

Verflechtung als Überlebensstrategie

Abgrenzung als Identitätsstiftung und Legitimationsstrategie

Was leistet die transnationale Betrachtung der Schweizer Geschichte?

Anmerkungen

Literaturangaben zu den einzelnen Kapiteln

Bibliografie

Abbildungsnachweis und Abkürzungen

Verflechtung und Abgrenzung: Geschichte und Aktualität einer Schweizer Problematik

Europäisierung, Globalisierung und die Verunsicherung der Schweiz

Die Schweiz ist fundamental verunsichert. Die Globalisierung der Wirtschaft und der dynamisch fortschreitende Prozess der europäischen Integration wirken sich massiv auf den Kleinstaat aus und erschüttern das fundament des nationalen Selbstverständnisses. Was lange Zeit als verlässlicher Rahmen schweizerischer Selbstverortung in der Welt galt, ist brüchig oder hinfällig geworden. Die Schweiz sieht sich aufgerüttelt und durchgeschüttelt durch Entwicklungen in Europa und in der Welt, deren Antriebskräfte sich der souveränen Kontrolle des Kleinstaats entziehen.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90 löste sich jene bipolare Mächteordnung auf, die der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg ihren Platz in der Welt der antagonistischen Supermächte zugewiesen hatte. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs zählte sich auch der neutrale Kleinstaat zum westlichen, antikommunistischen Lager. Unter dem Schild der atomaren Abschreckung fand auch er Sicherheit und profitierte von einer Weltlage, in der die Staaten andere Sorgen hatten, als sich um die ungefährliche Schweiz zu kümmern. Doch seit 25 Jahren ist die politische Weltordnung von einer diffusen Multipolarität bestimmt. Neue Bedrohungslagen (Klimaerwärmung, Umwelt- und Naturkatastrophen, Migrationsbewegungen, Terrorismus) stellten sich ein, vor denen die Neutralität keinen Sinn mehr macht.

In den 1950er-Jahren setzte der europäische Integrationsprozess ein. Der supranationale europäische Staatenverbund, dem mittlerweile 28 Staaten angehören, verdichtete sich institutionell. Er koordiniert die Handels-, Wirtschafts- und Steuerpolitik seiner Mitglieder. Mit dem europäischen Binnenmarkt und dessen vier Grundfreiheiten (freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr) schuf die Europäische Union (EU) 1993 den grössten gemeinsamen Markt der Welt. Dieser ist von existenzieller Bedeutung für die Schweizer Volkswirtschaft. Nach der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) durch das Volk 1992 setzte der Bundesrat die seit dem Freihandelsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1972 verfolgte Strategie des Bilateralismus für die Regelung der Beziehungen zur EU fort. Nachdem diese Politik der sektoriellen Verträge auf bilateraler Basis während 20 Jahren als Königsweg der offiziellen Schweizer Europapolitik in mehreren Volksabstimmungen sanktioniert worden war, stellt die Annahme der sogenannten Masseneinwanderungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Februar 2014 die Schweizer Diplomatie und Politik vor die komplexe, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe, die neue Verfassungsbestimmung mit den bestehenden bilateralen Verträgen und der früheren, grundsätzlichen Zustimmung der Schweiz zu den europäischen Grundfreiheiten in Einklang zu bringen. Von der institutionellen Klärung ihres Verhältnisses zur Europäischen Union und damit nicht nur zu ihrem mit Abstand wichtigsten Handelspartner, sondern auch zu ihrem unmittelbaren geopolitischen Umfeld ist die Schweiz im Moment weit entfernt.

