Loe raamatut: «Praxis des Bußgeldverfahrens im Kapitalmarktrecht», lehekülg 13

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2. Überwälzung der Adressateneigenschaft, § 9 OWiG

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Nur natürlichen Personen können Ordnungswidrigkeiten vorgeworfen werden. Diese weisen im Regelungsumfeld des Kapitalmarktrechts jedoch nicht die von den Sonderdelikten vorausgesetzte Tätereigenschaft auf. So sind sie keine „Wertpapierdienstleistungsunternehmen“ (§ 63 WpHG; § 2 Abs. 10 WpHG) oder „Inlandsemittenten“ (§ 40 WpHG; § 2 Abs. 14 WpHG). Damit die etwa von § 120 WpHG erfassten Normbefehle nicht leerlaufen, werden die kapitalmarktrechtlichen Handlungsgebote und -verbote des Verbands unter den in § 9 OWiG geregelten Voraussetzungen auf natürliche Personen der Organ- bzw. Leitungsebene „übergewälzt“. Die gem. § 9 OWiG in die Pflicht genommene natürliche Person (zumeist Leitungspersonen) ist – neben dem Vertretenen – sodann Normadressat.

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§ 9 OWiG regelt die Haftung von Vertretern und Beauftragten. Die Rechtsfolge des § 9 OWiG erlaubt es, das besondere persönliche Merkmale des Verbands (z.B. dessen Eigenschaft als Inlandsemittent von Wertpapieren) auf den gesetzlichen Vertreter (Abs. 1), gewillkürten Beauftragten (Abs. 2) oder faktischen Vertreter (Abs. 3) zu übertragen. Die natürliche Person wie der Vorstand wird dadurch zum Adressaten der Bußgeldvorschrift. Der vertretene Verband wird aus seiner Pflichtenstellung durch die Überwälzung nicht entlassen (vgl. „auch“ gem. § 9 Abs. 1 OWiG). Von Bedeutung ist diese Regelung vor allem im Fall der Pflichtendelegation. Delegiert der Vorstand wirksam kapitalmarktrechtliche Pflichten auf Angestellte wie den Abteilungsleiter der Rechtsabteilung (§ 9 Abs. 2 OWiG), bleibt der Vorstand gleichwohl in seiner Pflichtenstellung, wobei sich sein Pflichtenprogramm in Überwachungs- und Kontrollpflichten wandelt.[43]

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Im Kapitalmarktordnungswidrigkeitenrecht kann es bei mehrgliedrigen „Verantwortungsketten“ innerhalb einer Gesellschaft oder bei Zwischenschaltung weiterer Gesellschaften erforderlich sein, die Vorschrift des § 9 OWiG mehrfach anzuwenden.

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Beispiel

Die N Investment Management (UK) Limited (Director ist A) ist beauftragt, für die Konzernmutter N Financial Management Inc. Stimmrechtsmitteilungen abzugeben. Die N Investment Management (UK) Limited ist insoweit Beauftragte gem. § 9 Abs. 2 Nr. 1 OWiG. Da sie als Gesellschaft im Fall eines Verstoßes gegen § 120 Abs. 2 Nr. 2 lit. d WpHG nicht bebußt werden kann, ist § 9 OWiG erneut anzuwenden. A ist als Director der N Investment Management (UK) Limited gem. § 9 Abs. 2 Nr. 1 OWiG Beauftragter, sodass dieser zum Normadressaten des § 120 Abs. 2 Nr. 2 lit. d WpHG wird.[44]

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§ 9 Abs. 1 OWiG regelt die Merkmalsüberwälzung auf den gesetzlichen Vertreter des Verbandes, etwa den Vorstand der Aktiengesellschaft. Dies betrifft jedes Vorstandsmitglied, das zur Tatzeit für die Erfüllung des Handlungsgebots verantwortlich war. Dies kann bei einem Wechsel von Vorständen insbesondere auch frühere Mitglieder des Vorstandes betreffen.

