Loe raamatut: «Praxis des Bußgeldverfahrens im Kapitalmarktrecht», lehekülg 8

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III. Akteneinsichtsrecht

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Das Akteneinsichtsrecht ist im Bußgeldverfahren weitreichender als im Aufsichtsverfahren. Im Aufsichtsverfahren darf das Einsichtsrecht gem. § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG nur auf die Aktenbestandteile erstreckt werden, deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung rechtlicher Interessen erforderlich sind. Um die Beschränkungen des Akteneinsichtsrechts im Aufsichtsverfahren nicht zu unterlaufen, werden die Vorgänge im Aufsichts- und Bußgeldverfahren daher getrennt veraktet.

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Das Einsichtsrecht im Bußgeldverfahren ist umfassend: Was für das (Bußgeld-) Verfahren geschaffen worden ist, darf der Akteneinsicht nicht entzogen werden.[180] In der Bußgeldakte der BaFin werden sich Kopien aus dem Aufsichtsverfahren befinden, soweit diese für das Bußgeldverfahren von Bedeutung sind.

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Unter Akten i.S.d. § 49 Abs. 1 OWiG sind die Bußgeldakte der BaFin sowie etwaige Bei- und Spurenakten zu verstehen.[181] Auch umfasst davon ist das Recht, sichergestellte oder beschlagnahmte Beweismittel zu besichtigen.[182]

1. Betroffener

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Der Betroffene hat in jeder Lage des Verfahrens Anspruch auf Akteneinsicht gem. § 49 Abs. 1 OWiG. Die Akteneinsicht ist gem. § 49 Abs. 1 S. 1 OWiG abzulehnen, soweit der Untersuchungszweck gefährdet werden kann oder wenn überwiegend schutzwürdige Interessen anderer (z.B. des Mitbetroffenen) entgegenstehen.

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Das „Wie“ der Akteneinsicht ist in § 110c S. 1 OWiG i.V.m. § 32f StPO und § 49 Abs. 1 S. 2 OWiG geregelt:


- Einsicht in die Akten, die – wie bei der BaFin jedenfalls noch die Regel – in Papierform vorliegen, wird im Grundsatz in den Diensträumen gewährt, § 32f Abs. 2 S. 1 StPO.
- Daneben kann die Akteneinsicht, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellen des Inhalts der Akten zum Abruf oder durch Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme gewährt werden, § 32f Abs. 2 S. 2 StPO.
-

2. Verteidiger

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Der Verteidiger des Betroffenen hat ein eigenständiges Akteneinsichtsrecht nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m § 147 StPO. Stehen keine wichtigen Gründe entgegen, werden dem Verteidiger auf dessen Antrag[185] die Akten gem. § 110c OWiG i.V.m. § 32f Abs. 2 S. 3 StPO zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben. Das „Wie“ der Akteneinsicht steht nach der gesetzlichen Konzeption des § 32f StPO im Ermessen der BaFin. Der Verteidiger hat insoweit keinen Anspruch auf Aktenaushändigung zur Mitnahme in das Büro bzw. die Wohnung.[186] Gleichwohl entspricht es (zumindest staatsanwaltlicher) Praxis, bei Nichtvorliegen wichtiger Gründe dem Übersendungsgesuch der Originalakte selbstverständlich stattzugeben.[187] Es ist im Kapitalmarktordnungswidrigkeitenrecht nicht opportun von dieser bewährten Praxis abzuweichen und lediglich eine Aktenkopie an den Verteidiger zu übersenden, zumal der Verwaltungs- und Kostenaufwand für die BaFin im Ergebnis nicht geringer sein dürfte.[188]

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Die Aktenversendungspauschale i.H.v. 12 € folgt aus § 107 Abs. 5 S. 1 OWiG und ist von demjenigen zu tragen, der die Akteneinsicht beantragt hat, in der Regel also von dem Verteidiger.[189]

D. Verfahrensrechte der Nebenbeteiligten im Ermittlungsverfahren

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Die strafprozessualen Befugnisse der nebenbeteiligten Gesellschaft werden von den vertretungsberechtigten Organen ausgeübt.