Thomas Maissen zu den aktuellen Verstörungen des nationalen Selbstverständnisses (2009)

Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben «etliche frühere Selbstbeschreibungen […] an Erklärungskraft verloren. Gegen welche bösen Mächte soll die Freiheit verteidigt werden, wenn keine Bedrohung durch nahegelegene totalitäre Staaten mehr existiert? Wem gegenüber will man neutral bleiben, wenn die europäischen Völker sich zu einer politischen Gemeinschaft zusammenschliessen? Was macht den Wirtschaftsstandort Schweiz aus, wenn altvertraute Unternehmen ihre Namen anglisieren, ihre Produktion ins Ausland verlagern und ihre Gewinne dort erwirtschaften? Was bleibt von einem dreisprachigen Helvetismus, wenn wir kulturell vor allem durch die Massenmedien der jeweils einen benachbarten Sprachnation geprägt werden? Oder wenn das freundeidgenössische Binnengespräch in der neuen Primarschulsprache Englisch erfolgen muss?»1

Als Exportland ist die Schweiz von der Dynamik der Globalisierung und der Liberalisierung des Welthandels besonders betroffen. Schweizer Traditionsmarken gehen in internationalen Konzernen auf. Die Führer der in der Schweiz beheimateten internationalen Konzerne und Banken tragen englische Funktionsbezeichnungen und werden auf einem globalen Arbeitsmarkt für Topmanager rekrutiert. Sie machen Lohn- und Gratifikationsansprüche geltend, deren unschweizerische Unbescheidenheit zu reden gibt. Produktionsstätten werden in Billiglohnländer verlagert, sodass sich im Inland mehr und mehr eine komplexe Dienstleistungswirtschaft entwickelt, die ihren hohen Bedarf an spezialisierten sowie unqualifizierten Arbeitskräften nur noch durch Zuwanderung zu decken vermag.

Die Globalisierung dynamisiert nicht nur die Warenströme; sie setzt auch Menschen in Bewegung. Ende des 19. Jahrhunderts wanderten Menschen aus Italien erstmals in grösserer Zahl in die Schweiz ein, weil das Land dringend Arbeitskräfte brauchte. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Spanier und Portugiesen, später Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Seit den 1970er-Jahren trafen zunehmend auch Angehörige aussereuropäischer Kulturen und Länder in der Schweiz ein, insbesondere Flüchtlinge und Asylsuchende aus Vietnam, Sri Lanka, dem arabischen Raum und Schwarzafrika. Seit mehr als einem Jahrhundert bildet die gesellschaftliche Integration der zuwandernden Menschen ein zentrales Thema der Schweizer Innenpolitik. Ausdruck tief sitzender Ängste vor den Folgen der Einwanderung waren die Verfassungsinitiativen gegen die sogenannte Überfremdung, gegen den Bau von Minaretten, gegen liberalere Einbürgerungsbestimmungen oder für die Ausschaffung krimineller Ausländer. Nicht von ungefähr klagten diese Initiativen den Vorrang der nationalen Souveränität gegenüber dem Völkerrecht ein. Das internationalisierte Rechtssystem, in das auch die Schweiz aus freiem Entschluss eingebunden ist, nehmen diese politischen Vorstösse als Bedrohung der nationalen Souveränität wahr, die es mit der Ablehnung «fremder Richter» zu retten gelte.

Schliesslich trug auch die Finanz- und Staatsschuldenkrise der letzten Jahre zur Verunsicherung und Verstörung der Schweiz bei. Nachdem die Nachbarn und alten Freunde schon lange argwöhnisch den Abfluss unversteuerter Vermögensbestände ihrer Steuerzahlenden in die Schweiz beobachtet hatten, verständigten sie sich unter dem Druck ihrer enormen Schulden, die wegen der Programme zur Belebung der Konjunktur und zur Rettung grosser Banken noch massiv gestiegen waren, darauf, sich in der «Steueroase» die dringend benötigten, undeklarierten Steuergelder ihrer Bürgerinnen und Bürger zu holen. Lange geduldete Praktiken der Grossbanken im Geschäft mit ausländischen Kundinnen und Kunden wurden nun nicht mehr hingenommen. Dem konzertierten Vorgehen supranationaler Institutionen wie der EU, der OECD oder der G-8-Gruppe sowie dem Druck der USA hatte die politisch isolierte Schweiz wenig entgegenzusetzen, zumal die Bahamas oder die Cayman Islands in dieser Situation nicht wirklich potente Verbündete darstellten. Was die Schweizer Sozialdemokratie in jahrzehntelanger politischer Kärrnerarbeit vergeblich angestrebt hatte – die Aufhebung des Bankgeheimnisses –, bewerkstelligte massiver internationaler Druck in kürzester Zeit, zumal weder die Politik noch die Banken in der Schweiz auf diese Offensive vorbereitet waren.