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Ebenfalls von praktischer Bedeutung ist die Merkmalsüberwälzung auf den Beauftragten gem. § 9 Abs. 2 S. 1 OWiG. Er ist gewillkürter Vertreter, der vom Betriebsinhaber gesondert beauftragt wurde, den Betrieb ganz oder teilweise zu leiten oder in eigener Verantwortung Aufgaben zu übernehmen, die dem Betriebsinhaber obliegen. Während § 9 Abs. 2 Nr. 1 OWiG auch eine stillschweigende Beauftragung oder geduldete Wahrnehmung betrieblicher Aufgaben genügt, verlangt § 9 Abs. 2 Nr. 2 OWiG die ausdrückliche Beauftragung. Maßgeblich ist, dass der Beauftragte mit autonomen Entscheidungsbefugnissen bei der Pflichtenerfüllung ausgestattet ist und nicht nur „verlängerter Arm“ des primär Verpflichteten ist. Beispiele aus der Praxis sind der Director eine Limited (UK)[45], der Compliance-Officer oder der Leiter der Rechtsabteilung eines Unternehmens. Beauftragter i.S.d. § 9 Abs. 2 OWiG kann aber auch ein Betriebsfremder sein, beispielsweise ein Rechtsanwalt oder ein sonst mit der Erfüllung kapitalmarktrechtlicher Pflichten beauftragter externer Dienstleister.

III. Die Aufsichtspflichtverletzung als Direktverstoß

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Die im Grundsatz zulässige und im modernen Wirtschaftsleben unverzichtbare Delegation von (bußgeldbewehrten) Pflichten im Unternehmen ist in der Praxis auch in Bezug auf die kapitalmarktrechtlichen (Handlungs-)Pflichten festzustellen. Die Delegation kann etwa bei juristischen Personen innerhalb eines Kollegialorgans auf bestimmt bezeichnete Leitungspersonen (horizontale Delegation) oder auf untergeordnete Personen in der Unternehmenshierarchie sowie externe Unternehmen (vertikale Delegation) erfolgen.[46] Die Delegation bewirkt die Reduzierung der Gesamtverantwortlichkeit des Leitungsorgans und der Verantwortung der einzelnen Gremienmitglieder.[47]

1. Delegationsfähigkeit der Pflicht

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Die Zulässigkeit der Delegation endet dort, wo die Pflichten in den Kernbereich der Geschäftsleitungszuständigkeit fallen. Zentrale Geschäftsleitungsaufgaben können nicht auf untergeordnete Mitarbeiter oder externe Dritte delegiert werden.[48] Die Ad-hoc-Publizitätspflicht wird von der BaFin als zentrale Geschäftsleitungsaufgabe angesehen, sodass jedenfalls eine vertikale Delegation solcher Pflichten in der Bußgeldpraxis ausscheidet.[49] Die horizontale Delegation der Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht wird von der BaFin hingegen nicht beanstandet. Das von Unternehmen eingerichtete Ad-hoc-Gremium wird als zulässig erachtet, solange dort (zumindest) ein Vorstandsmitglied angehörig ist.[50]

2. Überwachungs- und Kontrollpflichten

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Werden delegationsfähige Handlungspflichten im Unternehmen vertikal delegiert, wandelt sich das Pflichtenprogramm des gem. § 9 OWiG verantwortlichen Normadressaten (also i.d.R. des Vorstands). War dieser bislang verpflichtet, beispielsweise die kapitalmarktrechtlichen Melde-, Informations- oder Publizitätspflichten selbst zu veranlassen, ist er nach wirksamer vertikaler Delegation nunmehr verpflichtet, die Erfüllung durch den Delegationsempfänger zu überwachen und zu kontrollieren (Überwachungs- und Kontrollpflichten).[51] Den Vorstand treffen hierbei Auswahl-, Einweisungs- und Überwachungspflichten.[52] Ahndungsbeschränkend ist der Vertrauensgrundsatz und das Prinzip der Arbeitsteilung zu berücksichtigen.[53]

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Verstößt der Vorstand vorwerfbar gegen diese Überwachungs- und Kontrollpflichten, liegt ein Direktverstoß vor, sofern auch die weiteren Voraussetzungen der jeweiligen Bußgeldvorschrift gegeben sind.[54] Der Vorstand wird durch die Pflichtendelegation auf ihm unterstellte Mitarbeiter aus seiner Pflichtenstellung gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG also gerade nicht entlassen. Er bleibt neben dem Delegationsempfänger (unter geändertem Pflichtenprogramm) in bußgeldrechtlicher „Haftung“. Die Ordnungswidrigkeit gem. § 130 OWiG ist demgegenüber subsidiär; der Rückgriff ist zulässig, sofern dem Täter ein Direktverstoß gegen § 120 WpHG nicht vorzuwerfen ist.[55]