I. Vorbemerkungen

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Der Gesetzgeber hat die Verfahrensstellung der Gesellschaft bei der Festsetzung einer Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 444 StPO; § 88 OWiG) der einer Einziehungsbeteiligten (§ 87 OWiG) weitgehend gleichgestellt. Durch Verweistechnik nimmt er in § 88 Abs. 3 OWiG (sowie in § 88 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 444, 428 Abs. 2 StPO) Bezug auf die Vorschriften des Einziehungsverfahrens. In den Verfahren werden allerdings unterschiedliche Ziele verfolgt: während mit der Beteiligung der Gesellschaft im Einziehungsverfahren in der Regel kein Vorwurf an diese verbunden ist, wird mit der Verbandsgeldbuße eine Sanktion sui generis gegen die Gesellschaft verhängt.[190] Die Verfahrensstellung der Gesellschaft bei der Festsetzung einer Verbandsgeldbuße ist – anders als im Einziehungsverfahren – beschuldigtenähnlich,[191] was durch die Verweistechnik de lege lata nur unzureichend berücksichtigt wird. So weist das Gesetz dem von der Verbandsgeldbuße bedrohten Unternehmen im Bußgeldverfahren gem. § 88 Abs. 3 i.V.m. § 87 Abs. 2 S. 1 OWiG erst ab Erlass des Bußgeldbescheids die Rechte eines Betroffenen zu.

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Die Verfahrensstellung der Gesellschaft bei der Festsetzung der Verbandsgeldbuße ist im Ermittlungsverfahren infolge der Gleichstellung nur lückenhaft geregelt.[192] Erfolgt die Anordnung der Verfahrensbeteiligung im Ermittlungsverfahren, stehen der Gesellschaft bei der Anhörung nach h.Lit. gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 444 Abs. 2, 426 Abs. 2 StPO die Verfahrensrechte im Zusammenhang mit der Vernehmung (also §§ 163a, 136 Abs. 1 S. 2 und 5 StPO, § 148 StPO) zu.[193] Unabhängig davon wird der Nebenbeteiligten inzwischen auch von der Rechtsprechung eine beschuldigtenähnliche Stellung im Ermittlungsverfahren zugeschrieben.[194] Uneinigkeit herrscht über den Zeitpunkt, ab dem der Nebenbeteiligten die beschuldigtenähnlichen Rechte im Ermittlungsverfahren zu gewähren sind.[195] Nicht problematisiert wird demgegenüber, in welchem Umfang sich die Nebenbeteiligte im Ermittlungsverfahren über die o.g. Verfahrensrechte hinaus auf die Betroffenenrechte berufen können soll. Das Problem stellt sich bei der Frage, ob der Nebenbeteiligten im Ermittlungsverfahren ein eigenständiges Akteneinsichtsrecht zusteht.[196]

II. Schweigerecht

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Wie dargelegt, kommt der Gesellschaft als Nebenbeteiligte ein einfach-gesetzliches Schweigerecht (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 444 Abs. 2 S. 2, 426 Abs. 2, 163a Abs. 3 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO) zu, das durch die vertretungsberechtigten Organe ausgeübt wird.[197] Die vertretungsberechtigten Organe der Gesellschaft werden als Betroffene angehört.[198] Daher dürfen sie nicht wie aussageunwillige Zeugen mit Zwangsmitteln zur Aussage gezwungen werden. Juristische Personen sollen sich nach BVerfG im Übrigen nicht zusätzlich auf das verfassungsrechtlich verankerte Schweigerecht berufen können.[199]

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Das Schweigerecht umfasst insbesondere die Freiheit, keine Angaben zu den wirtschaftlichen Verhältnissen machen zu müssen.[200]

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Praxishinweis

Die BaFin ist wegen den hohen Geldbußen, die sie typischerweise verhängt, verpflichtet, die Höhe der Geldbuße auf konkrete Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen zu stützen. Denn von der Leistungsfähigkeit des Bußgeldadressaten ist abhängig, wie empfindlich und damit nachhaltig ihn die Geldbuße trifft.[201] Lassen sich die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht aufklären, ist die BaFin zur Schätzung berechtigt;[202] speziell zur Schätzung des Gesamtumsatzes siehe § 120 Abs. 23 S. 4 WpHG.[203] Will die Nebenbeteiligte eine möglicherweise zu ihren Ungunsten erfolgende Schätzung vermeiden, kann es in ihrem Interesse liegen, sich zu den wirtschaftlichen Verhältnissen zu äußern. Dabei besteht die Gefahr, dass sich das Unternehmen selbst belastet, indem die Gesellschaft unbeabsichtigt ad-hoc pflichtige Vorgänge schildert. So liegt es, wenn sich das vertretungsberechtigte Organ einlässt, das Unternehmen habe infolge der SARS-CoV-2-Pandemie erhebliche Umsatzeinbußen erlitten, ohne dies zuvor ad-hoc gemeldet zu haben (vgl. § 120 Abs. 15 Nr. 6 WpHG).