Viele Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich durch diese Veränderungen in ihrem Nationalstolz empfindlich getroffen, waren sie es doch lange Zeit gewohnt, vom Ausland für den Erfolg ihres Landes bewundert und beneidet zu werden. Hinzu kamen Ereignisse wie der Untergang der Swissair 2001/02 und das Debakel der Grossbank UBS 2008/09, die ihnen umso schlimmer vorkamen, als sie nicht nur den Ruf des Landes weiter beschädigten, sondern im Ausland auch Stoff für hämische Kommentare über die Unbilden des einzelgängerischen Sonderfalls und Musterschülers lieferten.

Der Kleinstaat Schweiz erfährt die Auswirkungen dynamischer ökonomischer und politischer Prozesse besonders drastisch. Dies hat mehrere Gründe: Sein hohes Wohlstandsniveau basiert auf seiner Integration in die europäische und globale Wirtschaft. Aussenpolitisch ist das Land aber zunehmend isoliert. Es besitzt keine starke diplomatisch-aussenpolitische Tradition. Es legt die Neutralität enger aus als andere Neutrale wie Schweden oder Österreich. Es nimmt nicht an den massgeblichen politischen Entscheidungsprozessen in der Europäischen Union teil, sondern betreibt den sogenannten autonomen Nachvollzug des europäischen Rechts – eine Formulierung, die schönfärberisch und entlarvend zugleich nichts anderes als die einseitige, schleichende Erosion nationaler Souveränität ohne entsprechende Mitwirkung umschreibt. Schliesslich gestaltet sich die politische Steuerung des dynamischen Wandels in Europa und in der Welt in der Schweiz besonders schwierig, weil die halbdirekte Demokratie mit Referendum und Initiative dem Volk entscheidende Mitbestimmungsrechte einräumt. Nirgendwo sind Innen- und Aussenpolitik so stark miteinander verzahnt wie in der Schweiz. Das Schweizer Volk beziehungsweise jene Kreise, die sich erfolgreich zu seinem Sprecher machen, schaffen es – anders als das Volk in parlamentarisch-demokratisch verfassten Staaten – verhältnismässig leicht, die Auswirkungen der zunehmenden Verflechtung auf die politische Agenda zu setzen. Die Volksrechte werden seit einiger Zeit besonders von jenen politischen Kreisen genutzt, die mit einer Strategie der Abgrenzung den Herausforderungen des dynamischen Wandels auf supranationaler Ebene begegnen wollen. Integrations- und aussenpolitische Themen sind in den vergangenen Jahren zum Gegenstand eines permanenten Wahlkampfs geworden, der sich potenziell in vier Abstimmungen pro Jahr vollzieht. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) verdankt ihren Aufstieg in den Kreis der wählerstärksten Parteien seit den 1990er-Jahren einer politischen Strategie, die die Ängste der Schweizer Bevölkerung vor einer kulturellen Entfremdung im eigenen Land aufgreift. Dies gelingt ihr, indem sie eine weitergehende Integration der Schweiz in die Europäische Union und eine liberalere Einbürgerung von Ausländern strikt ablehnt; ausserdem fordert sie eine strengere Strafrechtsgesetzgebung und Religionspolitik gegenüber Ausländern und insbesondere Muslimen (Ausschaffungs- und Minarettinitiative), eine Verschärfung der Asylgesetzgebung und kritisiert die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte («Masseneinwanderung»). Sie versteift sich dabei auf vermeintlich sichere Positionen wie die Behauptung der Neutralität und nationalstaatlichen Souveränität, die sie zu zeitlos gültigen staatspolitischen Maximen mythisiert, deren Preisgabe das Ende der Schweiz bedeuten würde.