3. Sanktionsvoraussetzungen

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Die Anforderungen an die Aufsichtspflichtverletzung als Direktverstoß müssen allerdings im Ergebnis höher sein als bei § 130 OWiG. Dies ist schon wegen dem gegenüber § 130 OWiG ggf. um das Zweifache erhöhten Bußgeldrahmens eines Direktverstoßes geboten.[56]

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In objektiver Hinsicht ist eine (Quasi-)Kausalität zwischen der Überwachungs- und Kontrollpflichtverletzung einerseits und der Nichtvornahme der kapitalmarktrechtlichen Handlungspflicht andererseits zu verlangen. Die BaFin muss nachweisen, dass die übertragene Handlungspflicht bei der gebotenen aber unterlassenen Aufsicht durch den Vorstand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch den Delegationsempfänger vorgenommen worden wäre. Der leichter zu erbringende Nachweis, dass bei Einhaltung der Aufsichtspflichten die Zuwiderhandlung zumindest erschwert worden wäre (Gedanke der Risikoerhöhung), wie es für den Zurechnungszusammenhang gem. § 130 OWiG ausreicht,[57] kann mangels gesetzlicher Anordnung nicht genügen.

In subjektiver Hinsicht folgen die Anforderungen an den Direktverstoß aus der kapitalmarktrechtlichen Bußgeldvorschrift. Setzt die Bußgeldvorschrift – wie in § 120 WpHG zumeist – mindestens Leichtfertigkeit voraus, kann dem Vorstand kein Direktverstoß vorgeworfen werden, wenn er in Bezug auf die Überwachungs- und Kontrollpflichtverletzung allenfalls fahrlässig gehandelt hat.

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Beispiel

Delegiert der Vorstand die Erfüllung seiner Stimmrechtsmeldepflichten nach §§ 33 ff. WpHG vollständig auf einen zu gering qualifizierten, unzureichend eingewiesenen Einzel-Mitarbeiter im Unternehmen, bei dem die Überforderung mit der ihm zugewiesenen Aufgabe augenscheinlich und ggf. bereits dokumentiert ist, wird sich der Vorstand (und damit in extensio die Gesellschaft) bei nachgewiesener Quasi-Kausalität mit einem Direktverstoß konfrontiert sehen. Die (ggf. doppelte) Halbierung des Bußgeldrahmens über § 130 OWiG im Fall eines (nur) fahrlässigen Verhaltens (§ 17 Abs. 2 OWiG) käme ihnen dann nicht zugute. Gleichwohl wird man den Umstand, dass der Vorstand lediglich seine Überwachungs- und Kontrollpflicht verletzt hat, bußgeldmindernd berücksichtigen müssen.

IV. Vorsatz, Leichtfertigkeit und Fahrlässigkeit

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Ordnungswidrigkeiten können im Grundsatz nur vorsätzlich verwirklicht werden, § 10 OWiG. Die Vorwerfbarkeitsform der Fahrlässigkeit, zu der die Leichtfertigkeit gehört, ist gem. § 10 OWiG nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung sanktioniert. Von solchen Anordnungen hat der Gesetzgeber im WpHG umfangreich Gebrauch gemacht. Neben vorsätzlichen Verstößen werden in § 120 WpHG überwiegend leichtfertige (Abs. 2-11; 14-16) sowie fahrlässige Verstöße (Abs. 12 und 13) bebußt. Die Sanktionierung wegen einfacher Fahrlässigkeit lässt der Gesetzgeber im WpHG häufig dort genügen, wo die Missachtung vollziehbarer Anordnungen als Ausdruck bloßen Verwaltungsungehorsams bebußt wird. Abweichend davon lässt der Gesetzgeber bei dem bußgeldbewehrten Verstoß gegen das Zurverfügungstellen von Finanzberichten (§ 120 Abs. 12 Nr. 5 WpHG) indes auch einfache Fahrlässigkeit ausreichen.[58]

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Die Bußgeldvorschriften nach WpHG, WpÜG und WpPG sortiert nach Vorwerfbarkeitsformen:

Abb. 3: Überblick über die Vorwerfbarkeitsformen der § 120 WpHG, § 60 WpÜG, § 24 WpPG


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1. Vorsatz

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Vorsatz ist die Kenntnis der Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, vgl. § 11 Abs. 1 OWiG (Umkehrschluss). Allgemein werden drei Vorsatzformen (bedingter Vorsatz, sicheres Wissen und Absicht) unterschieden.