III. Recht auf anwaltlichen Rechtsbeistand

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Die Nebenbeteiligte kann sich in jeder Lage des Verfahrens, mithin auch schon im Ermittlungsverfahren (vgl. § 428 Abs. 3 StPO), eines Rechtsanwalts mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht bedienen, § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 444 Abs. 2 S. 2, 428 Abs. 1 S. 1 StPO.[204] Unter den Voraussetzungen des § 428 Abs. 2 StPO wird der betroffenen Gesellschaft ein anwaltlicher Beistand beizuordnen sein.[205]

IV. Akteneinsichtsrecht

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Die Nebenbeteiligte hat im Bußgeldverfahren gem. §§ 88 Abs. 3, 87 Abs. 2 S. 1 OWiG ab Erlass des Bußgeldbescheids sämtliche Rechte eines Betroffenen und damit auch Anspruch auf Akteneinsicht. Wegen der nur lückenhaft geregelten Rechtstellung der Nebenbeteiligten ist ein solches im Ermittlungsverfahren nicht ohne Weiteres selbstverständlich (dazu unter Rn. 138 f.).

137

Ist die Nebenbeteiligte durch einen Rechtsanwalt vertreten, kann dieser aus eigenem Recht in jeder Lage des Verfahrens, also auch im Ermittlungsverfahren Akteneinsicht nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 444 Abs. 2 S. 2, 428 Abs. 1 S. 2, 147 StPO nehmen. Das „Wie“ der Akteneinsicht bestimmt sich nach den Regeln der Akteneinsicht für den Betroffenen bzw. dessen Verteidiger.[206]

138

Ist die Nebenbeteiligte nicht anwaltlich vertreten, ist ein eigenständiges Akteneinsichtsrecht im Ermittlungsverfahren fraglich. So ließe sich vertreten, dass sich die Verfahrensrechte der Nebenbeteiligten im Ermittlungsverfahren auf die in § 426 Abs. 2 StPO in Bezug genommenen Rechte beschränken. Wegen der ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers in §§ 88 Abs. 3, 87 Abs. 2 S. 1 OWiG kann argumentiert werden, dass ihr ein eigenes Akteneinsichtsrecht erst ab Erlass des Bußgeldbescheids zusteht.[207] Auch wird das Akteneinsichtsrecht nicht aus § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 444 StPO herzuleiten sein. Denn die gem. § 444 Abs. 2 S. 2 StPO in Bezug genommenen Vorschriften des Einziehungsverfahrens sehen vor Eröffnung des Hauptverfahrens ebenfalls kein ausdrücklich geregeltes Akteneinsichtsrecht des Einziehungsbeteiligten vor (vgl. § 427 Abs. 1 S. 1 StPO).[208]

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Richtigerweise steht der Nebenbeteiligten entsprechend § 49 Abs. 1 OWiG das Recht zu, die Akten einsehen zu dürfen. Denn nur mit Aktenkenntnis wird die Nebenbeteiligte in die Lage versetzt, die ihr unstreitig über § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 444 Abs. 2, 426 Abs. 2 StPO schon im Ermittlungsverfahren zustehenden Rechte – wie das Beweisantragsrecht (vgl. § 136 Abs. 1 S. 5 StPO) – sinnvoll auszuüben.[209] Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die weitgehende Gleichstellung der Verfahrensstellung der Gesellschaft im Einziehungsverfahren und bei der Festsetzung der Verbandsgeldbuße mit der von der Rechtsprechung mittlerweile anerkannten beschuldigtenähnlichen Stellung des Unternehmens im Verfahren nach § 88 OWiG nicht mehr vereinbar ist (siehe Rn. 130). Die Regelung des §§ 88 Abs. 3, 87 Abs. 2 S. 1 OWiG steht der Zubilligung sämtlicher Betroffenenrechte im Ermittlungsverfahren wie dem Akteneinsichtsrecht daher nicht entgegen.

E. Abschluss der Ermittlungen

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Sobald der bußgeldrelevante Sachverhalt ausermittelt ist, ist gem. § 61 OWiG der Abschluss der Ermittlungen in den Akten zu vermerken. Die Bedeutung der Vorschrift liegt darin, dass ab diesem Zeitpunkt das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers und das Recht zur Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisgegenstände nicht mehr zum Schutz der Ermittlungen beschränkbar ist (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 147 Abs. 2 StPO; vgl. auch Nr. 109 Abs. 1 RiStBV).