Diese aktuellen Irritationen nationaler Befindlichkeiten sind zwar der Anlass, aber nicht die tiefere Motivation zu diesem Buch. Diese liegt in wissenschaftlicher Hinsicht vielmehr in der Beobachtung, wie ambivalent, widersprüchlich, mitunter geradezu schizophren das Verhalten des Kleinstaats Schweiz anmutet, der seit je existenziell mit Europa und der Welt verflochten ist und sich gleichzeitig geistig und mental dagegen abgrenzt.

Verflechtung und Abgrenzung sind die beiden Seiten der Medaille «Schweiz». Dieses Spannungsverhältnis in der Beziehung zu Europa und zur Welt bestimmte den Gang der Schweiz durch die Jahrhunderte. Aus der Verflechtung und Abgrenzung zum weiteren Umfeld versicherte sich die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert erstmals ihrer Identität und Eigenständigkeit. Seitdem prägten Partizipation und Abschottung, Einbindung und Einigelung, Integration und Abkapselung in wechselnder Akzentuierung ihre Lebens- und Überlebensstrategien. Diese Wechselbeziehung erklärt letztlich, weshalb die Schweiz die Wendepunkte der Vergangenheit überdauerte und es sie im frühen 21. Jahrhundert überhaupt noch gibt.

Dieses Buch versteht sich – auch – als historischer Kommentar zu den europapolitischen Debatten der Politikerinnen und Politiker, Meinungsmacher und Medien, denen es vielfach an historischer Tiefenschärfe mangelt. Als historische Reflexion dieser Thematik wirft das Buch einen Blick auf die lange Dauer des komplexen Verhältnisses der Schweiz zu ihrem europäischen und globalen Umfeld. Es will die Erfahrungen von früher nicht als Anweisungen für die Gegenwart und Zukunft vergegenwärtigen. Allerdings plädiert es – wie jede historische Darstellung – für eine Betrachtungsweise, die alles Seiende als Gewordenes und damit auch als Vergängliches auffasst. Der historische Blick stiftet Sinn für die Veränderbarkeit der Verhältnisse, er fördert mental und kulturell die Bereitschaft, sich den Herausforderungen des Wandels zu stellen.

Historisches Wissen bedient Orientierungsbedürfnisse. Der Historiker führt dabei das bessere Argument gegen all jene ins Feld, die sich den «Reim auf die Vergangenheit machen, der ihnen passt».2 Er verflüssigt versteinerte Auffassungen, die staatspolitische Maximen wie die der Souveränität oder Neutralität zu unveränderlichen Grössen stilisieren und dabei ausser Acht lassen, dass auch sie erst unter bestimmten historischen Umständen zu Leitvorstellungen wurden und mithin wandelbar sind. Gegen das Verhaftetsein in statischen Geschichtsbildern, die Traditionen nicht als Ergebnis historischer Entwicklungen, sondern als Ausdruck ewiger Wahrheiten auffassen, schärft historisches Wissen den Sinn für die Kräfte der Verflechtung und Abgrenzung, denen der Kleinstaat Schweiz immer ausgesetzt war und die ihn letztlich überhaupt erst möglich gemacht haben. Der Blick auf die «longue durée» macht auf Handlungsmuster und -strategien aufmerksam, die langfristig die «conditions d’être» des Kleinstaats Schweiz in umfassenderen Machtkonstellationen und geopolitischen Zusammenhängen bestimmt haben.