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Gegenstand des Tatbestandvorsatzes sind gem. § 11 Abs. 1 OWiG die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. Die Tatumstände ergeben sich im Kapitalmarktordnungswidrigkeitenrecht nicht durch schlichte Lektüre der jeweiligen Bußgeldvorschrift. Die Bußgeldvorschriften etwa der § 120 WpHG, § 60 WpÜG und § 24 WpPG sind als Blankettbußgeldgesetze ausgestaltet. Statt beispielsweise die im WpHG an anderer Stelle geregelten Handlungsgebote und -verbote in der Bußgeldvorschrift zu wiederholen, verweist der Gesetzgeber in § 120 WpHG lediglich auf sie. Die Verweisung als Gesetzestechnik dient der Gesetzesvereinfachung bzw. der Flexibilität des Sanktionsschutzes.[59] Keine Auswirkung hat diese Gesetzestechnik nach h.M. auf den Gegenstand des Vorsatzes.[60] Blankettbußgeldgesetze sollen sich vorsatzrechtlich nicht von solchen Bußgeldvorschriften unterscheiden, die das tatbestandliche Unrecht vollständig beschreiben und auf Verweisungen verzichten.[61] Um den gesetzlichen Tatbestand i.S.d. § 11 Abs. 1 S. 1 OWiG überhaupt zunächst herzustellen, muss § 120 WpHG mit den jeweils einschlägigen kapitalmarktrechtlichen Gebots- bzw. Verbotsvorschriften zusammengelesen werden.[62]

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Beispiel (Bußgeldrechtlicher Verstoß eines Inlandemittenten gegen die Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht)

Die Sanktionsvorschrift folgt aus § 120 Abs. 15 Nr. 6 WpHG. Die Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht ist in Art. 17 MAR geregelt. Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Definitionsmerkmale lautet der gesetzliche Tatbestand i.S.d. § 11 OWiG bei einem Verstoß gem. §§ 120 Abs. 15 Nr. 6 i.V.m. Art. 17 MAR daher verkürzt:

Wer vorsätzlich als (1.) Emittent von Finanzinstrumenten[63] (2.) nicht öffentlich bekannte (3.) präzise Informationen (d.h. gem. Art. 7 Abs. 2 S. 1 MAR solche Umstände, die bereits gegeben sind oder bei denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie in Zukunft gegeben sein werden, oder Ereignisse, die bereits eingetreten sind oder von denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie in Zukunft eintreten werden, und die spezifisch genug sind, um einen Schluss auf ihre mögliche Auswirkung auf die Kurse der Finanzinstrumente zuzulassen), die diesen Emittenten (4.) unmittelbar betreffen und (5.) die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen (d.h. die gem. Art. 7 Abs. 4 S. 1 MAR ein verständiger Anleger wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidung nutzen würde), (6.) nicht unverzüglich veröffentlicht, handelt ordnungswidrig.

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Kennt der Betroffene im Beispielsfall die unter Ziffer (1.) bis (6.) herausgestellten Umstände, handelt er vorsätzlich (sog. Umstandskenntnis). Wegen der im Ordnungswidrigkeitenrecht geltenden Schuldtheorie (vgl. § 11 Abs. 2 OWiG) ist die zusätzliche Kenntnis des Täters, gegen die kapitalmarktrechtliche Handlungspflicht – hier: die Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht – zu verstoßen (sog. Bedeutungskenntnis), nach noch h.M. nicht verlangt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Begehungs- oder Unterlassungsdelikt handelt.[64]