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Um die Verfahrens- und Qualitätsstandards im Bußgeldverfahren sicherzustellen, wurde im Bußgeldreferat der BaFin ein internes Kontrollsystem (IKS) installiert. Sämtliche Entscheidungen eines Fallbearbeiters werden durch dessen IKS-Partner überprüft. Neben dem internen Kontrollsystem werden zudem in einem Kollegialorgan die Bußgeldentscheidungen besprochen, bevor sie bekanntgegeben werden.[210]

F. Einstellung des Verfahrens

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Ist nach Durchführung der Ermittlungen die Begehung der Ordnungswidrigkeit nicht erwiesen, hat die BaFin das Verfahren gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen. Ein Ermessensspielraum verbleibt nicht, insbesondere hat die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO Vorrang vor einer Einstellung aus Billigkeitserwägungen[211] gem. § 47 OWiG.[212]

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Gründe für die Einstellung gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO können insbesondere der fehlende Tatnachweis oder das Vorliegen von (dauerhaften) Verfolgungshindernisse sein. Unter den Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 171 StPO ist der Betroffene von der Einstellung durch Einstellungsnachricht zu unterrichten. Eine Kostenentscheidung ergeht nicht.

I. Fehlender Tatnachweis und sonstige Gründe

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Der fehlende Tatnachweis kann sich auf alle Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes beziehen. Können verbleibende Zweifel nicht ausgeräumt werden, ist das Verfahren in mittelbarer Anwendung des Zweifelsgrundsatz („in dubio pro reo“) einzustellen.

145

Hat sich der Betroffene im Zeitpunkt der Tat in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gem. § 11 Abs. 2 OWiG befunden, ist das Verfahren ebenfalls nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen.

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Auch tatsächliche oder rechtliche Änderungen nach der Tat können zur Verfahrenseinstellung zwingen. Dies kommt beim Tod des Betroffenen im laufenden Verfahren bzw. dann in Betracht, wenn die Gesellschaft als Nebenbeteiligte nicht mehr existiert (relevant ist die Vollbeendigung der Gesellschaft durch Löschung und nicht bereits deren Auflösung)[213] und die Ahndung eines Rechtsnachfolgers ausscheidet.

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Als Folge der regen Änderungsfrequenz kapitalmarkrechtlicher Regelungen kommt auch eine Einstellung wegen nachträglicher milderer Gesetzeslage in Betracht. So wurde beispielsweise die Pflicht zur Erstellung einer Zwischenmitteilung der Geschäftsführung (§ 37x WpHG a.F.) durch das TRL-ÄndRL-UmsG abgeschafft. Noch anhängige Verfahren wären aufgrund des Meistbegünstigungsprinzips (§ 4 Abs. 3 OWiG)[214] einzustellen gewesen.

II. Verbot mehrfacher Ahndung

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Das Bußgeldverfahren ist ferner gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO wegen eines Verfolgungshindernisses einzustellen, wenn das Verbot mehrfacher Ahndung einschlägig ist. Das Prozessgrundrecht gem. Art. 103 Abs. 3 GG des Strafklageverbrauchs (ne bis in item) findet im Ordnungswidrigkeitenrecht zwar keine unmittelbare Anwendung.[215] Allerdings folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG[216] sowie einfach-gesetzlich aus § 84 OWiG, dass die doppelte Verfolgung derselben Ordnungswidrigkeit unzulässig ist. Gemäß § 84 Abs. 1 OWiG kann dieselbe Tat nicht mehr als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden, wenn der Bußgeldbescheid rechtskräftig geworden ist oder das Gericht über die Tat als Ordnungswidrigkeit oder als Straftat rechtskräftig entschieden hat.

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Vertiefung

Das Verbot mehrfacher Ahndung wird nur durch Sachentscheidungen erzeugt, die aufgrund der allgemeinen Strafgesetze (Art. 103 Abs. 3 GG) oder aufgrund eines Bußgeldbescheids (§ 84 Abs. 1 OWiG) ergehen. Keine Sachentscheidung in diesem Sinne sind beispielsweise Sanktionen des Sanktionsausschusses der Börsen gem. § 22 Abs. 2 BörsG. Die Frage stellt sich, wenn man davon ausgeht, dass Verstöße gegen die Zulassungsfolgepflichten etwa zur periodischen Finanzberichterstattung gem. §§ 114 ff. WpHG nicht nur von der BaFin mit Geldbuße, sondern auch vom Sanktionsausschuss der Börse gem. § 22 Abs. 2 BörsG mit Ordnungsgeld belegt werden können.[217] Das rechtskräftig verhängte Ordnungsgeld durch den Sanktionsausschuss der Börsen würde der Verfolgung als Ordnungswidrigkeit durch die BaFin schon deshalb nicht gem. § 84 Abs. 1 OWiG entgegenstehen, weil die Sanktion nicht aufgrund eines Bußgeldbescheids erlassen worden ist. Auf die Frage, ob dieselbe (prozessuale) Tat betroffen ist, kommt es sodann nicht mehr an.