Herbert Lüthy zur Ambivalenz von Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit (1964)

«Es ist gefährlich, wenn Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit, und damit auch Staatsbewusstsein und Staatswirklichkeit, so weit auseinanderrücken, dass wir von uns selbst nur noch in Mythen sprechen können. Wir haben uns eine Denkschablone des Eidgenössischen geschaffen, die weniger dazu dient, unsere Gegenwart zu gestalten, als uns vor ihr in Illusionen über uns selbst zu flüchten.»3

Urs Altermatt zur Notwendigkeit einer neuen Geschichtserzählung (2011)

«Was wir nach den Jahrzehnten der Einigelung brauchen, ist eine neue Lektüre unserer Geschichte, eine – und ich gebrauche bewusst dieses altmodische Wort – patriotische Erzählung, die für alle, die in der Schweiz wohnen, für Alteingesessene und für Zugewanderte, die ‹Idee Schweiz› neu reflektiert und uns diese jenseits von Denkmalpflege und von parteipolitischen Streitereien verständlich macht, eine Geschichtserzählung, die uns nicht von Europa absondert, sondern uns in diesem neuen Europa die Identität eines Mitakteurs gibt, denn es ist auf die Dauer keine Lösung, sich einfach vom europäischen Strom im automatischen Nachvollzug mitreissen zu lassen. Das Schlimmste wäre ein selbstauferlegtes Denkverbot in Bezug auf die Mission der Schweiz in Europa. Über die Schweiz nachdenken, heisst auch Europa mitgestalten.»4

Die in diesem Buch referierten Tatsachen sind bekannt. Neu mag allerdings der Versuch sein, die Geschichte der Schweiz konsequent unter dem Gesichtspunkt ihrer Verflechtung und Abgrenzung zu schreiben und diese gegensätzlichen Einstellungen in ihrem jeweiligen Wechselspiel zu betrachten, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Dazu müssen die Sackgassen und toten Winkel eines nationalen Geschichtsverständnisses gemieden werden, das die Schweiz als ein Land versteht, das sich selbst genügt und seit je tapfer den Zumutungen der bedrohlichen Aussenwelt trotzt. Das Buch setzt deswegen mit einer Kritik des national verengten Geschichtsbildes ein. Diese schliesst auch eine Kritik der beiden populären Gründungserzählungen um das Rütli und um den Bundesbrief von 1291 ein, die beide von der Tatsache ablenken, dass die verbündeten Orte erst im 15. Jahrhundert begannen, sich als Teile eines grösseren Ganzen mit einer unverwechselbaren Identität zu begreifen. Wenn denn von einer eidgenössischen Gründerzeit die Rede sein soll, so trifft dies am ehesten auf das 15. Jahrhundert zu. Im Anschluss an diese Klärung der Ausgangslage macht sich die Darstellung auf den Weg durch die lange Geschichte schweizerischer Verflechtung und Abgrenzung. In zwei eigenständigen Abschnitten, die die alte Eidgenossenschaft sowie die moderne Schweiz des 19. bis frühen 21. Jahrhunderts gesondert betrachten, werden die langfristigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aussenbeziehungen des Landes geschildert. Diese werden den geistigen Abgrenzungsbewegungen gegenübergestellt, die ebenso alt sind wie die Verflechtungszusammenhänge und von den komplexen Bemühungen eines Landes zeugen, in Auseinandersetzung mit dem grösseren geopolitischen Umfeld den eigenen Platz in Europa zu finden, zu behaupten und sich auf diese Weise seiner Identität zu vergewissern. Der Schluss fasst wesentliche Beobachtungen zusammen und verdichtet diese zu einem Plädoyer für eine transnationale Sicht auf die Schweizer Geschichte und damit auf die «condition d’être» eines Kleinstaats mitten in Europa.

Sackgassen und tote Winkel im nationalen Geschichtsbild

Gewöhnlich ist das Verständnis der Schweizer Geschichte in einer nationalen Perspektive gefangen. In einem eigentlichen Tunnelblick sucht dieses Verständnis in der Vergangenheit nach dem langen Weg von der alten Eidgenossenschaft zum Bundesstaat von 1848, der mit seinen drei staatspolitischen Grundpfeilern des Föderalismus, der Souveränität und der Neutralität als Vollendung eidgenössischer Staatsbildung vorgestellt wird. Historische Tatsachen, die sich nicht in dieses Bild der föderalistischen, souveränen und neutralen Schweiz fügen, gehen nicht in die nationale Erinnerungstradition ein.