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Die Rechtsprechung teilt diese Sichtweise nur in Bezug auf Begehungs- und unechten Unterlassungsdelikten.[65] Bei echten Unterlassungsdelikten, die in der Bußgeldpraxis der BaFin von maßgeblicher Bedeutung sind, stellt sie hingegen erhöhte Anforderungen an den Vorsatz. In einem Fall, in dem der Täter über die gem. § 6 des Gesetzes über die Sicherung von Bauforderungen (GSB) strafbewehrte Pflicht irrte, ein Baubuch führen zu müssen, hat der 3. Strafsenat des BGH den Irrtum als Tatumstandsirrtum eingeordnet.[66] Zwar sei die aus dem Gebotstatbestand folgende Handlungspflicht als solche kein Tatumstand, auf den sich der Vorsatz erstrecken müsse. Wem indes die Möglichkeit nicht bewusst sei, die normgemäße Handlung überhaupt vornehmen zu können, handele nicht vorsätzlich.[67] Diese Rechtsprechung ist auf die echten Unterlassungsdelikte im Kapitalmarktrecht, z.B. bei einem Verstoß eines Inlandemittenten gegen die Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht (siehe Beispiel), anwendbar. Im obigen Beispiel müsste die BaFin folglich neben der Kenntnis der benannten Umstände zusätzlich feststellen, ob der Betroffene die Möglichkeit erkannt hatte, eine Ad-hoc-Veröffentlichung vorzunehmen.

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Die Rechtsprechung dürfte allerdings zumeist nur bei branchenfremden Tätern mit entsprechender Fehlvorstellung zum Tatumstandsirrtum gem. § 11 Abs. 1 OWiG führen.[68] Im Regelungsumfeld des WpHG sind die Normadressaten in der Regel fachkundige Personen, denen eine Einlassung, sie hätten trotz objektiver Einschlägigkeit der jeweiligen Handlungspflicht nach WpHG diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen, vielfach als Schutzbehauptung zu widerlegen sein dürfte.[69] Anders mag das z.B. bei einem nicht sachkundigen Erben eines beträchtlichen Aktienvermögens sein, dem die Behauptung, ihm sei die Möglichkeit einer Mitteilungspflicht gem. § 33 WpHG nicht bewusst gewesen, nicht ohne Weiteres zu widerlegen sein wird.[70]

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Tab. 4: Vorsatzanforderungen im Überblick am Beispiel eines echten Unterlassungsdelikts
Tatsituation Beispiel Rechtsfolge
Täter kennt alle Tatumstände und seine Handlungspflicht. Vorstand weiß von der Schwellenüberschreitung i.S.d. § 33 WpHG und kennt die Pflicht zur Abgabe der Stimmrechtsmitteilungen. Bebußung als Vorsatztat.
Täter kennt einen Tatumstand nicht. Vorstand weiß nichts von der Schwellenüberschreitung i.S.d. § 33 WpHG. Keine Bebußung als Vorsatztat; Bebußung als Fahrlässigkeitstat möglich.
Vorstand weiß von der Schwellenüberschreitung i.S.d. § 33 WpHG, aber geht in Folge eines Rechtsirrtums irrig davon aus, keine Meldung abgeben zu müssen. → Rechtsirrtum war vermeidbar. Bebußung als Vorsatztat, aber Bußgeldminderung wegen vermeidbarem Verbotsirrtum (je nach Grad der Vermeidbarkeit).
Täter kennt alle Tatumstände, aber verkennt seine Pflicht zu Handeln; 2. Variante: Irrtum über die Handlungspflicht war unvermeidbar. Vorstand weiß von der Schwellenüberschreitung i.S.d. § 33 WpHG, aber geht in Folge eines Rechtsirrtums irrig davon aus, keine Meldung abgeben zu müssen. → Rechtsirrtum war unvermeidbar (z.B. Rechtslage war unklar und Täter hat durch Einholung von qualifiziertem Rechtsrat versucht, ein Handlungsgebot zu erkennen). Keine Bebußung als Vorsatztat; er handelt nicht vorwerfbar (§ 11 Abs. 2 OWiG). Daher entfällt auch die Bebußung wegen Fahrlässigkeit.

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Sofern in § 120 WpHG Verstöße gegen vollziehbare Anordnungen bebußt werden (z.B. § 120 Abs. 12 Nr. 1 lit. a WpHG), setzt der Vorsatz die Kenntnis des Täters von der Existenz der vollziehbaren Anordnung voraus.[72] Denn für Straf- oder Bußgeldvorschriften, die den Verstoß gegen eine behördliche Einzelanordnung regeln, gilt, dass deren Existenz vom Vorsatz umfasst sein muss und somit ein Irrtum hierüber § 11 Abs. 1 OWiG unterfällt.[73] Der Gesetzgeber flankiert den Sanktionsschutz an dieser Stelle mit der Vorwerfbarkeitsform der einfachen Fahrlässigkeit, sodass schon die einfach-fahrlässige Unkenntnis der vollziehbaren Anordnung zur Bebußung führen kann.