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Unter Tat ist die prozessuale Tat (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO) zu verstehen.[218] Anders als Taten im materiellen Sinn, womit „Handlungen“ i.S.d. §§ 19, 20 OWiG (bzw. §§ 52, 53 StGB) gemeint sind, ist die Tat im prozessualen Sinn ein geschichtliches Vorkommnis, das das gesamte Verhalten des Täters umfasst, soweit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang bildet.[219] Die prozessuale Tat wird durch die im Bußgeldbescheid enthaltenen Tatvorwürfe umgrenzt. Bei einer Bebußung gem. § 130 OWiG umfasst die prozessuale Tat sowohl die (als einheitlich zu bewertende[220]) Aufsichtspflichtverletzung sowie die ihr zugrundeliegenden Zuwiderhandlungen.[221]

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Beispiel

Gegen die N (UK) Ltd. wird eine Verbandsgeldbuße wegen einer Aufsichtspflichtverletzung verhängt. Vorgeworfen wird ihr, die Stimmrechte im Zeitraum Januar 2019 bis Oktober 2019 in 60 von 1000 Fällen aufgrund eines Softwarefehlers, der auf eine Aufsichtspflichtverletzung des Leitungsorgans zurückzuführen ist, unzutreffend berechnet und in der Folge fehlerhaft mitgeteilt zu haben. Der Bußgeldbescheid wird rechtskräftig.

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Sollte sich im Beispielsfall nachträglich herausstellen, dass noch weitere Stimmrechte im Tatzeitraum fehlerhaft von der Gesellschaft gemeldet wurden, steht der Verfolgung als Ordnungswidrigkeit die Regelung des § 84 Abs. 1 Var. 1 OWiG entgegen. Von der Rechtskraft des Bußgeldbescheids werden alle – auch die im Tatzeitraum bislang nicht ermittelten – Zuwiderhandlungen erfasst, die der bereits sanktionierten (einheitlichen) Aufsichtspflichtverletzung zugrunde liegen.

153

Der Erlass des Bußgeldbescheids bewirkt bei Dauerordnungswidrigkeiten im Übrigen eine Zäsur. Nach Rechtskraft des Bußgeldbescheids beginnt eine neue prozessuale Tat.[222]

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Beispiel

Die N (UK) Ltd. veröffentlicht entgegen § 114 Abs. 1 S. 1 WpHG ihren Jahresfinanzbericht für das Geschäftsjahr 2019 nicht. Die BaFin erlässt daraufhin im Dezember 2020 einen Bußgeldbescheid, der rechtskräftig wird.

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Veröffentlicht die Gesellschaft im Beispielsfall den Jahresfinanzbericht für das Geschäftsjahr 2019 auch weiterhin nicht, kann sich die dem Bußgelderlass anschließende und insoweit insgesamt noch fortdauernde Tat wegen der Zäsurwirkung des rechtskräftigen Bußgeldbescheids erneut verfolgt und mittels eines weiteren Bußgeldbescheids sanktioniert werden.[223]

156

Bestehen Sachverhaltsunsicherheiten, ob die tatsächlichen Voraussetzungen des Strafklageverbrauchs gegeben sind, ist das Verfahren gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen. Der als Entscheidungsregel für Tat- und Schuldfragen im Strafrecht entwickelte Zweifelgrundsatz findet auch auf das Verfolgungshindernis des § 84 Abs. 1 OWiG Anwendung.[224]

157

Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Betroffenen ist im Übrigen gem. § 85 Abs. 3 S. 1 OWiG ausgeschlossen, wenn mit ihr das Ziel verfolgt wird, weitere Verstöße als Ordnungswidrigkeit zu verfolgen.

III. Verfolgungsverjährung

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Gemäß § 31 Abs. 1 S. 2 OWiG ist die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und die Anordnung von Nebenfolgen ausgeschlossen, wenn Verfolgungsverjährung eingetreten ist. Die Verjährung ist ein dauerhaftes Verfolgungshindernis.[225] Das Verfahren ist in diesem Fall gem. § 46 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen.

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Die Verjährung ist in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu beachten. Deshalb ist es sinnvoll, wenn die zuständigen Fallbearbeiter im Bußgeldreferat die im Einzelfall maßgebliche Verjährungsfrist schon zu Beginn des Ermittlungsverfahrens prüfen und berechnen. Die Verfolgungsverjährung läuft für jeden Betroffenen und jede prozessuale Tat selbstständig. Unstreitig findet das Freibeweisverfahren Anwendung.