Föderalismus: Ein hervorragender Erinnerungsort des nationalen Geschichtsbildes ist das Parlamentsgebäude in Bern. In den Arkadenzwickeln des Ständeratssaals finden sich Jahreszahlen, die nach dem Willen des Bauherrn die wichtigsten «politischen, für die staatsrechtliche Ausgestaltung der mittelalterlichen und modernen Schweiz massgebenden Abmachungen» vorstellen sollen.

Neun Jahreszahlen im Ständeratssaal von 1903 symbolisieren die föderalistische Bundesideologie5


Die gerade Linie von den Verträgen des Mittelalters zu den Verfassungen des 19. Jahrhunderts suggeriert, der Wille der Kantone zur Integration neuer Mitgliedstaaten und zum immer engeren staatlichen Zusammenschluss sei die treibende Kraft der Nationalgeschichte gewesen. Sie blendet aus, dass die Erweiterung der 13-örtigen Eidgenossenschaft zur 19-örtigen Eidgenossenschaft (Aufnahme der Kantone St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt 1803) allein der Vermittlung Bonapartes (1769–1821) zu verdanken war und die Aufnahme der Kantone Wallis, Neuenburg und Genf 1814/15 und damit die Bildung der 22-örtigen Eidgenossenschaft erst nach massiven Interventionen der europäischen Grossmächte glückte.

Souveränität: Die Schweizer Historiker des 19. Jahrhunderts richteten ihre Erzählung von der Entstehung der nationalen Souveränität an den Jahreszahlen 1499 und 1648 aus. Sie machten aus dem sogenannten Schwabenkrieg 1499 einen Freiheitskrieg der Eidgenossen, die mit ihrem Sieg faktisch vom Reich unabhängig geworden seien. Quer zu dieser Deutung steht allerdings die Tatsache, dass sich die Kantone auch nach 1499 noch von jedem neuen Kaiser ihre Reichsprivilegien bestätigen liessen, ein letztes Mal von Kaiser Ferdinand I. (1503–1564) im Jahr 1559. Noch wesentlich länger, bis ins 17., teilweise gar 18. Jahrhundert, brachten die eidgenössischen Obrigkeiten den doppelköpfigen Reichsadler an öffentlichen Gebäuden an.

Die Erzählung vom zweistufigen Prozess zur Unabhängigkeit vom Reich sieht im Westfälischen Frieden von 1648 den Durchbruch zur formellen Souveränität der Eidgenossenschaft. Auch sie blendet Tatsachen aus, die nicht recht zum unbedingten Souveränitätswillen der Orte passen: Der eidgenössische Gesandte Johann Rudolf Wettstein (1594-1666) verhandelte in Westfalen zuerst gar nicht um die Loslösung vom Reich, sondern um die Zusage des Kaisers, keine Basler Kaufleute mehr vor Reichsgerichte zu zitieren. Erst der französische Gesandte auf dem Friedenskongress flüsterte Wettstein die Idee ein, er solle um die Souveränität verhandeln. Der Basler Bürgermeister betrieb von nun an die formelle Klärung und völkerrechtliche Absicherung einer faktischen Unabhängigkeit, und dies zunächst gegen den Willen der katholischen Orte, die den uneindeutigen, gewohnheitsrechtlichen Zustand lieber so belassen hätten, als ihn durch unsichere diplomatische Verhandlungen zu gefährden. Frankreichs diplomatische Unterstützung war allerdings nicht uneigennützig. Es band fortan die aus dem Reich ausgeschiedenen Kantone umso enger an sich. König Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715, König ab 1643) mischte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als eigentlicher Protektor über die Eidgenossenschaft wesentlich stärker in die Angelegenheiten der Orte ein, als dies Kaiser und Reich jemals getan hatten.