2. Fahrlässigkeit und Leichtfertigkeit

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Zumeist setzen die Ordnungswidrigkeiten im WpHG, WpPG, WpÜG und VermAnlG Vorsatz oder Leichtfertigkeit voraus. Im WpHG greift lediglich bei den Ordnungswidrigkeiten gem. § 120 Abs. 12 und Abs. 13 WpHG die bußgeldrechtliche Sanktionierung schon bei einfacher Fahrlässigkeit. Auch die Aufsichtspflichtverletzung gem. § 130 OWiG lässt neben Vorsatz einfache Fahrlässigkeit genügen.

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Fahrlässigkeit meint in objektiver Hinsicht die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt.[74] Zusätzlich ist der Fahrlässigkeitsvorwurf im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht von einem subjektiven Element geprägt, wonach der Täter nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage gewesen sein muss, die Sorgfaltspflicht zu erfüllen und die Tatbestandsverwirklichung vorauszusehen.[75] Leichtfertigkeit beschreibt demgegenüber einen besonders gesteigerten Grad der Fahrlässigkeit.[76] Für die Annahme von Leichtfertigkeit genügt in der Bußgeldpraxis der Wertpapieraufsicht – im Einklang mit dem überwiegenden Verständnis in Rechtsprechung und Literatur[77] – die Feststellung, dass jemand grob achtlos gehandelt und nicht beachtet hat, was sich ihm unter den Voraussetzungen seiner Fähigkeiten und Erkenntnisse hätte aufdrängen müssen.[78]

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Näherer Erörterung bedarf die Frage, was Bezugspunkt des Fahrlässigkeits- bzw. Leichtfertigkeitsvorwurfs ist. Raum für den Fahrlässigkeits- und Leichtfertigkeitsvorwurf verbleibt nur dort, wo der Täter vorsatzlos handelt. Das ist gem. § 11 Abs. 1 S. 1 OWiG der Fall, wenn er einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Gemäß § 11 Abs. 1 S. 2 OWiG bleibt die Möglichkeit der Ahndung wegen fahrlässigen Handelns davon unberührt. Daraus folgt: Der Fahrlässigkeits- bzw. Leichtfertigkeitsvorwurf des § 120 WpHG und sonstiger Bußgeldvorschriften nach WpPG, WpÜG und VermAnlG bezieht sich im Grundsatz auf die sorgfaltswidrige Unkenntnis von Tatumständen (Tatfahrlässigkeit).[79] Nach h.M. ist bei Blankettgesetzen wie § 120 WpHG der Verstoß gegen die Verhaltenspflicht kein Tatumstand gem. § 11 Abs. 1 OWiG.[80] Der Täter, der in fahrlässiger Unkenntnis der einschlägigen Rechtspflicht bei im Übrigen voller Sachverhaltskenntnis eine Ordnungswidrigkeit gem. § 120 WpHG begeht, handelt also vorsätzlich. Die Möglichkeit für einen Fahrlässigkeits- bzw. Leichtfertigkeitsvorwurf nach § 120 WpHG verbleibt hier nicht. Ob dem Betroffenen dessen fahrlässige Rechtsunkenntnis (Rechtsfahrlässigkeit) vorgeworfen werden kann, ist Gegenstand der Prüfung der Vermeidbarkeit des einschlägigen Verbotsirrtums gem. § 11 Abs. 2 OWiG.

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Beispiel

Beamte der BaFin begehren gem. § 6 Abs. 11 S. 1 WpHG zu den üblichen Geschäftszeiten Einlass in die Geschäftsräume der N-AG. Mitarbeiter A verhindert den Zutritt in der irrigen Annahme, dass die Beamten der BaFin kein Zutrittsrecht hätten. A handelt vorsätzlich, denn er kennt die Umstände, die den Verstoß gem. § 120 Abs. 12 Nr. 2 WpHG begründen. Seine (fahrlässige) Unkenntnis, dass Beamte der BaFin gem. § 6 Abs. 11 S. 1 WpHG ein Betretungsrecht haben, begründet einen Fall von Rechtsfahrlässigkeit und ist bei der Prüfung der Vermeidbarkeit des einschlägigen Verbotsirrtums gem. § 11 Abs. 2 OWiG von Bedeutung. Ein Fall von Tatfahrlässigkeit läge demgegenüber vor, wenn A sorgfaltswidrig verkannt hätte, dass die – Einlass begehrenden – Personen überhaupt Beamte der BaFin sind.[81]

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Auch der Leichtfertigkeitsvorwurf des § 120 WpHG bezieht sich auf die vorwerfbare Verkennung von Tatumständen.