Neutralität: Die Nationalgeschichte schildert auch die Entstehung dieser zentralen Maxime schweizerischer Aussenpolitik gerne als ein Stück in zwei Akten und hat hierfür die Jahreszahlen 1515 und 1815 ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Sie deutet die Niederlage bei Marignano 1515 als heilsame Lektion, die den Eidgenossen die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt habe. Aus der Einsicht in ihre aussenpolitische Handlungsunfähigkeit hätten diese sich damals aus der europäischen Grossmachtpolitik zurückgezogen. Marignano habe sie zur Vernunft, sprich zur Neutralität gebracht. Doch blendet auch diese Sicht entscheidende Aspekte aus: Gleichzeitig mit ihrem Verzicht auf die Rolle als europäische Grossmacht knüpften die Orte über Soldallianzen engste Beziehungen zu den Grossmächten Europas. 1521 schlossen sie mit Frankreich jenes Bündnis, das bis zur Entlassung der Schweizer Regimenter in französischen Diensten 1792 das Rückgrat der eidgenössischen Aussenbeziehungen bildete. 1815 – 300 Jahre nach Marignano – hätten die Grossmächte auf dem Wiener Kongress, so will es die Meistererzählung zur Neutralität weiter, die ewige, bewaffnete Neutralität der Schweiz auch völkerrechtlich anerkannt. Was gemeinhin als späte Sanktionierung einer alten eidgenössischen Praxis durch den Kongress dargestellt wird, war nüchtern besehen eine massive Einschränkung der aussenpolitischen Souveränität der Schweiz und zugleich die Voraussetzung dafür, dass die Grossmächte die weitere Existenz der Eidgenossenschaft befürworteten.

Den drei nationalgeschichtlichen Erzählungen ist eines gemeinsam: Sie stellen die Geschichte des Föderalismus, der Souveränität und Neutralität der Schweiz als besondere Leistung und alleiniges Verdienst der Eidgenossen dar. Kriegerische Tapferkeit, höhere Einsicht, freiwillige Selbstbeschränkung, der Wille zur nationalen Einigkeit, die Fähigkeit zum Ausgleich und derlei politische Tugenden mehr hätten letztlich zum Erfolg schweizerischer Staatsbildung geführt.

Gegen diese einseitige, allzu selbstgefällige und vielfach schlicht falsche Sicht der Dinge nimmt diese Darstellung eine transnationale Perspektive ein. Sie fokussiert konsequent auf die Verflechtung des Landes mit dessen räumlichem Umfeld und bettet die eidgenössischen Kleinstaaten in grenzüberschreitende Kräftekonstellationen ein. Französische Historiker bezeichnen diesen transnationalen Ansatz als «histoire croisée», die anglo-amerikanischen Kollegen sprechen von «entangled history». Letztlich setzen diese Konzepte eine Binsenwahrheit der Handlungs- und Kommunikationstheorie um, wonach Individuen, Gruppen und grössere Gemeinschaften ihre Identität nicht autonom aus ihrer Selbstrepräsentation heraus entwickeln, sondern dies immer im Austausch mit sowie in Abgrenzung zu Anderen beziehungsweise Anderem tun. Dies gilt auch für Nationen und Staaten, die nicht als isolierte Einheiten existieren, sondern immer in Verflechtungszusammenhängen, die nicht statisch, sondern als dynamische Prozesse in Raum und Zeit zu denken sind.

Die Geschichte der Schweiz als die Geschichte ihrer Beziehungen zu Europa zu betrachten heisst, die isolierte Nabelschau aufzugeben. Die Verflechtungen des Landes und seiner Bewohner mit Europa und der Welt sind nicht als Beziehungen zu einem Äusseren und Fremden zu begreifen, sondern als entscheidender Faktor für die Gestaltung der Verhältnisse im Lande selber, die ohne deren Berücksichtigung unverständlich blieben.

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