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Beispiel

Der bei dem Emittenten E für die Erfüllung der Veröffentlichungspflichten (§ 40 WpHG) allein verantwortliche Mitarbeiter M kontrolliert das zu diesem Zweck bereitgestellte Faxgerät zwei Wochen lang nicht auf eingegangene Mitteilungen nach §§ 33 ff. WpHG. Deshalb nimmt er die Mitteilung des Investors I über eine Meldeschwellenüberschreitung an E erst deutlich verspätet zur Kenntnis und veranlasst daher die Veröffentlichung nach § 40 Abs. 1 S. 1 WpHG nicht rechtzeitig. M hat grob achtlos gehandelt, indem er trotz seiner Alleinverantwortlichkeit über einen längeren Zeitraum den Eingang von Mitteilungen nicht kontrolliert hat, obwohl es sich ihm hätte aufdrängen müssen, dass jederzeit Meldungen eingehen könnten. Deshalb wird ihm ein leichtfertiger Verstoß (§ 120 Abs. 2 Nr. 4 lit. a WpHG i.V.m. § 9 Abs. 2 OWiG) vorzuwerfen sein.

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Die Tatumstände gem. § 11 Abs. 1 OWiG können tatsächlicher sowie rechtlicher Art sein.[82] Irrt der Täter über einen rechtlichen Umstand („Rechtstatsache“), der zum gesetzlichen Tatbestand gem. § 11 Abs. 2 OWiG gehört, handelt er vorsatzlos. Hier wird sich der Fahrlässigkeits- und Leichtfertigkeitsvorwurf des § 120 WpHG auf die sorgfaltswidrige Unkenntnis dieses Umstands erstrecken. In dieser Fallkonstellation führt die fahrlässige Rechtsunkenntnis folglich schon zum Tatumstandsirrtum gem. § 11 Abs. 1 OWiG. Bezogen auf den anzuwendenden Sorgfaltsmaßstab wird im Kapitalmarktordnungswidrigkeitenrecht weithin angenommen, dass die Normadressaten etwa des WpHG, WpÜG, WpPG oder VermAnlG ihre gesetzlichen Pflichten kennen und in Zweifelsfällen Rechtsrat einholen müssen, sodass Leichtfertigkeit in solchen Irrtumskonstellationen als naheliegend betrachtet wird.[83] Je eindeutiger – und damit erkennbarer – die Rechtslage ist, desto gewichtiger wird das Maß der Sorgfaltswidrigkeit im Fall des Unterlassens der gebotenen Handlung sein.[84]

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Beispiel

Der Vorstand verkennt, dass ein bestimmtes Ereignis eine Insiderinformation darstellt. Ordnet man das Merkmal – entgegen hiesiger Ansicht[85] – als normatives Tatbestandsmerkmal und damit als einen (rechtlichen) Umstand i.S.d. § 11 Abs. 1 OWiG ein, führt dessen Unkenntnis zum Vorsatzausschluss. Leichtfertig gem. § 120 Abs. 15 Nr. 6 WpHG hätte der Vorstand gehandelt, wenn er grob achtlos die Rechtslage verkannt und deshalb das Ereignis nicht als Insiderinformation eingeordnet hätte, obwohl es sich ihm hätte aufdrängen müssen. Diese „Schwelle“ wird bei einem Vorstand, von dem die Vertrautheit mit den kapitalmarktrechtlichen Handlungspflichten erwartet wird, vielfach schnell erreicht sein.

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Bei der Bußgeldvorschrift des § 130 OWiG ist der Irrtum über die Aufsichtspflichtverletzung ebenfalls Tatumstandsirrtum. Gegenstand des Fahrlässigkeitsvorwurf des § 130 OWiG kann folglich neben der vorwerfbaren Sachverhaltsunkenntnis auch die pflichtwidrige Unkenntnis der gebotenen Sorgfaltspflichten sein.[86]